University of Vechta Universität Vechta Prof. Dr. J. A. Bär Fakultät III Germanistische Sprachwissenschaft Vorlesung Einführung in die germanistische Sprachwissenschaft Sitzung 3: Grundlagen der Semiotik (Zeichenlehre)
Zeichen etymologisch verwandt mit zeigen, zeihen ( beschuldigen, eigentl.: auf jemanden als Schuldigen z e i g e n ), engl. token ( Zeichen ), lat. dicere sagen, sprechen, dicare ( feierlich verkünden ), grch. δεικνύναι, zeigen, δείξις ( Zeigehandlung ) das, was etwas (oder auf etwas) zeigt etw. Sichtbares, Hörbares (bes. eine Geste, Gebärde, ein Laut o. Ä.), das als Hinweis dient, etw. deutlich macht, mit dem jmd. auf etw. aufmerksam gemacht, zu etw. veranlasst o. Ä. wird (Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden, Mannheim u. a. 1999, 4595)
Zeichen Etwas ist ein Zeichen, wenn es für etwas anderes steht (aliquid stat pro aliquo etwas steht für etwas ). W o f ü r stehen s p r a c h l i c h e Zeichen? (Welche Qualität hat das, wofür sie stehen?) Gegenstand der Semantik (= nächste Sitzung)
Lehre von den Zeichen: Semiotik (zu grch. σημα Zeichen ) Drei Arten von Zeichen indexikalische Zeichen: Indikatoren, Symptome, Anzeichen (empirischer oder logischer Zusammenhang mit dem Bezeichneten) ikonische Zeichen (Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten) symbolische Zeichen (konventioneller Zusammenhang mit dem Bezeichneten) Mischformen
Ein Zeichen kann für ein anderes Zeichen stehen Sprachliche Zeichen, die für außersprachliche Gegenstände stehen, heißen objektsprachliche Zeichen; solche, die für andere sprachliche Zeichen stehen, heißen metasprachliche Zeichen Autoreferentielle Zeichen
S p r a c h l i c h e Zeichen können unterschiedliche semiotische Qualität haben indexikalische: Ausdrücke mit Symptomfunktion im Sinne von O. Reichmann, z. B. Emotionsmarker (au!, Hilfe!...), varietätenspezifische Ausdrücke (moin, fei...) ikonische: Onomatopoetika (wau-wau, kikeriki...), Ikonographika (,...) symbolische: Ausdrücke mit rein arbiträrer Darstellungsfunktion im Sinne von O. Reichmann, z. B. Buchstaben und Zahlen (a, x, 9...), mathematische Symbole (+, =...), Ausdrücke mit unbekannter Etymologie (Schorle...) Sprachliche Zeichen haben in aller Regel mehr als eine semiotische Qualität. Symbolische sprachliche Zeichen sind Sprachzeichen im engeren Sinne: Komplexere aus symbolischen Zeichen bestehende semiotische Systeme sind ausschließlich dem Menschen eigen.
Ein Ausdruck ohne Bedeutung ist ebenso wenig denkbar wie eine Bedeutung ohne Ausdruck: Beide Entitäten sind voneinander abhängig, da sie sich wechselseitig definieren. Bilaterales Zeichenmodell Zwei Seiten des sprachlichen Zeichens (signe) signifiant ( Bezeichnendes ), dt. Signifikant, Ausdruck, Zeichengestalt signifié ( Bezeichnetes ), dt. Signifikat, Bedeutung, Inhalt (letzteres unglücklich), Zeichenwert Nur beide Seiten z u s a m m e n bilden ein sprachliches Zeichen; keine Seite ist von der anderen zu trennen (Blatt-Metapher)
Ein Ausdruck ohne Bedeutung ist ebenso wenig denkbar wie eine Bedeutung ohne Ausdruck: Beide Entitäten sind voneinander abhängig, da sie sich wechselseitig definieren. Bilaterales Zeichenmodell Qualität der beiden Seiten signifiant (Ausdruck) ist nicht das konkrete Schallereignis, sondern das Lautbild, d. h. eine mentale Einheit, die hinsichtlich ihres Lautwertes bestimmt ist. signifié (Bedeutung) ist nicht ein realer Gegenstand oder Sachverhalt, sondern ein inneres Bild, eine Vorstellung concept ) desselben, d. h. ebenfalls eine mentale Einheit, die hinsichtlich ihrer Lautgestalt bestimmt ist. Ausdruck und Bedeutung sind prinzipiell v o n g l e i c h e r Q u a l i t ä t : Erklärung der Sprache aus e i n e m Prinzip (Zeichen)
Bilaterales Zeichenmodell Zusammenhang der beiden Seiten Der Zusammenhang von Ausdruck und Bedeutung könnte sein motiviert ( notwendiges oder natürliches Zeichen ) arbiträr ( willkürliches Zeichen ) Sprachliche Zeichen nach de Saussure sind i m m e r a r b i t r ä r, d. h., es gibt k e i n e n n a t ü r l i c h e n Z u s a m m e n h a n g zwischen Ausdruck und Bedeutung daher verschiedene Wörter mit gleicher oder weitgehend gleicher Bedeutung in unterschiedlichen Sprachen Aber: Sprachliche Zeichen nach de Saussure sind zugleich i m m e r k o n v e n t i o n e l l, d. h., der Zusammenhang von Ausdruck und Bedeutung ist nicht in das Belieben des einzelnen Sprecherindividuums gestellt. Peter Bichsel, Ein Tisch ist ein Tisch
Sprachliche Zeichen k ö n n e n nach Saussure zudem r e l a t i v m o t i v i e r t sein durch Klangähnlichkeit: Onomatopoetika (lautmalerische Ausdrücke) wie Kuckuck oder kikeriki durch morphosyntaktische Zusammenhänge (z. B. Tischtuch < Tisch + Tuch, Wälder < Wald) durch etymologische Zusammenhänge (z. B. Tisch < lat. discus, Herbst < lat. carpere)
Systematische (morphosyntaktische) Motiviertheit sprachlicher Zeichen Beispiel: Sermisch Obwohl niemand von Ihnen ein einziges Gadel Sermisch sirmt, haben Sie verrieslich keinerlei Wurnis, zumindest einigermaßen zu vernulen, was ich Ihnen verrapfe, ich, der ich seit meiner aurigsten Parvheit Sermisch gesormen habe. Warum versteht man das? Man versteht ein sprachliches Zeichen aus dem Zusammenhang, weil man andere sprachliche Zeichen und morphosyntaktische Regeln kennt. Sprachliche Zeichen erklären sich gegenseitig.
Spannungsverhältnis von Arbitrarität und Motiviertheit a) Sprachgemeinschaften tendieren dazu, sprachliche Zeichen als motiviert zu betrachten Remotivierung (Beispiel: Lindwurm, windschief) Volksetymologie (Beispiel: Sündflut, Maulwurf) b) Individuell motivierte sprachliche Zeichen können umgekehrt in der Kommunikation ihre Motiviertheit verlieren. Dekontextualisierte Scherzkommunikation (Beispiel: Albrecht Hase ) Der Grundwortschatz jeder Sprache besteht daher weitestgehend aus nicht motivierten Einheiten, weil diese im Rahmen des kindlichen Spracherwerbs als Gegebenheiten unhinterfragt übernommen werden.
Zwei Dimensionen des sprachlichen Zeichens syntagmatisch (linear): Das Zeichen hat eine zeitliche Ausdehnung (Dauer); es erscheint im Zusammenhang anderer Zeichen, die ihm zeitlich vorangehen bzw. folgen. Das Haus ist groß. Es gehört Frau Schmidt. paradigmatisch (assoziativ): Das Zeichen hat eine Position in einem Zeichenfeld; es erscheint im Zusammenhang anderer Zeichen, die ihm in ihren Verwendungsregeln ähneln. Gebäude klein Ein Dieses Das Haus ist groß. Mein war größer grammatische Paradigmata (z. B. Formen-, Wortartenparadigmata) semantische Paradigmata (z. B. Synonymen-, Antonymenparadigmata)
Das sprachliche Zeichen ist bilateral konstituiert aus Ausdruck (Zeichengestalt) und Bedeutung (Zeichenwert); beide Seiten sind arbiträr, konventionell und ggf. (relativ) motiviert miteinander verknüpft. Das sprachliche Zeichen steht in syntagmatischer und paradigmatischer Relation zu anderen sprachlichen Zeichen.
Organon-Modell grch. οργανον, lat. instrumentum Werkzeug (Angeblicher) Rückgriff auf Platons Dialog Kratylos (ca. 393 388 v. Chr.) Bühler: Das sprachliche Zeichen ist ein Werkzeug (Organon), mit dem einer einem anderen etwas über die Dinge mitteilen kann. Das sprachliche Zeichen hat daher d r e i f u n k t i o n a l e D i m e n s i o n e n Einer (Sprecher) der Andere (Adressat) die Dinge (Gegenstand)
Gegenstände und Sachverhalte Darstellung Abstraktive Relevanz Apperzeptive Ergänzung Symbol Ausdruck Z Appell
Definitionen und Denkanstöße im Überblick Etwas ist ein Zeichen, wenn es für etwas anderes steht: (aliquid stat pro aliquo etwas steht für etwas ). Sprachliche Zeichen, die für außersprachliche Gegenstände stehen, heißen objektsprachliche Zeichen; solche, die für andere sprachliche Zeichen stehen, heißen metasprachliche Zeichen. Sprachliche Zeichen haben in aller Regel mehr als eine semiotische Qualität. Symbolische sprachliche Zeichen sind Sprachzeichen im engeren Sinne: Komplexere aus symbolischen Zeichen bestehende semiotische Systeme sind ausschließlich dem Menschen eigen. Das sprachliche Zeichen ist bilateral konstituiert aus Ausdruck (Zeichengestalt) und Bedeutung (Zeichenwert); beide Seiten sind arbiträr, konventionell und ggf. (relativ) motiviert miteinander verknüpft (de Saussure). Das sprachliche Zeichen steht in syntagmatischer und paradigmatischer Relation zu anderen sprachlichen Zeichen (de Saussure). Das sprachliche Zeichen ist ein Werkzeug (Organon), mit dem einer einem anderen etwas über die Dinge mitteilen kann (Bühler).
Vorbereitung der nächsten Sitzung Studienbuch Linguistik, S. 461 501