Das zweite und dritte Lebensjahr (Fortsetzung VI) 17.1 Einleitung symboledie Minderwertigkeit des Kindes Zusammenfassung...

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Transkript:

Kinderpsychologie Lernheft 17 Das zweite und dritte Lebensjahr (Fortsetzung VI) Inhaltsverzeichnis: 17.1 Einleitung... 2 17.2 symboledie Minderwertigkeit des Kindes... 3 17.3 Der Trotz... 5 17.4 Selbstlernaufgaben... 7 17.5 Zusammenfassung... 7 17.6 Hausaufgabe... 8 17.7 Lösungen zu den Selbstlernaufgaben... 8 Copyright Laudius GmbH DE-1083-00-00

17.1 Einleitung Das Kind im zweiten und dritten Lebensjahr, das nun fähig ist, den Raum zu erobern (vgl. Lernheft 12), das in der Sprachentwicklung so rasch voranschreitet (vgl. Lernheft 15), das auch in der Intelligenzentwicklung beachtliche Fortschritte macht (vgl. Lernheft 16), bleibt dennoch dem Erwachsenen weit unterlegen. Es hat ihm gegenüber Minderwertigkeitsgefühle. Der Mitbegründer der Tiefenpsychologie Alfred Adler (1870 1937), ein großer intuitiver Kenner des Menschen und vor allem des Kindes, hat von der kindlichen Minderwertigkeit her seine Psychotherapie aufgebaut und einen großen Beitrag zum Verstehen kindlichen Verhaltens geleistet. Wir werden das in diesem Lernheft aufzeigen. (Und wenn wir schon einmal bei Adler sind, lohnt es sich, auch auf sein therapeutisches Vorgehen einen Blick zu werfen.) Abb.: Alfred Adler Im zweiten oder dritten Lebensjahr kommt das Kind ins sog. Trotzalter. Was ist darunter zu verstehen? Besteht eine Beziehung zum Gefühl der Minderwertigkeit? Der Trotz soll in diesem Lernheft unser zweites Thema sein. Lernziele: Sie können nach Durcharbeitung dieses Lernhefts erklären, inwiefern das Kind minderwertig ist. mit eigenen Worten beschreiben, wie nach A. Adler in der frühen Kindheit neurotische Entwicklungen grundgelegt werden. aufzuzeigen, wie die Antwort der Eltern auf frühkindlichen Trotz aussehen könnte. Erklärung der Symbole Selbstlernaufgaben Hausaufgabe Zusammenfassung Hinweise/Tipps Lösungen zu den Selbstlernaufgaben Notizen Anhang 2

17.2 symboledie Minderwertigkeit des Kindes Wenn A. Adler den Begriff der Minderwertigkeit an das Kind heranträgt und ihn zum Leitbegriff macht, um die kindliche Daseinssituation zu verstehen, wissen wir alle sofort, was gemeint ist: Das Kind ist klein, es ist schwach, es ist sprachlich und geistig unterlegen. Der Erwachsene erscheint ihm als allmächtig, immer kann er seinen Willen durchsetzen, er kann dem Kind Anordnungen geben, er kann es strafen. Dem Kind ist seine inferiore Position genau bewusst; das zeigt sich daran, dass für seine Verhaltensweisen der Erwachsene ständig der Maßstab ist. Es klettert beispielsweise auf einen Stuhl und sagt: Ich bin jetzt so groß wie der Papa! Oder das Kind versucht, es der Mutter gleichzutun und beginnt in der Küche allein mit dem Abwasch; dabei geht Glas zu Bruch, das Kind erhält einen heftigen Tadel, und anstatt in dieser Situation groß und erwachsen zu sein, wie es das wollte, ist es klein und minderwertig. Die Verantwortung des Erwachsenen Dass das Kind Minderwertigkeitsgefühle entwickelt, ist nach Adler unausweichlich. Aber das zuletzt genannte Beispiel zeigt, dass der Erwachsene hier in der Verantwortung steht: Er kann die Minderwertigkeitsgefühle verstärken, er kann aber auch umgekehrt Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl fördern (die Mutter hätte ganz anders reagieren können). Verschärfende Faktoren Zu der sozusagen natürlichen Minderwertigkeit des Kindes können verschärfende Faktoren treten: Mängel in der sozialen Situation, Organminderwertigkeiten, Behinderungen, Position in der Geschwisterreihe, Außenseitertum usw. Minderwertigkeitsgefühl Minderwertigkeitskomplex Im ungünstigsten Fall wird aus dem Minderwertigkeitsgefühl ein Minderwertigkeitskomplex. Der Unterschied ist dieser: Ein Gefühl ist dem Individuum bewusst, ein Komplex ist unbewusst. Gerade in seiner Unbewusstheit steuert ein Komplex das Verhalten, und zwar in negativer Hinsicht. Heilung kann hier nur der Psychotherapeut bringen; durch gutes Zureden wird ein Komplex nicht beeinflusst. Machtstreben Jedes Kind hat nach A. Adler nicht nur Minderwertigkeitsgefühle, sondern strebt auch nach Macht. Machtstreben ist in Adlers Theorie ein ganz wichtiger Begriff, er stellt den Schlüssel für das Verständnis menschlichen Verhaltens schlechthin dar. ( Machtstreben spielt in Adlers Theorie eine ebenso große Rolle wie der Sexualtrieb in S. Freuds Theorie.) Das Streben nach Macht als solches ist gemäß Adler keineswegs bereits ein neurotisches Symptom. Es ist ganz natürlich, dass ein Kind seine Minderwertigkeitsgefühle bewältigen will, dass es von unten nach oben drängt. Sind die Umweltkonstellationen günstig, erfährt das Kind vor allem intensive elterliche Zuwendung, wird es ihm gelingen, seiner Minderwertigkeitsgefühle mit einem Minimum an Kompensation Herr zu werden. Es wird Selbstbewusstsein und das Gefühl sozialer Sicherheit gewinnen. Es wird dann auch den Anforderungen des späteren Lebens 3

situationsgerecht begegnen können, ohne immer wieder an das Trauma frühkindlicher Minderwertigkeit erinnert zu werden. Hier sieht man, welche Verantwortung Eltern tragen! Die neurotische Entwicklung Beim Neurotiker hingegen hat sich in der Auseinandersetzung mit den frühkindlichen Minderwertigkeitsgefühlen ein anderer Lebensstil, eine andere Leitlinie entwickelt (beide Begriffe sind Fachtermini bei Adler). Die Umweltkonstellationen waren derart ungünstig, dass es nicht zur Ausprägung eines gesunden Selbstbewusstseins gekommen ist. Das Machtstreben äußert sich deshalb in abnormem Geltungsstreben, Aggressivität, krankhaften Phantasien usw. Die Urszene der frühkindlichen Minderwertigkeit wird in jede neue Lebenssituation hineinprojiziert, und immer wieder neu versucht der Neurotiker, sich gegen diese Minderwertigkeit aufzubäumen. Sein gesamter Lebensstil ist dadurch verkrampft und verzerrt. Ich-Zentrierung Vor allem schafft es der Neurotiker nicht, sich in die Gemeinschaft einzugliedern. Stets fällt er durch Unsachlichkeit auf; er will die Aufmerksamkeit der Umgebung auf sich lenken, es geht ihm in allen Dingen um die Geltung seiner Person. Die Neurose lässt sich bei Adler also als soziale Fehlanpassung verstehen mit dem Merkmal der Ich-Zentrierung (Ichhaftigkeit). Man sieht hier beispielhaft, wie eine neurotische Fehlentwicklung in der frühen Kindheit grundgelegt werden kann. Korrigieren des Lebensstils Ziel von Adlers Therapie ist es, den verzerrten Lebensstil des Neurotikers zu korrigieren. Erfolg haben kann die Therapie nur in einer Atmosphäre der Gleichberechtigung, des Vertrauens und der Aufrichtigkeit. Adler selber verstand es in hohem Maße, eine solche Atmosphäre herzustellen. Er war ein unbestechlicher Menschenkenner, der sich von keinem Neurotiker etwas vormachen ließ, aber er war zugleich ein großer, humorvoller Menschenfreund. Und das eine bedingt das andere. Die Therapie Die Therapie beginnt gemäß Adler mit der Lebensstilanalyse. Es geht hier um ein intuitives Erfassen der Leitlinie eines Patienten, um das Nachvollziehen seiner privaten Logik. Adler schlüpft dazu gewissermaßen in die Haut des anderen und stellt sich die Frage: Was würde ich in seinem Fall tun? So kann Adler z. B. konfrontiert mit einem erziehungsschwierigen Kind sagen: Was würde ich denn tun, wenn ich zu Hause keine Geltung hätte (zumal als jüngstes Kind, das den anderen unterlegen ist), außerhalb des Hauses auch keine Geltung hätte, aber doch Geltung haben möchte? Auch ich würde in die Phantasie flüchten und mir dort holen, was mir die Wirklichkeit verwehrt. Adler pflegte mit erziehungsschwierigen Kindern genau so zu sprechen, und sie waren verblüfft und fühlten sich verstanden. Auf die Lebensstilanalyse folgt die Modifikation des Lebensstils. Vor allem hat der Patient zu lernen, sich selbst so anzunehmen, wie er ist, auch in seiner Unvollkommenheit. Möglich wird ihm diese Selbstakzeptanz dadurch, dass der Therapeut seinerseits ihn so annimmt, wie er ist. Als Folge der neuen Bewertung seiner selbst wird dann im Patienten auch die Einsicht in seine soziale Fehlanpassung reifen, und zusammen mit dem Therapeuten kann die Lebensleitlinie neu entworfen werden. 4

17.3 Der Trotz Abb.: trotziges Kind Trotzalter? Bei den meisten Kindern beobachtet man im zweiten oder dritten Lebensjahr und dann noch einmal zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr ein deutliches Trotzverhalten. In der frühen deutschen Kinderpsychologie (1. Hälfte des 20. Jahrhunderts) hatte man sich angewöhnt, hier vom ersten bzw. zweiten Trotzalter zu sprechen. Dieser Begriff ist allerdings problematisch; er geht davon aus, dass das Kind von innen her, von seinen naturgegebenen Entwicklungsvoraussetzungen her, Trotzverhalten zeigen muss. Situative Faktoren Trotzverhalten hängt aber auch von situativen Faktoren ab, vor allem vom Verhalten der Eltern. Lilly Kemmler untersuchte 1957 das Phänomen und kam zu dem Schluss, dass Trotzverhalten keineswegs ein notwendiges Durchgangsverhalten einer normalen Entwicklung sei. Der Aufbau eines stabilen Ichs ist auch anders möglich als über Trotz. Nachfolgeuntersuchungen sahen das ähnlich. Vom Gefühl der Minderwertigkeit zum Trotzverhalten Das an sich dem Erwachsenen gegenüber minderwertige Kind gewinnt im Laufe des zweiten bzw. dritten Lebensjahres eine Kompetenz hinzu, die es dem Erwachsenen sehr viel ähnlicher macht, die es so könnte man fast sagen zum kleinen Erwachsenen werden lässt und damit Minderwertigkeit verringert: Das Kind kann sich nun vor Beginn einer Handlung (etwa eines Spiels) das Handlungsziel (den Ausgang des Spiels) vorstellen und begreift sich selber (sein Ich) als Verursacher der Handlung. Das aber hat eine starke emotionale Beteiligung an dem Geschehen zur Folge. Und jetzt darf niemand eingreifen! Niemand darf stören! 5

Und wenn die Mutter oder der Vater doch eingreifen muss? Weil das Kind etwas Gefährliches vorhat? Dann wird mit Bockigkeit und Trotz geantwortet. Kein Ausweichplan Der Trotz kommt auch dadurch zustande, dass dem Kind in diesem Alter noch kein Ausweichplan zur Verfügung steht. Es ist auf einen ganz bestimmten Handlungsablauf fixiert und hat noch nicht die geistigen Voraussetzungen, hier ein Element zu ändern; es will z. B. den Teppich partout mit Schuhcreme putzen und kann nicht auf Wasser umschwenken, was die Mutter zur Not akzeptieren würde. Gutes und schlechtes Elternverhalten Genau an dieser Stelle kann man den Unterschied zwischen gutem und schlechtem Elternverhalten aufzeigen. Schlechtes Elternverhalten heißt: ein hartes Verbot aussprechen und dem Kind die Schuhcreme wegnehmen; vielleicht noch: das Wasser vorschlagen, aber das Kind will es ja nicht, nun gut, dann bleibt es bei dem harten Verbot. Gutes Elternverhalten wäre: Dem Kind an einem Stück alten Teppich vorführen, was Schuhcreme anrichtet. Und dann noch einmal Wasser vorschlagen. Aber so etwas kostet Zeit und Geduld. Das Ich Die Eltern können also Trotz vermeiden helfen. Wenn das Kind ohne Trotzreaktionen aufwächst, umso besser, es verpasst dadurch nichts für seine Entwicklung. Entscheidend ist, dass das Kind sein Ich entdeckt; dass dieses sich abhebt aus dem bisherigen Einssein mit der Umwelt. Wie das Ich sich konstituiert, wurde oben bereits gesagt: im Planen und Durchführen von Handlungen. Hinzugefügt werden soll hier, dass das Ich sich anderen dadurch bemerkbar macht, dass es einen eigenen Willen hat. Der Wille Mit seinem Willen kann sich das Kind der Umwelt und den Eltern auch entgegensetzen. Wille steht dann gegen Willen. Welcher Wille ist stärker: der des Kindes oder der der Eltern? Bekommt das Kind seinen Willen nicht, wird es bockig und trotzig. Es muss sich durchsetzen lernen, nur so bildet sich ein stabiles Ich mit einem kräftigen Willen aus oder? Die Eltern, die den Willen des Kindes brechen, ziehen eine schwache, lebensunfähige Persönlichkeit heran. Und die Eltern, die ihr Kind ständig gewähren lassen, was machen die? Was ziehen die heran? Kooperation statt Konfrontation Wir müssen von dem Konfrontationsmodell Wille gegen Willen weg. Das Kind kann sein Ich auch in Kooperation mit den Eltern entwickeln. Der Wille richtet sich dann auf Handlungen und Spiele, dort findet er sein Betätigungsfeld. Wenn die neuen Holzbausteine aufgetürmt werden sollen, mit Brücken und Bogen, und alles sofort wieder umfällt, braucht man Willen, um weiterzumachen. Und die Mutter oder der Vater, mit der Hausarbeit beschäftigt, schaut zum Kind herüber und spricht ihm Mut zu. Auch so schult sich der Wille. 6

Trotzdem: Konfrontationen sind unvermeidbar Und doch werden Konfrontationen nicht ausbleiben. Auch in einer Familie mit gutem sozialem Klima wird immer mal wieder der Wille des Kindes gegen den Willen der Eltern stehen. So wie auch bei einem an sich gut funktionierenden Ehepaar Meinungsverschiedenheiten unvermeidbar sind. Hier nun sollte eine ausbalancierte Haltung zwischen Unnachgiebigkeit und Nachgiebigkeit eingenommen werden. Beide Haltungen, starr vertreten und zum Prinzip erhoben, richten beim Kind großen Schaden an. Besser ist: mal die eine Haltung einnehmen, mal die andere. Mit dem Kind diskutieren, hinhören, Kompromisse schließen aber da, wo es sein muss, auch klare Grenzen ziehen so in etwa sieht vernünftige Erziehung aus. 17.4 Selbstlernaufgaben 1. Was ist nach A. Adler unter Minderwertigkeit des Kindes zu verstehen? 2. Nennen Sie Faktoren, die zu der natürlichen Minderwertigkeit des Kindes verschärfend hinzutreten können. 3. Was ist der Unterschied zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Minderwertigkeitskomplex? 4. Wenn A. Adler mit einem erziehungsschwierigen Kind konfrontiert war wie sah sein Vorgehen dann aus? 5. Wie sieht bei Trotzverhalten gutes/schlechtes Elternverhalten aus? 6. Was passiert, wenn bei Trotzverhalten der Wille des Kindes ständig gebrochen wird? 17.5 Zusammenfassung Nach A. Adler fühlen sich Kinder Erwachsenen gegenüber minderwertig und zeigen Machtstreben : Sie wollen von unten nach oben. Dieser an sich normale Vorgang kann leicht zu neurotischen Fehlentwicklungen führen. Das Kind, das im zweiten und dritten Lebensjahr sein Ich und seinen eigenen Willen entdeckt, neigt zu Trotzverhalten. Eltern sollten darauf weder zu mild noch zu hart reagieren. 7

17.6 Hausaufgabe 1. Beschreiben Sie, was bei A. Adler kindliches Machtstreben ist und wie es von hier aus zu einer neurotischen Entwicklung kommen kann. 2. Problematisieren Sie den Begriff Trotzalter. Wie sieht die Forschung den Trotz seit den Untersuchungen Lilly Kemmlers? 3. Wie sehen die Situationen aus, in denen Trotzverhalten auftreten kann? 17.7 Lösungen zu den Selbstlernaufgaben 1. Das Kind ist klein, schwach und auf der ganzen Linie dem Erwachsenen unterlegen. 2. Mängel in der sozialen Situation, Organminderwertigkeiten, Behinderungen, Position in der Geschwisterreihe, Außenseitertum usw. 3. Ein Gefühl ist dem Individuum bewusst, ein Komplex unbewusst (steuert aber das Verhalten). 4. Adler schlüpfte gewissermaßen in die Haut des Kindes und stellte sich die Frage: Was würde ich in seinem Fall tun? Wenn er das dem Kind mitteilte, fühlte dieses sich verstanden. 5. Gutes Elternverhalten: mit dem Kind wird diskutiert, Alternativen werden aufgezeigt. Schlechtes Elternverhalten: ein hartes Verbot wird ausgesprochen. 6. Die Eltern ziehen eine schwache, lebensunfähige Persönlichkeit heran. 8