2 M.Wagenschein: Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft, S.81

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Transkript:

Wagenschein in der Schule von heute 23.Januar 2015, Ecole d Humanité, Prof. Dr. Dr. Ueli Aeschlimann Liebe Anwesende, ich danke dem Wagenschein-Archiv für die Einladung und freue mich, Ihnen hier einen Vortrag halten zu dürfen. Wagenschein publizierte seine didaktischen Ideen vor rund einem halben Jahrhundert. Die Welt und auch die Schule hat sich seither stark verändert. Ist Wagenschein noch aktuell? Ich möchte mit meinem Referat begründen, warum ich davon überzeugt bin. Es ist kein wissenschaftlicher Vortrag über Wagenschein und seine Didaktik, sondern ich möchte Ihnen erzählen, wie mich Wagenschein, den ich nie persönlich kennengelernt habe, in meinem Physik- Unterricht mit Schülern und Schülerinnen früher, seit 14 Jahren mit Studenten und Studentinnen beeinflusst hat. Was ich Ihnen erzähle beruht also auf langjähriger Erfahrung, aber es ist subjektiv und entspricht nicht dem Mainstream der heutigen Didaktik. Ich überlasse es Ihnen, das was ich als Physikdidaktiker sage, auf Ihre individuellen Unterrichtsfächer zu übertragen. Es geht zentral um Gründlichkeit. Vielleicht denken Sie, dass das selbstverständlich sei, welcher Lehrer, welche Lehrerin möchte schon oberflächlich unterrichten. Aber es sieht anders aus, wenn ich der Gründlichkeit die Vollständigkeit gegenüberstelle. Wenn man sich mit einer Sache gründlich auseinandersetzen will, braucht es Zeit, man muss etwas anderes weglassen. Wer Gründlichkeit zum Ziel hat, muss auf Vollständigkeit verzichten 1. Lernen braucht Zeit, es ist wichtig, auf Schwierigkeiten sorgfältig einzugehen, ja sogar, Schwierigkeiten zu provozieren, um das Nachdenken in Gang zu bringen. In Wagenscheins Worten: Der Lehrer wird nicht drängen und eilen müssen. Er wird im Gegenteil verzögern. 2 Warum ist mir diese Gründlichkeit wichtig? Es geht um das Verstehen, ein zentraler Begriff bei Wagenschein. Er definiert Verstehen folgendermassen: Verstehen heisst: selber einsehen wie es kommt. 3 Damit die Lernenden selber einsehen können braucht es zweierlei: es braucht erstens Zeit, um den Weg selber oder mit behutsamer Hilfe zu finden ( genetisch ), und es braucht zweitens das Gespräch in der Gruppe. ( sokratisch ). 1) Der Lehrer, die Lehrerin muss sich zurücknehmen können, eine schnelle Erklärung verdirbt alles. Peter Buck sagt: Erklären kann Verstehen verhindern 4, und er meint damit: Wenn der Lehrer zu früh erklärt, nimmt er den Lernenden die Möglichkeit, selber zu entdecken, sie können nur noch die Erklärung des Lehrers, der Lehrerin nachplappern. Das Ergebnis selber finden heisst in der Physik: den Weg vom Phänomen, von der Frage bis zur Lösung, zur Erkenntnis, Schritt für Schritt selber gehen. In Wagenscheins Worten: Ein naturwissenschaftliches Ergebnis kann gar nicht verstanden werden ohne Kenntnis des Weges, der zu ihm führte. 5 Es zeigt sich, dass Lernende dabei immer wieder über dieselben Fragen und Probleme stolpern wie die ursprünglichen Forscher 6. Es lohnt sich deshalb, in der 1 U.Aeschlimann: Mut zur Gründlichkeit, S.4 2 M.Wagenschein: Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft, S.81 3 M.Wagenschen, Verstehen lehren, S.120 4 persönliche Widmung (2014) 5 M.Wagenschein: Die Pädagogische Dimension der Physik (Westermann, 1962), S.99 6 A.Heitzmann: das Erkennen der historischen Schritte fördert das Verständnis aktueller Konzepte und den Konzeptwechsel von Alltagsvorstellungen zu wissenschaftlichem Denken. In: P.Labudde: Fachdidaktik Naturwissenschaft, S.218

Wissenschaftsgeschichte nachzuforschen, wie die Erkenntnis, die wir im Unterricht behandeln, entstanden ist, wer an ihrer Entdeckung beteiligt ist, und welche Schwierigkeiten zu überwinden waren. 2) Es braucht das Gespräch in der Gruppe. Es braucht die ersten tastenden Ideen, die allmählich konkreter werden, bis schliesslich die Erkenntnis gewonnen wird. Martin Wagenschein: In den Schulen muss das Gespräch Raum und Zeit finden, damit Physik entstehen kann. Sonst gibt es kein Verstehen. 7 Der Lehrer, die Lehrerin hat die Aufgabe, diesen Prozess zu begleiten, mit Fragen oder Hinweisen in die richtige Richtung zu lenken, ohne zu sehr das Ergebnis vorwegzunehmen. Sokratische Gespräche heisst das bei Wagenschein. Es ist das was wir heute in der Gruppe versucht haben. Immer wieder schwierig, immer mit dem Risiko, dass es nicht gelingt. 3) Warum ist mir das alles so wichtig? Wir leben in der Zeit, in das Internet zehn Antworten liefert, bevor die Frage überhaupt verstanden wurde. Wissen ist jederzeit greifbar, und deshalb ist es für die Schule wichtig, an ausgewählten Stellen zu zeigen, wie Wissen entsteht, was verstehen heisst. Wer das an exemplarisch ausgewählten Stellen erlebt hat, hat einen andern Blick auf Wissen. Horst Rumpf schreibt: Die umstandslose Mitteilung einer Formel, einer Erkenntnis, einer Information kann bewirken, dass die mitgeteilte Sache ein Fremdkörper bleibt, äusserlich assimiliert, aber zutiefst gleichgültig. Man hat sich ihr nicht nähern dürfen, man musste gleich dort sein 8 Wo, wenn nicht in der Schule, kann man diese Annäherung an eine Sache lernen? Ich habe von exemplarisch ausgewählten Themen gesprochen. Wagenschein schreibt: Nicht alle Stunden können oder sollen so sein. Gerade dann (und nur dann), wenn sie ab und zu gelingen, ist es möglich und nötig, dazwischen streckenweise auch einmal schnell und berichtend vorzugehen. Nicht nur, um mit dem Stoff zu Rande zu kommen, sondern, weil ja der Schüler zweierlei lernen soll und auch will: nicht nur aktiv suchen und finden, sondern auch ebenso aktiv zuhören, fremden Gedankengängen folgen. 9 Ich erlebe in den Planungen meiner Studierenden immer wieder, dass zu viel in eine Unterrichtsstunde gepackt wird. Die Angst, dass das Ergebnis rasch da ist und man dann mit leeren Händen dasteht, ist verständlich. Um diese Leere zu verhindern braucht es aber nicht mehr Stoff, sondern es braucht Ideen zu Vertiefung, zur Betrachtung des Erarbeiteten aus einer andern Perspektive, zur Anwendung des Gelernten in einer neuen Situation. Wagenschein schreibt: Genetisch-sokratische Entdeckungszüge sind nicht umsonst, sie fordern Zeit. Aber sie sind nicht zeit-raubend, sondern zeitlohnend. 10 Der Lehrer, die Lehrerin muss aber begründen können, warum das gewählte Beispiel wichtig ist und es sich lohnt, Zeit dafür zu investieren. Wagenschein: Das Einzelne, in das man sich versenkt, ist Spiegel des Ganzen 11 Und Rumpf: Es lähmt die eigene 7 M.Wagenschein: Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft (Jonas, 1986) 8 H.Rumpf: Diesseits der Belehrungswut, S.33 9 M.Wagenschein: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken, Band 1, S.341 10 M.Wagenschein: Verstehen lehren, S.148 11 M.Wagenschein: Verstehen lehren, S.32

Erfahrungskraft, wenn Wissen definitiv vorgegeben ist und nur noch zum Lernen präsentiert wird; Menschen berufen sich, wenn es um Wissen geht, nicht auf ihre Wahrnehmung und die darauf aufbauende Reflexionen. Sie klammern sich an das, was Experten herausgefunden und in Büchern niedergelegt haben. 12 Wenn wir uns in ein physikalisches Phänomen vertiefen, wollen wir dieses am Schluss verstanden haben. Gleichzeitig soll dabei aber auch gelernt werden, wie Physik die Natur betrachtet. Es war ein wichtiges Anliegen von Wagenschein, dass Physik die Welt aus einer bestimmten Perspektive betrachtet. Sie beschränkt sich auf das Objektive, Wiederholbare und Messbare. Das von Galilei stammende systematische Experimentieren und Messen war sehr erfolgreich und hat zu Erkenntnissen geführt hat, welche unser Weltbild und unsere technischen Möglichkeiten enorm geprägt haben. Wagenschein hat 1953 Funktionsziele für den Physikunterricht formuliert 13 und später in konkreten Beispielen gezeigt, wie diese allgemeinen Einsichten in das Wesen der Physik an konkreten Themen im Unterricht umgesetzt werden. Ich skizziere Ihnen ein Beispiel aus meinem Unterricht mit Studierenden. Es geht um das Pendel. Galilei hat sich damit befasst, und die Legende besagt, dass seine Fragen beim Betrachten eines hin- und her schwingenden Weihrauchgefässes entstanden sind. Im Unterricht beginne ich nach einem Vorschlag von Wagenschein 14 damit, dass wir uns einen hin- und her schwingenden schweren Stein, der mit einem langen Seil an der Decke befestigt ist, betrachten. Ohne Kommentar, ich warte, bis Fragen entstehen. Warum schwingt er so ruhig, so langsam? Wegen seinem grossen Gewicht? Oder der langen Schnur? Es ist charakteristisch für die Physik, dass man diese Fragen untersucht, indem man jeweils nur einen Parameter ändert. Ich nehme also eine schwere Metallkugel und eine leichte Holzkugel und stelle fest: Sie schwingen im gleiche Takt, die Masse spielt keine Rolle, was doch sehr erstaunlich ist! Dann nehme ich zwei gleiche Metallkugeln, die ich unterschiedlich auslenke, auch diese schwingen im gleichen Takt. Mit der Holzkugel und einem Holzquader zeige ich, dass auch die Form keine Rolle spielt. Wenn die Länge immer dieselbe ist kann man - typisch schweizerisch - auch eine Kuh anhängen, die im gleiche Takt schwingt. Entscheidend ist offenbar nur die Länge: Je länger die Schnur ist, desto länger wird auch die Schwingungszeit. Proportional? Jetzt müssen wir messen. Das ist heute selbstverständlich, aber zur Zeit von Galilei galt Aristoteles als Mass aller Dinge. Neue Erkenntnisse gewann man, indem man seine Schriften interpretierte. Diese Schriften hatten den Stellenwert einer Bibel für die Naturwissenschaft, und neue Erkenntnisse gewann man durch logisches Nachdenken. Wir führen nun Messungen durch und schreiben die Ergebnisse in eine Tabelle. Man sieht: die Schwingungszeit ist nicht proportional zur Länge. Wie sieht der mathematische Zusammenhang aus? Hier hilft uns ein Diagramm weiter. Die Idee der Diagramme geht auf Descartes zurück, Galilei kannte diese elegante Methode noch nicht! Im Diagramm kann man Messungenauigkeiten erkennen und man kann mit etwas Erfahrung in Mathematik den Zusammenhang erkennen: Die Schwingungszeit ist proportional zur Wurzel aus der Länge. Galilei kannte noch keine Algebra, er entwickelte keine Formeln, sondern arbeitete mit Proportionalitäten. Zum Pendel formulierte er: Bei Pendel verschiedener Länge verhalten sich die Zeiten wie die Quadratwurzeln aus den Längen. Soll also ein 12 H.Rumpf / E.M.Kranich: Welche Art von Wissen braucht der Lehrer; S.31 13 M.Wagenschein: Naturphänomene sehen und Verstehen, S.184-194 14 M.Wagenschein: Rettet die Phänomene!, in: Erinnerungen für morgen, S.149

Pendel doppelt so langsam schwingen, als ein anderes, so muss es die vierfache Länge haben. 15. Was ich Ihnen hier in fünf Minuten beschrieben habe, dauert im Unterricht mindestens 2 Stunden. Wir lernen, dass Messungen immer eine gewisse Unsicherheit haben, die wir verringern können durch Wiederholen, oder dadurch, dass mehrere Studierende messen und wir einen Mittelwert bilden, wir lernen, wie ein Diagramm gezeichnet wird, usw. Kurz: an diesem Beispiel zeige ich den Studierenden, was das Wesen der Physik 16 ist, wie man vorgeht, um zu einer Erkenntnis zu kommen. Wir haben das Ergebnis erarbeitet, man musste, in Rumpfs Worten nicht gleich dort sein, d.h. Formel lernen, Beispiel dazu lösen und weiter. Das Pendel zeigt auch, wie man Wissenschaftsgeschichte fruchtbar nutzen kann, die Legende vom Dom, Galileis Vorgehensweise und seine Formulierungen zeigen, wie Physik entstanden ist und diese historischen Bezüge beleben den Unterricht. Sich auf eine Sache einlassen im Hinblick auf Unterricht heisst, sie fachlich und fachdidaktisch zu durchdringen 17 Es braucht viel Arbeit, sich in exemplarische Themen zu vertiefen: Faradays Kerze, Pascals Barometer, die Krone von Archimedes sind Unterrichtsbeispiele, an denen ich seit vielen Jahren immer wieder arbeite. Aber der Aufwand ist nicht umsonst: Solche Beispiele strahlen aus. Die an solchen Beispielen gewonnenen didaktischen Einsichten beeinflussen meinen ganzen Unterricht. Für mich zentral: Ich habe gelernt, Geduld zu haben. Horst Rumpf hat mir in ein Buch geschrieben: Unterricht, das ist das gemeinsame ruhige Betrachten einer Sache. Ich habe dieses ruhige, intensive Arbeiten bei Armin Lüthi im Unterricht erleben dürfen. Keine speziellen didaktischen Arrangements, sondern das Interesse an der Sache, das Zutrauen: das könnt ihr selber schaffen, verbunden mit der Ausstrahlung durch seine Persönlichkeit haben mich tief beeindruckt. Es gibt unzählige Bücher mit schlauen methodischen Tricks, aber John Hattie hat in einer aktuellen grossen Studie belegt, dass die Glaubwürdigkeit des Lehrers der Lehrerin ein entscheidender Faktor für erfolgreichen Unterricht ist. Wir Lehrende müssen uns bewusst sein, wie sehr wir durch unser Verhalten, durch unsere Glaubwürdigkeit das Lernen fördern, viel stärker als durch ausgeklügelte Lernarrangements. Hinter aller methodischen Kunst muss die Faszination des Lehrers, der Lehrerin an der Sache sichtbar sein. Schule ist immer die Balance zwischen Stoff und Lernenden, beides braucht Kraft und Zuwendung. Im Vortrag habe ich mich auf die Vermittlung von Inhalten konzentriert, weil ich weiss, dass an der Ecole zu Zuwendung zu den Lernenden viel Gewicht hat, dazu brauche ich Ihnen nichts zu sagen. Mir ging es heute um die intensive Arbeit an ausgewählten Themen. Wagenschein hat geschrieben: Verstehen ist Menschenrecht. Was können wir tun, um diese Forderung zu erfüllen? Horst Rumpf hat es in einem sehr schönen Satz zusammengefasst: Im Unterricht muss man eine Sache vor sich bringen, nicht hinter sich. Mein Vortrag liegt bei Frau Eisenhauer schriftlich vor, und natürlich auch die Bücher von Martin Wagenschein. Ich würde mich freuen, wenn Ihnen der eine oder andere Gedanke einleuchtet und Sie noch weiter darüber nachdenken möchten. Ich danke für Aufmerksamkeit. Literatur: Aeschlimann, Ueli: Mut zur Gründlichkeit. In: die neue Schulpraxis, 9/2012, S.4-8 15 G.Galilei: Unterredungen und mathematische Demonstrationen, S.84 16 Lehrplan 21: Wesen und Bedeutung von Naturwissenschaften und Technik verstehen 17 U.Aeschlimann: Mut zur Gründlichkeit, S.8

Galilei, Galileo: Unterredungen und mathematische Demonstrationen. Harry Deutsch (1998) Labudde, Peter: Fachdidaktik Naturwissenschaft. Haupt (2010) Rumpf, Horst: Diesseits der Belehrungswut. Juventa (2004) Rumpf, Horst / Kranich, Ernst-Michael: Welche Art von Wissen braucht der Lehrer? Klett-Cotta (2000) Wagenschein, Martin: Die Pädagogische Dimension der Physik. Westermann, (1962), Wagenschein, Martin: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken, Band 1 Klett (1965) Wagenschein, Martin: Naturphänomene sehen und Verstehen. Klett (1980) Wagenschein, Martin: Erinnerungen für morgen. Beltz (1983) Wagenschein, Martin: Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft. Jonas-Verlag (1986) Wagenschein, Martin Verstehen lehren Beltz (8.ergänzte Auflage 1989)