Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie: Internationale Perspektiven. Wulf Rössler Zürich Lüneburg Sao Paulo

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Transkript:

Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie: Internationale Perspektiven Wulf Rössler Zürich Lüneburg Sao Paulo

Internationale Perspektiven? Forschung zum Thema findet überwiegend in Industrieländern statt Dritte-Welt Länder verfügen zumeist nicht über die Infrastruktur, die solche Fragestellungen überhaupt aufkommen lassen Häufig versteckter Zwang

Grosse Varianz der Unterbringungsraten in Europa

Dressing & Salize 20024 Gesetzliche Regelungen

Procedere der Zwangseinweisung Dressing & Salize 20024

Zwang ist primär ein ordnungsstaatliches Prinzip

Unterbringungsquoten (Anteil von Zwangseinweisungen an allen stationär psychiatrischen Episoden) in den EU-Mitgliedstaaten. Dressing & Salize 2004

Zahl der Zwangsunterbringungen psychisch Kranker pro 100 000 Einwohner in den EU-Mitgliedstaaten Dressing & Salize 2004

Schlussfolgerung Gesetzliche Regelungen, praktische Verfahrensabläufe sowie die Häufigkeit von Zwangsunterbringungen sind in den EU- Mitgliedsländern sehr heterogen. Die gesetzlichen Unterbringungskriterien oder die Einbeziehung juristischer Instanzen in den Entscheidungsprozess zeigen keinen signifikanten Einfluss auf Unterbringungsquoten und -raten. Länder mit obligater Einbeziehung eines Rechtsbeistandes in das Unterbringungsverfahren haben signifikant niedrigere Unterbringungsquoten. Dressing & Salize 2004

Aber auch regional... Gleiche gesetzliche Rahmenbedingungen Psychiatrische Klinik wichtigster Einflussfaktor auf Zwangseinweisungsrate

Andere Einflussfaktoren auf Zwangsmassnahmen

Gibt es eine Änderung der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen oder nur veränderte Behandlungspraxis? Zeitreihen von Zwangsunterbringungen in kleinen EU-Mitgliedstaaten. Zeitreihen von Zwangsunterbringungen in bevölkerungsreichen EU-Mitgliedstaaten. Dressing & Salize 2004

Ambulante Zwangsbehandlung Kontrovers seit Anfang 2000er diskutiert Eingeführt in Australien, einigen US Staaten und seit 2007 Wales und England ebenfalls: in: Norwegen, Israel, Schottland, Portugal, Niederlande, Belgien, (Schweiz) Betroffen meistens Männer mit Sx, keine Medikamente, vernachlässigt, isoliert RCT OCTET: keine Reduktion von Wiederaufnahmen Evidenz insgesamt schwach (Rugkasa et al 2014)

Zwang kein Ersatz für fehlende Behandlung Krisenkarte für zwangseingewiesene Patienten RCT: verhindert keine Wiederaufnahmen, aber vermutlich Reduktion Zwangseinweisungen

Nicht Art und Umfang der Zwangsmassnahmen entscheidend, sondern der emotionale Stress, Scham, Selbstverachtung und Selbst-Stigma

Informeller Zwang

Erfahrung mit (informellen) Zwangsmassnahmen wird als unfair wahrgenommen und belastet therapeu:sche Beziehung Transparenz und Krankheitseinsicht verbessert Einsicht in Massnahmen

Patienten und Behandler teilen nicht zwangsläufig ihre Einschätzung der therapeutischen Beziehung Behandler schätzen Zustand von Patienten deutlich schlechter ein Behandler achten v.a. auf Psychopathologie, Patienten auf Funktionsfähigkeit

Befürwortung von Einschränkungen für Menschen mit psychischen Störungen Allgemeinbevölkerung (%) Prof. Helfer (%) p Zwangseinweisung 69.6 98.1.000 Abtreibung 30.6 9.1.000 Stimmrecht 19.0 3.3.000 Entzug Führerschein 65.4 33.3.000 Alkoholverbot - 36.2

Stereotypische Einstellungen professioneller Helfer (N=999) Skala (1-5) mit 10 negativen Stereotypen wie z.b. gefährlich, unberechenbar, delinquent, bedrohlich etc. Ergo-/Physiotherapie (N=188) 3.37 Allgemeinbevölkerung (N=1737) 3.38 Pflegepersonen (N=631) 3.40 Psychiater (N=187) 3.50 Psychiater weisen mehr stereotypische Einstellungen auf (p<0.001)

Soziale Distanz - Schizophrenie Allgemeinbevölkerung 3.09 Psychiater 2.65 Pflegepersonen 2.93 Erg-/Physiotherapie 3.09 Psychiater weisen eine sign. höhere soziale Distanz auf (p<0.001) Lauber et al 2004 Nordt, Lauber, Rössler 2006

5 Empfehlungen für vertrauensbildende Massnahmen Vertrauensbildende Massnahmen hohe Priorität Vertrauen kann erreicht werden durch klinisch wirksame Massnahmen, Kontinuität, erfahrene professionelle Helfer, Reduktion von Selbst-Stigma, stigmatisierenden Erfahrungen, Vermeidung von Zwang und Gewalt

5 Empfehlungen für vertrauensbildende Massnahmen (Forts.) Training prof. Helfer in Offenheit, Ehrlichkeit, Empathie, erleichterten Zugang, Flexibilität Informa:on der Öffentlichkeit darüber, was wir tun Bessere Versorgungsqualität auch mit Fokus auf Minoritäten, Sicherheit vermiqeln, Würde respek:eren

Psychiatrische Patientenverfügung Schriftliche Verfügung über zukünftige Behandlung Studien geben gemischtes Bild der PPV auf Inanspruchnahme und Zwang Jedoch Potential für Empowerment Prozess, Zuwachs an Bewältigungsstrategien und Reduktion von Zwang

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit wulf.roessler@uzh.ch