Ein fotografischer Rundgang durch die Ausstellung Gulag. Spuren und Zeugnisse Rikola-Gunnar Lüttgenau

Ähnliche Dokumente
Presseinformation 19. August 2012

Hörstück zur Einführung in die Ausstellung GULAG

ZWANGSARBEIT IM NATIONALSOZIALISMUS

Aktionstag Geschichte der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg in Spaichingen

DEMOKRATIE ONLINE im Internet: demokratie-online.net Redaktion: Sylvia Schmidt. Beschreibung für den

Projektbeschreibung Februar 2011

Der Prozess gegen Dr. Kurt HeiSSmeyer. Dokumente

zur Pressekonferenz und Eröffnung der Ausstellung»Zwangsarbeit im Nationalsozialismus«am 11. Mai

DAS JAHRHUNDERT DER LAGER

3.2.3 Länderverfassungen und Denkmalschutzgesetze der Länder Kommunen/ Gemeindliche Ebene Freie Träger die vierte nationale

BAND29. Robin Alexander Kiener WEISST DU WOHIN WIR GEHEN? Mit Kindern über das Leben nach dem Tod theologisieren und philosophieren Ein Praxisbuch

Die Menschenrechte eine bildliche Umsetzung (9.3)

Analyse der Tagebücher der Anne Frank

Begleitprogramm zur Ausstellung in Hamburg vom 6. November bis zum 7. Dezember 2016 in der Hauptkirche St. Katharinen

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus:

Ansprechpartnerin: Irmtraut Hollitzer. Öffnungszeiten: Täglich Uhr

Widerstand gegen den NS in der Region Eine Unterrichtsentwurf für die S II von Julia Schönthaler Thema

Die sowjetische Partisanenbewegung im Zweiten Weltkrieg

Erhalten! Wozu? Verpflichtende Vergangenheit. Verpflichtende Vergangenheit

Das Schicksal der Juden in Polen: Vernichtung und Hilfe

Eröffnung der Ausstellung Zwangsarbeit Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg Sonntag, , Uhr LWL Industriemuseum, Zeche Zollern

Wissenschaftliche Verantwortung im Tierversuch

Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Band 39

Die Europäische Zentralbank: Kritische Betrachtung ihrer Geldpolitik und demokratischen Stellung

Grußwort von. zur Veranstaltung des. im Oberlandesgericht Düsseldorf

Der halbierte Rechtsstaat

BYZANZ VON PETER SCHREINER R. OLDENBOURG VERLAG MÜNCHEN , überarbeitete Auflage

Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel

Kommunistische Diktatur und Individualrechte. Lehren aus freiheitlicher Perspektive am

Sächsische Landeszentrale für politische Bildung

Nr. 112 Februar 2016 Südsee real WeltBlick Forum Historie Kommentar

Der Nahostkonflikt in Deutschland

Multimediales Archiv jüdischer Autorinnen und Autoren in Berlin

Schule im Kaiserreich

Münstersche Schriften zur Kooperation

GEDENKSTÄTTE THERESIENSTADT

Politik Wirtschaft Gesellschaft

Stoffverteilungsplan. Pflichtmodul: Nationalsozialismus und deutsches Selbstverständnis

Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche ohne eigenen Wohnsitz

Andreas Reisen. Der Passexpedient. Geschichte der Reisepässe und Ausweisdokumente vom Mittelalter bis zum Personalausweis im Scheckkartenformat.

Geschichte und Geschehen 4 Bayern (9. Jahrgangsstufe) Kapitel: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg Obligatorische Inhalte

JAHRBUCH MEDIEN UND GESCHICHTE Dietrich Leder / Hans-Ulrich Wagner (Hrsg.) Sport und Medien. Eine deutsch-deutsche Geschichte

Geschichte erinnert und gedeutet: Wie legitimieren die Bolschewiki ihre Herrschaft? S. 30. Wiederholen und Anwenden S. 32

Schulinternes Curriculum Sek. II Geschichte des Gymnasium der Stadt Frechen Q2

Modul HF-GW-BA 104 Mentorat TU Mentorat B. Meißner TU Mentorat S. Selzer TU Mentorat J. Nowosadtko TU Mentorat R.

DIE FOLGEN DES ERSTEN WELTKRIEGES Im Jahr 1918 verlieren die Deutschen den Ersten Weltkrieg und die Siegermächte GROßBRITANNIEN, FRANKREICH und die

Bildungsstandards für Geschichte. Kursstufe (4-stündig)

1. September 2011, 11 Uhr, Eröffnung der Ausstellung Denkmal der Grauen Busse am Sitz des Landschaftsverbandes Rheinland, Kennedy-Ufer-2

Sehr geehrter Herr Prof. Lahnstein, sehr geehrter Herr Dr. Schmidt, meine sehr verehrten Damen, meine Herren,

Joachim Ritter, 1961 Aristoteles und die theoretischen Wissenschaften

Gab es eine Alternative?

Studienkurs. Politikwissenschaft. Samuel Salzborn. Demokratie. Theorien, Formen, Entwicklungen. Nomos

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Deutschland Die deutschen Staaten vertiefen ihre Teilung

Teil I TäterInnen, Verfolgte, Ermordete, Überlebende (Opfer), Menschen im Widerstand, ZuschauerInnen

Buchner informiert. Stoffverteilungsplan. Pflichtmodul: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung im Umfeld des Zweiten Weltkrieges

Rede. der Staatsministerin Dr. Beate Merk. im Rahmen der Vernissage "Perspektivenwechsel" des Sozialdienstes katholischer Frauen e.v.

etwas in Wirklichkeit nicht passieren darf. Der Tod eines Nahestehenden, eine fatale persönliche Niederlage, Krieg. Man kann darauf nicht richtig

Die Reise nach Jerusalem Bilder von Michaela Classen

» («Der Zweite Weltkrieg ») ( )).

Positionierung und Profilierung der Archive neben und mit anderen Kulturinstitutionen

Die Opfer einer politischen Religion

Ausstellung fremd / vertraut LVR-Freilichtmuseum Kommern Schillergymnasium Köln, Hauptschule Blankenheim, Realschule Mechernich, Hauptschule

Josefine: Und wie wollte Hitler das bewirken, an die Weltherrschaft zu kommen?

Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland und ihre Rückkehr in die UdSSR

Ausstellung Que reste t il de la Grande Guerre? Was bleibt vom Ersten Weltkrieg?

Im Rahmen unseres Projekts Spurensuche zur Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma in Duisburg

Landeszentrale vor Ort: Lorenz S. Beckhardt liest aus seinem Buch. Der Jude mit dem Hakenkreuz Meine deutsche Familie.

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Interpretation zu Kafka, Franz - Ein Bericht für eine Akademie

Erbschaftssteuer im Kontext

Von Marx zur Sowjetideologie

Wirtschaftsschule: Geschichte/Sozialkunde 10 (dreistufige Wirtschaftsschule)

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Kurzstudie BESTSELLER. Roman Büttner. Das Phänomen Fast Food. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zur Erfindung des schnellen Essens

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus:

Ein Ausflug in die Vergangenheit Checkpoint Charlie und die Berliner Mauer

Buchenwald Gedenkstätte

Kinderliteratur im Medienzeitalter

BAYERISCHES STAATSMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND KULTUS, WISSENSCHAFT UND KUNST

Reihe Diakoniewissenschaft Diakoniemanagement 1. Matthias Benad Martin Büscher Udo Krolzik [Hrsg.]

Eine audiovisuelle Zeitreise. Leitfaden für Lehrpersonen der Sekundarschulstufe I

FRIEDRICH DÜRRENMATT. Geboren: 1921, Bern. Gestorben: 1990, Neuchâtel (Neuenburg Schweiz)

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Die 16 Bundesländer. Das komplette Material finden Sie hier: School-Scout.

Kontinuität oder Neubeginn? Die Entwicklung der Presse in Deutschland zwischen

Der Weg in die Moderne

Geschichte und Geschehen

Arbeitsblätter zum Besuch der KZ-Gedenkstätte Sandhofen

Königs Erläuterungen und Materialien Band 413. Erläuterungen zu. Thomas Brussig. Helden wie wir. von Cornelia Walther

Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen

Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers,Mein Kampf

Dieter Kürschner. Totschweigen ist die passive Form von Rufmord

Sperrfrist: Uhr. Rede des Präsidenten des Nationalrates im Reichsratssitzungssaal am 14. Jänner 2005 Es gilt das gesprochene Wort

Mosaikstücke der Wahrheit

Leseprobe Verlag Ludwig Freytag, Harms, Schilling Gesprächskultur des Barock

Potsdamer Lateintage 2

Evangelisch in Ständestaat und Nationalsozialismus

Letzte Bücher aus der DDR Premieren & Bestseller 1989/90

Topographie der Erinnerung

Es erfüllt mich mit Stolz und mit Freude, Ihnen aus Anlass des

Ihnen heute die Humanitätsmedaille der Stadt Linz zu verleihen, ist mir nicht nur ein Anliegen, sondern eine ganz besondere Ehre.

Transkript:

Inhalt 4 7 12 Vorwort Irina Scherbakowa Einleitung Julia Landau Ein fotografischer Rundgang durch die Ausstellung Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929 1956 Rikola-Gunnar Lüttgenau EINORDNUNGEN 30 50 60 70 Gulag. Willkür und Massenverbrechen in der Sowjetunion 1917 1953. Einführung und Dokumente. Bernd Bonwetsch Gulag und Konzentrationslager: Sowjetische und deutsche Lagersysteme im Vergleich Jörg Ganzenmüller Durch die Arbeit in die Freiheit. Der Gulag als ein Instrument der Umerziehung? Felicitas Fischer von Weikersthal Die Aufarbeitung der Geschichte des Gulag in Russland Aleksej V. Zacharčenko LOKALSTUDIEN 80 92 Kolyma und Magadan. Ökonomie und Lager im Nordosten der Sowjetunion Mirjam Sprau Das Spezkontingent Ende der 1920er bis Anfang der 1950er Jahre in der Region Perm Andrej B. Suslov HÄFTLINGSGRUPPEN UND EINZELSCHICKSALE 106 Die Drehtür und die Marginalisierungsmaschinerie des stalinistischen Gulag, 1945 1960 Marc Elie

118 128 140 Frauen und Kinder im Gulag Meinhard Stark Strafverfolgung im Stalinismus. Das Schicksal Nicht-Politischer Häftlinge Immo Rebitschek Vsevolod Zaderatsky. Ein Komponist im Gulag Jascha Nemtsov ANDERE LAGERSYSTEME 148 156 Deutsche Gefangene im sowjetischen Lagersystem: GUPWI und Gulag, 1941 bis 1956 Andreas Hilger Gulag auf deutschem Boden? Sowjetische Speziallager in der SBZ/DDR Jörg Morré NACH DEM GULAG 170 180 190 198 Ende des Gulag-Systems? Amnestien und Rehabilitierungen nach 1953 Beate Fieseler Gedenken als Herausforderung Zur Geschichte der ersten Gulag-Ausstellung in der Sowjetunion Katharina Haverkamp Leiden als Exponat oder ein Museum des strengen Regimes in Russland heute Michail B. Gnedovskij / Nikita G. Ochotin Das Gefängnis im heutigen Russland: Interpretation der Entwicklung einer Disziplinarinstitution Anton Oleinik 206 Epilog Arseni Roginski 208 212 216 Autorenverzeichnis Abkürzungsverzeichnis / Glossar Ausstellungsimpressum

Einleitung Julia Landau Der vorliegende Band bündelt die zahlreichen Beiträge, die in zwei Vortrags- und Diskussionsreihen im Rahmen der von der Gesellschaft Memorial, Moskau und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora erarbeiteten Ausstellung Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929 1956 an den Stationen im Schiller-Museum in Weimar 2012 und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin 2013 gehalten wurden. Da sie auf reges Interesse stießen und die Diskussionen häufig länger waren als die Vorträge selbst, entstand der Wunsch, die Beiträge als Sammelband zu veröffentlichen und sie noch um einige zusätzliche Artikel zu ergänzen. Der Band erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit und versteht sich auch nicht als eigenständiger Beitrag zur Forschung; er möchte lediglich vorhandenes Wissen auf knappem Raum für ein interessiertes Publikum zugänglich machen. Die Historikerinnen und Historiker vertiefen im Folgenden einzelne Aspekte des Gulag-Systems, die in der Ausstellung nur angesprochen werden konnten. Arbeiten, die zum Teil bisher nur als umfangreiche wissenschaftliche Fachpublikationen vorliegen, oder für diesen Band erstmals ins Deutsche übersetzt wurden, werden für die breite Öffentlichkeit erschlossen. Gulag was bedeutet zunächst dieser Begriff? Ursprünglich handelte es sich um eine in der sowjetischen Behördensprache gebräuchliche Abkürzung für die 1930 neu geschaffene zentrale staatliche Abteilung der staatlichen Geheimpolizei OGPU die Hauptabteilung der Besserungsarbeitslager und -kolonien (Glawnoe uprawlenie isprawitelno-trudowych lagerej 1 ), zuständig für sämtliche bis dahin existierenden Lager der Sowjetunion: die Lager auf den Solowezker Inseln, wie auch die Lager in Kasachstan oder Zentralasien. 1931 war der Gulag-Abteilung die Zuständigkeit über die Sondersiedlungen übertragen worden hier lebten zur Zwangsarbeit verpflichtete, deportierte Familien. 1934 wurde diese Behörde in das neugeschaffene sowjetische Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD) eingegliedert. Sie verfügte Mitte der 1930er Jahre bereits über fast zwei Millionen Menschen, die gerichtlich oder außergerichtlich verurteilt, oder auf dem Verwaltungsweg deportiert worden waren. 2 Spezielle Wirtschaftsabteilungen des Gulag Holz, Bergbau und Metallurgie, Treibstoff, Papier, Wasserkraft und andere wurden geschaffen, um die zwangsverpflichteten Arbeitskräfte für die sowjetische Planwirtschaft einzusetzen. Die Gulag-Behörde bestimmte nicht nur über verurteilte Häftlinge und per Befehl in die Verbannung geschickte Sondersiedler, sondern war auch zuständig für obdachlose Kinder und Jugendliche. Diese Heranwachsenden mussten in speziellen Arbeitskolonien oder Verteilerstationen leben. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges kamen deportierte sowjetische Deutsche und andere Menschen, verfolgt aufgrund ihrer Nationalität, hinzu. 1953, mit dem Tod Stalins, wur- 1 Im Text wird wegen der leichteren Lesbarkeit die Duden- Umschrift verwendet; Namen von Autoren und die Literaturangaben folgen der wissenschaftlichen Transskription, um die Auffindbarkeit der Werke in Bibliotheksverzeichnissen zu gewährleisten. 2 Eine Statistik des Gulag aus dem Jahr 1935 weist über eine Million Häftlinge in Arbeitslagern und -kolonien aus, im Jahr 1936 werden eine Million Sondersiedler gezählt. Afanas ev (2004) Bd. 5, S. 228; Bd. 4, S. 68.

8 9 de die Anzahl der Lager und Kolonien sukzessiv verringert. 1960 löste Chruschtschow die Gulag-Behörde auf. Einzelne Arbeitslager wurden nun als Teil des sowjetischen Strafvollzugs, als Disziplinarinstitutionen mit abschreckender Wirkung, weitergeführt, übernahmen jedoch keine volkswirtschaftlich bedeutsame Funktion mehr. Dieser behördliche Komplex der Festnahme, Verhaftung und Ausbeutung von Millionen Menschen ist die eine Bedeutung des Begriffs Gulag. Hinter dem administrativen Kurzwort verbarg sich eine Geheimpolizei, deren Habitus und gewaltbereites Auftreten vom sowjetischen Bürgerkrieg 1918-1921 geprägt war, die Millionen von Menschen wegen vermeintlicher staatsfeindlicher Vergehen oder einer kollektiv vermuteten Illoyalität verfolgte, festsetzte und planwirtschaftlich ausnutzte. Bleibt man jedoch bei dieser verkürzten Behördensprache, erfasst man nur die eine Seite des Gulag und schreibt gewissermaßen auch die Herrschaftsverhältnisse fort. Alexander Solschenizyn holte den Begriff Gulag aus der administrativen Welt der Schreibtischtäter und beschrieb mit der Metapher Archipel Gulag das Phänomen des sowjetischen Lagersystems aus seiner Perspektive und der anderer Häftlinge. Sein detaillierter Bericht versuchte auf 1.800 Seiten begreiflich zu machen, was in der Sowjetunion im Namen einer Ideologie geschehen war, die einen Allmachtsanspruch formuliert hatte. Er beschrieb ein System von Lagern, das sich inselartig über die gesamte Sowjetunion ausgebreitet hatte und eine Art Schattenwelt darstellte gleich nebenan, keine zwei Meter von uns entfernt 3. Auf keiner Karte verzeichnet, konnte man am Eisenbahnschalter oder im Reisebüro auch keine Fahrkarte dorthin lösen. Zwei Wege führten dorthin: Der Bewacher oder Lagerleiter trat die Reise über das Innenministerium oder das Militär an. Und wer hinfährt, um dort zu sterben, wie wir beide, Sie, mein Leser und ich, dem steht dazu unausweichlich und einzig der Weg über die Verhaftung offen. 4 Solschenizyns Metapher eines Archipels einer Inselgruppe, zu der auch die umliegenden Gewässer und jene Landesteile gehören, die mit der Inselgruppe in Beziehung stehen ist gleichermaßen griffig wie einleuchtend. Zum Teil führt sie jedoch auch in die Irre: Sie symbolisiert die Abschottung dieser geheimen Inselgruppe vom Rest des Landes und seiner Bevölkerung und verdeckt die vielfältigen Beziehungen zwischen Gulag und sowjetischer Gesellschaft. Sein Bericht, den Solschenizyn 1973 in Paris veröffentlichen ließ, als der KGB das Manuskript in Moskau beschlagnahmte, hatte das Format einer publizistischen Bombe. Er stellte klar, dass sich das sowjetische Projekt des Gesellschaftsumbaus nicht ohne die millionenfache Zwangsarbeit der Gulag-Häftlinge denken ließ. Parallel erschienen im Westen und in der sowjetischen Untergrundliteratur zahlreiche erschütternde Zeugnisse aus dem Innersten des Gulag: Etwa die Erzählungen Warlam Schalamows, Jewgenia Ginsburgs, Olga Adamowa-Sliosbergs und vieler anderer. 5 Erst während der Perestroika durften diese und andere Erinnerungen immer noch mit Einschränkungen in der UdSSR gedruckt werden. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden schließlich zahlreiche Häftlingsberichte aus vielen Ländern publiziert.

Die Sammlung der Mitte der 1980er Jahre entstandenen Menschenrechtsorganisation Memorial ist Zeichen des Bemühens, die Zeugnisse des Gulag zu bewahren. Ehemalige Häftlinge, deren Angehörige und Freunde haben dem Archiv und der Sammlung von Memorial ihr Familiengedächtnis anvertraut; bei Exkursionen zu ehemaligen Lagern wurden Realien vor dem Verfall gerettet. Die Ausstellung Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929-1956 präsentiert diese einzigartige Sammlung. Sie entstand als russisch-deutsches Kooperationsprojekt zwischen der Gesellschaft Memorial, Moskau, und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in enger Zusammenarbeit mit der Stiftung Schloss Neuhardenberg und wurde von der Kulturstiftung des Bundes gefördert. Mit der Ausstellung beginnt auch der vorliegende Sammelband: Ein fotografischer Rundgang durch die Ausstellung kommentiert von Rikola- Gunnar Lüttgenau, neben Nikita Ochotin und Bodo Ritscher einer der Kuratoren, bildet den Einstieg. Im Anschluss werden fünf Schlaglichter auf das komplexe Thema geworfen: zunächst eine historische und begriffliche Einordnung des Themas (Einordnungen), der differenzierende Blick auf lokale Kontexte (Lokalstudien), der Blick auf unterschiedliche Häftlingsgruppen und Einzelschicksale wie auch die Zusammenhänge zwischen der Häftlingsgesellschaft und der gesamten sowjetischen Bevölkerung (Häftlingsgruppen und Einzelschicksale), der vergleichende Blick auf andere, parallele Systeme: das Lagersystem für Kriegsgefangene wie auch das deutlich kleinere System der Speziallager in der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland (Andere Lagersysteme) und schließlich der Ausschau haltende Blick auf die Situation der Häftlinge nach ihrer Entlassung und die Frage der Darstellung des Gulag-Themas in Museen in der Sowjetunion und im heutigen Russland (Nach dem Gulag). Einordnungen Ausgehend von neu zugänglichen Quellen macht Bernd Bonwetsch die Dimension sowjetischer Massenverbrechen sichtbar, die weit über das eigentliche Lagersystem hinausreicht. Beigefügte, erstmals übersetzte Dokumente veranschaulichen die Spezifik stalinistischer Gewalt, wie sie einem aus dem Archiv entgegentritt. Was war das Spezifische des stalinistischen Gulag im Vergleich mit dem nationalsozialistischen System der Konzentrationslager? Und was waren die Funktionen der unterschiedlichen Lagersysteme zu unterschiedlichen Zeiten? Diesen Fragen geht Jörg Ganzenmüller in seinem Beitrag nach. Felicitas Fischer von Weikersthal fragt nach dem Sinn, den der stalinistische Staat dem Gulag-System zusprach: Ob etwa die Bezeichnung Besserungsarbeitslager rein zynisch gemeint war oder ob es tatsächlich real vorhandene Motivlagen und Anstrengungen gab, die Häftlinge nicht nur arbeiten zu lassen, sondern sie auch noch bessern zu wollen. Einer historischen Grundfrage widmet sich Aleksej Zacharčenko in seiner Analyse der wissenschaftlichen Gulag-Literatur in Russland: Wie nimmt man die Quellen ernst ohne den Tücken der Sprache aufzusitzen und ohne zugleich die in der Dokumentensprache eingeschlossene Herrschaftspraxis unkritisch weiter zu tragen? 3 Solschenizyn (1974), S. 16. 4 Ebd., S. 9. 5 Siehe den Überblick über die Erinnerungs- und Forschungsliteratur auf der Website www.ausstellung-gulag.org.

Lokalstudien Den Deutungen und Einordnungen folgt der Tiefflug hin zu den konkreten Orten, der genaue, archivgestützte Blick auf regionale Verhältnisse: Mirjam Sprau untersucht den Nordosten der Sowjetunion die von Warlam Schalamow als Pol der Grausamkeit bezeichnete Region am Fluss Kolyma. Andrej Suslov erforscht die Region Perm am Ural, in die während des Krieges zahlreiche Betriebe evakuiert wurden und in die Hunderttausende Häftlinge und Sondersiedler als Arbeiter zwangsverpflichtet worden waren. Er zeigt, wie das Gulag-System eine eigene Gruppe von Menschen zweiter Klasse schafft: das so genannte Spezkontingent, bestehend aus den verschiedenen Verfolgtengruppen. Häftlingsgruppen und Einzelschicksale Was bedeutete nun diese soziale Dimension des Gulag, die Marginalisierung von Menschen, die auch nach dem Ende ihrer Haftzeit häufig an den Ort der Lagerhaft oder der Verbannung gebunden waren und aus politischen Gründen aus den Großstädten ausgesperrt blieben? Im dritten Abschnitt geht Marc Elie der Frage nach, was mit jenen passierte, die aus der Lagerhaft entlassen und häufig erneut wieder verhaftet wurden. Wie die Justiz vor Ort mit den Kriminellen umging und wie sie kriminell definierte, fragt auch Immo Rebitschek. Mit den konkreten Folgen der Lagerhaft und der darauf folgenden Diskriminierung beschäftigt sich Meinhard Stark. Zahlreiche Beispiele aus seinen lebensgeschichtlichen Forschungen zu weiblichen Häftlingen und Kindern führen die Gewalt des Gulag-Systems drastisch vor Augen. Jascha Nemtsov zeigt am Beispiel eines im Stalinismus verfolgten, zu langer Lagerhaft verurteilten Musikers, wie die staatliche Diskriminierung weit über die Lagerhaft hinausreichte und dem künstlerischen Schaffen jegliche Äußerungsmöglichkeit nahm. Andere Lagersysteme Ähnliche Erfahrungen wie die Gulag-Insassen machten auch die Häftlinge anderer sowjetischer Lagersysteme, die sich allerdings hinsichtlich ihrer Funktion und Struktur von den Lagern des Gulag unterschieden. Andreas Hilger und Jörg Morré fragen in ihren Beiträgen nach den Besonderheiten der Hauptabteilung für Kriegsgefangene und Internierte (GUPWI) und des deutlich kleineren Systems der Speziallager in der SBZ/DDR. 10 11 Nach dem Gulag Was blieb nun jenen, die den Gulag erfahren, erlitten und überlebt hatten? Konnte die nur sehr beschränkte staatliche Rehabilitierung während der Chruschtschow-Zeit, wenn nicht das geschehene Unrecht aufwiegen, so doch für eine gewisse gesellschaftliche Kompensation sorgen? Konnten ehemalige Häftlinge ihren Mitmenschen und gesellschaftlichen Institutionen noch vertrauen? Diesen Fragen geht Beate Fieseler in ihrem Beitrag zu den Amnestien und Rehabilitierungen für die Lagerhäftlinge nach. Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung über

diese schwierige Geschichte begann erst während der Zeit der Perestroika, wie die von Katharina Haverkamp beschriebene Wanderausstellung über die Solowezker Lager verdeutlicht, die an vielen Tabus rüttelte. In der heutigen postsowjetischen Gesellschaft, in der das Gefängnis nur noch eine von vielen Disziplinarinstitutionen darstellt so Anton Oleinik in seinem Beitrag ist die Erinnerung an den Gulag mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Gulag das war durch literarische Verarbeitungen und wissenschaftliche Forschungen immer deutlicher geworden ließ sich verstehen als die Quintessenz sowjetischen Lebens. Gulag war eine gemeinsame Erfahrung, zu der es fast in jeder Familie Bezüge und Geschichten gab: Geschichten der Opfer, wie der Täter, zum Teil auch beide nebeneinander. Nikita Ochotin und Michail Gnedovski plädieren in ihrem Beitrag dafür, diese Erfahrung als gemeinsames kulturelles Erbe zu begreifen, mit dem Ziel, die Hinterlassenschaften als wichtige Zeugnisse zu bewahren. Inwieweit es nun gelingen kann, aus dieser Geschichte zu lernen, fragt sich Arseni Roginski in dem Epilog des Bandes. Es bleibe weiterhin eine wichtige Aufgabe, die Erinnerung an den Gulag in der Öffentlichkeit wach zu halten. Neben der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen ist dies die wichtigste Aufgabe der Organisation Memorial, deren Sammlung in der Ausstellung Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929 1956 zum Sprechen gebracht wurde. Dank Auf dem Weg von einer Vortragsreihe hin zu einer Publikation ist Vielen zu danken: Zunächst den Autoren für die zügige Umsetzung ihrer Beiträge in lesbare und fußnotengestützte Artikel, schließlich Natalja Jeske für die Übersetzung der Beiträge von Aleksej Sacharčenko und Andrej Suslov sowie Judith Rosenthal für die Übersetzung des Artikels von Anton Oleinik. Für die gründliche Lektorierung danken wir Katharina Haverkamp, Angelika Landau, Dr. Romy Langeheine und Immo Rebitschek; Prof. Dr. Volkhard Knigge danken wir für hilfreiche Kommentare, Antje Hitzschke, Dr. Philipp Neumann-Thein und Rikola-Gunnar Lüttgenau für die Hilfe bei der Umsetzung des Projekts. Frieder Kraft und Christian Brüheim, werkraum.media, sei für die Gestaltung gedankt, dem Wallstein Verlag für die verlegerische Betreuung. Ein letzter, großer Dank gilt der Bundeszentrale für politische Bildung für die Aufnahme des Bandes in ihr Programm. Quellen und Literatur Afanas ev, Jurij u.a. (Hrsg.) (2004-2005): Istorija Stalinskogo Gulaga. Konec 20-ch pervaja polovina 1950-ch godach, Bd. 4 und Bd. 5, Moskau. Solschenizyn, Alexander (1974): Der Archipel Gulag, Bern.