Praxissituationen entgeschlechtlichen und entkulturalisieren Idee und Erfassung von Bernard Könnecke, Weiterentwicklung von Vivien Laumann, Andreas Hechler, Ulla Wittenzellner, Lilian Hümmler, Olaf Stuve Themen Ziel der Methode ist eine Reflexion geschlechtlicher und kulturalisierender/rassistischer Zuschreibungen im pädagogischen Alltag. Anhand von (vorgegebenen) Situationen aus der alltäglichen Praxis sollen die Teilnehmer_innen diskutieren und reflektieren, welche geschlechtlichen und kulturalisierenden/rassistischen Zuschreibungen in alltäglichen Aussagen und Interaktionen stecken. Anschließend können Alternativen entwickelt werden, die keine solchen Zuschreibungen enthalten. Es handelt sich um eine Methode der Selbstreflexion, um an der eigenen Haltung zu arbeiten. Sie ist nicht für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gedacht. Potenziale Eigene Handlungen können reflektiert werden um damit einen sensibleren Umgang mit Kindern/Jugendlichen zu ermöglichen, alltägliche geschlechtliche und kulturalisierende Zuschreibungen zu umgehen und damit Kinder und Jugendliche in ihrer individuellen Entwicklung zu unterstützen. Zielgruppe Erwachsene, Multiplikator_innen, Pädagog_innen Anwendung und Grenzen Es sollten mindestens 6 Teilnehmende sein, die sich in zwei Kleingruppen aufteilen können. Ab einer gewissen Gruppengröße kann die gemeinsame Auswertung schwierig werden, aber erst einmal sind der Teilnehmendenzahl nach oben keine Grenzen gesetzt. Bei sehr kleinen Gruppen kann mit weniger Beispielsituationen gearbeitet werden, bei sehr großen Gruppen mit mehr. Rahmenbedingungen Zeit: 40 70 Minuten, je nach Lust und Größe der Gruppe und Intensität der Diskussion. Material: DIN A4 Blätter mit den Praxissituationen und der Aufgabenstellung. Die Anzahl der Blätter pro Beispiel sollte der Anzahl der Personen pro Kleingruppe entsprechen (sind in den Kleingruppen je 3 Personen, sollten an jeder Station 3 Arbeitsblätter vorhanden sein). Größe und Anzahl der Räume: Alles kann in einem Raum stattfinden, aber auch auf dem Flur oder draußen. Die Stationen sollten sich nicht zu dicht beieinander befinden und aus je einem Tisch, mehreren Stühlen und den Arbeitsblättern bestehen. Anleitung 1. Kleingruppen bilden: Die Gesamtgruppe wird gebeten, sich in Kleingruppen von 2 4 Personen zusammenzufinden. 2. Alle Kleingruppen erhalten folgende Aufgaben:
Beginnt an eurer Station mit dem vorhandenen Beispiel und diskutiert die folgenden Fragen/Aufgaben: Wo finden hier geschlechtliche und/oder kulturalisierende/rassistische Zuschreibungen statt, die Kinder oder Jugendliche in ihrer individuellen Was könnten Alternativen für pädagogisches Handeln sein, z. B. andere Formulierungen? Wenn ihr mit den Ergebnissen eurer ersten Station zufrieden seid, könnt ihr zu einer anderen Station weitergehen. Wenn dort noch eine andere Gruppe ist, holt euch den dortigen Beispielbogen und diskutiert woanders. Es kommt nicht darauf an, möglichst viele Stationen zu bearbeiten, sondern intensiv zu diskutieren und Alternativen pädagogischen Handelns zu entwickeln. 3. Mögliche Fragen zur Diskussion und Auswertung im Plenum: Was ist euch aufgefallen? Welche Situationen kennt ihr aus der pädagogischen Praxis? Wie lassen sich die Situationen anders gestalten? Beispielsituationen Praxissituation 1: In das Jugendzentrum, in dem du arbeitest, kommen seit Kurzem auch geflüchtete Jugendliche. Nach der Rückkehr von einem gemeinsamen Ausflug kommt dein_e Kolleg_in in den Raum und sagt: Ich brauch mal vier starke Jungs! - Welche Botschaften erhalten die männlichen Jugendlichen? Erhalten alle männlichen Jugendlichen die gleiche Botschaft? - Welche Botschaften erhalten die weiblichen Jugendlichen? - Finden Ausschlüsse statt? - Wo finden hier geschlechtliche Zuschreibungen statt? Finden rassistische Zuschreibungen statt? Praxissituation 2: Ein türkisch sprechendes Mädchen kommt auf dich zu und erzählt dir, sie habe sich gerade verliebt. Du fragst: Das ist ja toll! Wie heißt er denn? Weiß dein Vater davon? - Welche Botschaften bekommt die Jugendliche? - Welche Botschaften werden an Mädchen gesendet, die zuhören? - Welche Botschaften werden an Jungen gesendet, die zuhören?
Praxissituation 3: In der Vorbereitung eines Schulfestes sagt dein_e Kolleg_in: Und die jungen Damen würde ich bitten etwas zu essen fürs Buffet mitzubringen. Gerne was aus eurer Heimat. - Welche Botschaften werden an Mädchen gesendet, die zuhören? Kriegen alle Mädchen die gleiche Botschaft? - Welche Botschaften werden an Jungen gesendet, die zuhören? Praxissituation 4: Vier junge Männer kommen offensichtlich total übermüdet ins Jugendzentrum. Pädagoge: Mal wieder zu viel Bier getrunken gestern, Jungs, wa?! Zu einem der Jugendlichen, der einzige, der nicht als Erstsprache Deutsch spricht, sagt er: Du warst auch dabei? Na, du kommst ja aus einer modernen Familie. - Welche Botschaften werden an die jungen Männer gesendet? Wie werden sie angesprochen? - Wird allen die gleiche Botschaft gesendet? - Welche Botschaft wird an die jungen Frauen gesendet, die zuhören? Inhaltliche Vertiefung Anhand des ersten Beispiels mit den vier starken Jungs lässt sich gut analysieren, wie viele der anwesenden Kinder oder Jugendlichen jetzt mit der Frage nach ihrer Geschlechtlichkeit konfrontiert sind und Platzanweiser erhalten: Alle Mädchen erhalten die Botschaft, dass sie nicht gemeint sind, da sie per se als nicht stark angesehen werden. Einige Jungen werden sich angesprochen fühlen und irgendwo zwischen positiv geschmeichelt und völlig abweisend reagieren, je nach Klassenkultur, rassistischen Zuschreibungen und Alter der Jungen (z.b. haben weiße Jungen mit bildungsbürgerlichem Hintergrund eine andere Möglichkeit, sich nicht physisch stark und trotzdem als männlich zu positionieren als einige marginalisierte
Jungen dies können). Sie bekommen einen Männlichkeitsbeweis und die Botschaft, dass sie auch immer stark zu sein haben und keine Schwäche zeigen dürfen. Andere werden sich mit der Frage beschäftigen, ob sie abwertende Sprüche kassieren, wenn sie jetzt aufspringen ( Ey, er/sie hat nach starken Jungs gefragt, da bist doch nicht du gemeint! ). Alle Kinder/Jugendlichen müssen sich zu dieser Männlichkeits und Weiblichkeitsanrufung eines_r Pädagog_in verhalten; sie zu ignorieren ist fast unmöglich. Die Festschreibung von stereotypen Geschlechterbildern ist völlig unnötig und leicht vermeidbar; zwei von vielen alternativen Fragen wäre: Ich brauch mal ein paar Leute, die mir was tragen helfen! oder: Wer kann mir was tragen helfen?. Anhand des zweiten Beispiels mit dem Verliebtsein teilt der_die Pädagog_in der Jugendlichen mit, dass er_sie selbstverständlich von einer heterosexuellen Verliebtheit ausgeht. Für den Fall, dass es sich nicht um einen männlichen Liebespartner handelt, sondern um eine weibliche, trans* und/oder nicht geschlechtlich verortete Partner_in, hat der_die Pädagog_in die Hürde für ein Outing in diesem Moment enorm hoch gehängt. Aber auch für den Fall, dass die Jugendliche sich heterosexuell verliebt hat, wird für noch nicht geoutete lesbische, bi und schwule Jugendliche deutlich, dass diese_r Pädagog_in ihre Lebenssituation nicht mitdenkt und insofern auch keine Ansprechperson diesbezüglich ist. Allen Zuhörenden wird die Botschaft mitgegeben, dass wenn man*_frau* sich verliebt, dies in das gegenteilige Geschlecht geschieht und etwas anderes außerhalb des normal Denkbaren ist. Zudem wird implizit eine patriarchale Familienstruktur unterstellt. Die Frage kann sowohl kontrollierend als auch besorgt verstanden werden. In beiden Fällen wird die Jugendliche gleichzeitig als zu einer muslimisch patriarchalen Kultur zugehörend verortet und rassistische Vorurteile über muslimische Familien reproduziert. Dabei gibt es unzählige Möglichkeiten, nicht normierend auf dieses Gesprächsangebot einzugehen; zwei davon wären: Das ist ja toll! Wer ist es denn? oder: Wie geht es dir mit der Verliebtheit?. Variante Es können auch andere passende Praxissituationen genutzt werden, die mitunter auf andere Machtverhältnisse abzielen. Die Situationen könnten durch eine dritte Person ergänzt werden, die interveniert. Daran könnten unterschiedliche Interventionsstrategien diskutiert werden. Es können auch weniger oder mehr als 6 Stationen/Beispiele sein, abhängig von der Gesamtgruppengröße. Es kann auch mit weniger schriftlastigem Material, beispielsweise mit Comics, gearbeitet werden. Quelle Die Vorläufer-Version dieses Methodenblatts gibt es hier als Download: http://dissens.de/gerenep/praevention3.php Die Druckfassung der Vorläufer-Version ist erschienen in: Könnecke, Bernard/Laumann, Vivien/Hechler, Andreas (2015): Methode: Praxissituationen entgeschlechtlichen. In: Hechler, Andreas/Stuve, Olaf (2015) (Hrsg.): Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 73 78. Die Idee und Erstfassung zu der Methode stammt von Bernard Könnecke und wurde im Rahmen des Projekts Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule (www.jungenarbeit und schule.de/) entwickelt (Könnecke 2012). Sie wurde von verschiedenen Mitarbeiter_innen von Dissens Institut für Bildung und Forschung weiterentwickelt, u. a. im Rahmen der Projekte Rechtsextremismus und Männlichkeit(en)/Vielfalt_Macht_Schule (www.vielfaltmachtschule.de; Laumann/Stützel 2015), Geschlechterreflektierte Neonazismusprävention (http://dissens.de/gerenep/) und Rassistische
Instrumentalisierungen geschlechterpolitischer Fragen im Kontext migrationsgesellschaftlicher Verhältnisse (http://www.dissens.de/startseite/projekte/aktuelle-projekte/rassistische-instrumentalisierungen/). Könnecke, Bernard (2012): Geschlechterreflektierte Jungenarbeit und Schule. In: Dissens e. V. u. a.: Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Berlin: Eigendruck, S. 62 71. Laumann, Vivien/Stützel, Kevin (2015): Dann bin ich ja gar nicht mehr authentisch Die Gefahr von Verkürzungen in der pädagogischen Rechtsextremismusprävention. In: Hechler, Andreas/Stuve, Olaf (Hrsg.): Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich,S. 135 150.