BERICHTE. Die Lehrstellenvermittlung 220 VHN 73 (2004) 2,

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Transkript:

BERICHTE Marcel Borer Die Lehrstellenvermittlung Ein Instrument der «Jugendberufshilfe» im Übergang von der Schule in die Berufswelt Zeige mir dein Schulzeugnis, und ich nenne dir deine Lehrstelle Die schulische Beurteilung bestimmt in hohem Masse die spätere Mitgliedschaft in der Gesellschaft auf einer bestimmten Ausbildungsstufe. Leistungsgerechte Beurteilungen scheinen aber nur gerade die Schülerinnen und Schüler zu erhalten, welche erheblich von der durchschnittlichen Schulleistung abweichen 1. Bei rund zwei Dritteln der Schülerschaft sind jedoch zu ihrem Nachteil leistungsunabhängige Kriterien beteiligt, wie im Kurzbericht der Studie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg/Schweiz vom Dezember 2003 festgehalten wird 2. Es stellt sich somit die berechtigte Frage, wer dann bei der Berufsfindung vom Umstand der nicht leistungsgerechten Beurteilung negativ betroffen ist, denn die Studie kommt auch zum Schluss, dass die schulische Qualifikation mitunter einen entscheidenden Faktor sowohl bei der Art der gefundenen Lehrstelle wie auch den gewählten Alternativen (Brückenangebote und weiterführende Schulen) darstellt. Eingeschränkte Chancen und Desillusionierung Die schulischen Bewertungen korrespondieren aus Sicht des Lehrstellenvermittlers gerade bei Schülerinnen und Schülern im mittleren Leistungsbereich vielfach nicht mit den Leistungen der jungen Menschen, die sie in praxisorientierten Handlungsfeldern wie Praxiswochen oder Arbeitseinsätzen zeigen. Am stärksten davon betroffen und in der Folge bei der Lehrstellenauswahl benachteiligt sind ausländische Jugendliche, im Besonderen solche der ersten Generation. Parallel dazu sind junge Frauen gegenüber ihren männlichen Konkurrenten mit einem vergleichsweise eingeschränkten Berufswahlangebot zusätzlich benachteiligt und müssen sich deshalb noch häufiger mit vagen Zwischenlösungen begnügen 3. Die Erfahrung bei der Lehrstellenvermittlung zeigt, dass die ausländischen Schülerinnen und Schüler mit durchschnittlichen Schulleistungen bei der Lehrstellenwahl tendenziell schlechtere Berufsaussichten haben und die grössten Abstriche an ihren beruflichen Wunschvorstellungen hinnehmen müssen.von dieser Benachteiligung sind ausländische junge Frauen doppelt und dreifach betroffen. Zwischenlösungen und Begegnungen mit der Berufswelt notwendig Je niedriger die beruflichen Ambitionen sind, umso stärker greifen bei einer grossen Anzahl von Jugendlichen die Faktoren der Benachteiligung bezüglich einer erfolgreichen Berufsintegration. Diese Jugendlichen sind verstärkt auf alternative Zwischenlösungen angewiesen. Die bestehenden Angebote sind jedoch oft stark an schulische Leistungsfaktoren gebunden und somit gerade für diese Gruppe der benachteiligten Jugendlichen nicht oder kaum zu erreichen. 220 VHN 73 (2004) 2, 220 223

Auch im Kanton Basel-Landschaft existieren verschiedene Brückenangebote, welche auf die schulische Qualifikation abstellen. Zudem kommen die Anmeldetermine für die schulischen Brückenangebote im Frühjahr zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die benachteiligten Jugendlichen gerade erst mit der schmerzhaften Phase der «Desillusionierung» auseinanderzusetzen beginnen. Im Bereich der Vorlehren Baselland scheinen sogar einzelne Jugendliche die schulische Qualifikation zu meistern, drohen jedoch an fehlenden praktischen Ausbildungsplätzen zu scheitern. Es mangelt somit an Angeboten und Zwischenlösungen, bei denen die schulischen Aufnahmekriterien sekundären Charakter haben und primär der Aufbau eines informellen Netzwerkes und Informationen über offene Lehrstellen als entscheidende Erfolgskriterien bei der Lehrstellenvergabe gefördert werden. Der Lehrstellenvermittler des Kantons Basel-Landschaft weist in seinem Projektbericht 2003 darauf hin, dass sich eine erfolgreiche Berufsintegration über ein bis zwei Jahre hinziehen kann. 4 Positive Gründe dafür können unter anderem sein: die persönliche (Nach-)Reifung, die Klärung des Berufswunsches, der Berufseignung und der Berufsmotivation sowie die Aufarbeitung von Bildungsdefiziten. Wichtig sind in dieser Übergangszeit wirklichkeitsnahe Konfrontationen mit den Anforderungen der Berufswelt und gezielte Betriebspraktika und/oder Arbeitseinsätze. Wirtschaft leistet ihren Beitrag zur Lehrstellenförderung Das duale Ausbildungssystem erfordert eine genügende Anzahl von Ausbildungsplätzen. Ausbildungsplätze in genügendem Masse bereitzustellen, ist Aufgabe der Wirtschaft, wie sie zumeist über deren Verbände bzw. die Wirtschafts- und Handelskammern wahrgenommen wird. An den dabei entstehenden Kosten beteiligt sich beispielsweise der Kanton Baselland mit einem jährlichen Beitrag an den «Lehrstellenförderer» 5. Mit diesem Konzept zeichnet sich im Kanton Baselland ein kontinuierlicher Erfolg bei der Förderung bzw. Erhaltung von Ausbildungsplätzen und der Schaffung von neuen Ausbildungsformen wie etwa den Ausbildungsverbünden ab. Und letztlich bietet gerade die ausreichende Schaffung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen in dualen Ausbildungssystemen von Ausbildungsbetrieb und Berufschule eine optimale Gewähr für einen Lehrvertragsabschluss. Doch gerade in diesem Punkt reguliert sich der freie Arbeitsmarkt entsprechend den ökonomischen Regeln: Die Wirtschaft benötigt kompetente und leistungsfähige Berufsleute entgegen den Interessen benachteiligter Jugendlicher. Deshalb ist parallel zu den Bemühungen der Wirtschaft die staatliche «Jugendberufshilfe» zum Handeln aufgefordert. Schule stösst an Grenzen Mit den neuen schulischen und berufsbildenden Strukturen (Reformen) und der anhaltenden wirtschaftlichen Baisse entstehen Tendenzen, die Aufgaben der «Jugendberufshilfe» stärker an die Schule zu delegieren. Deshalb ist festzuhalten, dass die Schule ihren Beitrag an die Berufsintegration leistet. Lehrkräfte, die sich mit der Arbeitswelt und deren Eigenschaften vertieft auseinandersetzen, über ein breites Beziehungsnetz verfügen und sich für die Schülerinnen und Schüler engagieren, sind neben dem familiären Umfeld der Ausbildungssuchenden der wichtigste Faktor für eine erfolgreiche Berufsfindung. Die Schule hat jedoch gleichzeitig den Bildungsauftrag für eine breite Gruppierung von Schülerinnen und Schülern sicherzustellen und ist deshalb bei sozialisierenden Aufgaben VHN 73 (2004) 2, 220 223 221

gegenüber dem Einzelnen eingeschränkt. Hier bedarf es ergänzender ausserschulischer bzw. sozialpädagogischer Angebote wie beispielsweise «job factory», «Tischlein deck dich» und «last minute» im Kanton Basel-Stadt oder «wie weiter?» und die «Lehrstellenvermittlung» im Kanton Basel-Landschaft. Übergang von der Schule in die Berufswelt 222 VHN 73 (2004) 2, 220 223

Anmerkungen: 1 Möglicherweise führte dieser Umstand in der Vergangenheit dazu, dass die so genannten «wirklich» schulisch Schwachen als Zielgruppe seit längerem erkannt sind und für sie entsprechende Unterstützungsangebote zur Berufsintegration auf Schulebene (Werkjahr, Brückenangebote), durch die IV (geschützte Arbeitsplätze) oder durch Beratungsstellen der Jugendhilfe (Jugendamt, Jugendsekretariat) geschaffen wurden. 2 Haeberlin, U.; Imdorf, Ch.; Kronig, W.: Schulqualifikation und Erfolg bei der Lehrstellensuche. Weshalb schweizerische sowie männliche Jugendliche bei der Lehrstellensuche erfolgreicher sind als ausländische sowie weibliche Jugendliche. Kurzbericht. Dezember 2003. NFPN 43. Freiburg/Schweiz (Heilpädagogisches Institut der Universität). 3 Auch die Studienergebnisse belegen deutlich, wie sich die geschlechtsspezifische Benachteiligung von jungen Frauen über alle Fragen der beruflichen Integration durchgehend auswirken. 4 Vgl. Borer, M.: «Junior Job Service» 2003. Ein Projekt zur Lehrstellenvermittlung von schwächeren bzw. benachteiligten Jugendlichen. Coaching und Mentoring von Lehrstellen suchenden Jugendlichen. Liestal (Amt für Berufsbildung und Berufsberatung Baselland) 2003. Unveröffentl. Bericht. 5 Direkte staatliche Eingriffe oder Regulierungen im Lehrstellenmarkt, wie sie z.b. mit der Lehrstelleninitiative gefordert wurden, sind von der Wirtschaft weniger erwünscht und werden mehrheitlich abgelehnt. Anschrift des Verfassers: Marcel Borer Dipl. Sozialpädagoge/Supervisor Gassacker 25 CH-4446 Bukten BL E-Mail: marcel.borer@bluewin.ch Fachgruppe BBT Basel-Stadt Begleitetes Besuchsrecht in einem Besuchstreff Empfehlungen für zuweisende soziale Fachstellen 1 1. Ziele Die Inanspruchnahme des begleiteten Besuchsrechts in einem Besuchstreff hat den Charakter eines vorübergehenden Angebotes und dient einer positiven Beziehungsentwicklung zwischen Eltern und Kind. Mit der Durchführung begleiteter Besuchstage sollen insbesondere folgende Ziele erreicht werden: Schaffung eines Klimas zum Schutze und zum Wohlergehen des Kindes, Aufrechterhaltung oder (Wieder-)Anbahnung sowie Pflege und Entwicklung der Beziehung zwischen dem Kind und dem besuchsberechtigten Elternteil, Entspannung und Entwicklung von Vertrauen zwischen den Eltern sowie eine verbesserte kindbezogene Zusammenarbeit, Hinführung zur selbständigen und eigenverantwortlichen Ausübung des Besuchsrechts, Gewährung des bestmöglichen Schutzes des Kindes vor Gewalt, sexuellen Übergriffen und bei Entführungsgefahr etc., Förderung des Austausches von Betroffenen, Hilfe zur Selbsthilfe. 2. Zielgruppe Die Zielgruppe der begleiteten Besuchstage unter Aufsicht von Fachleuten sind Kinder und deren getrennt lebende, geschiedene oder allein erziehende Eltern, bei welchen in der Ausübung des Besuchsrechts mit Schwierigkeiten zu rechnen ist. VHN 73 (2004) 2, 223 227 223

Die Eltern nehmen das Angebot auf Weisung des Zivilgerichts oder der Vormundschaftsbehörde, auf Empfehlung einer sozialen Beratungsstelle oder aus eigener Initiative in Anspruch. Begleitete Besuchstage sind insbesondere in Situationen angezeigt, wenn: für das Kind unzumutbare Spannungen im Zusammenhang mit der Ausübung des Besuchsrechts entstehen, das Kind vor Gewalt geschützt werden muss, eine Entführung in Betracht gezogen werden muss, Hinweise dafür bestehen, dass die sexuelle Integrität des Kindes im Zusammenhang mit dem Besuchsrecht gefährdet ist, ein Elternteil Suchtprobleme (Alkohol, Medikamente, Drogen) oder psychische Auffälligkeiten zeigt oder die Ausgestaltung des Besuchstages zu Hilflosigkeit führt, z.b. bei gänzlich fehlendem Kontakt oder bei längerer Kontaktunterbrechung zum besuchsberechtigten Elternteil, oder ausnahmsweise, wenn für die Besuchswahrnehmung die geeigneten Räumlichkeiten fehlen. 3. Kein begleitetes Besuchsrecht ohne kontinuierliche Beratung der Eltern 3.1 Das begleitete Besuchsrecht als behördlich angeordnete Massnahme Wird durch die Vormundschaftsbehörde ein begleitetes Besuchsrecht in einem Besuchstreff angeordnet, ist zu prüfen, ob gleichzeitig eine (Besuchsrechts-) Beistandschaft gemäss Art. 308 Abs. 1 und 2 ZGB errichtet werden soll. Der Beschluss geht in Kopie an die Koordinationsstelle. Mit der Errichtung der Beistandschaft ist eine kontinuierliche Beratung der Eltern sowie eine flankierende Beratung des Kindes zu verbinden. Der Wechsel in der Person des Beistands/der Beiständin sowie die Aufhebung der Beistandschaft ist der Koordinationsstelle mitzuteilen. Im Beschluss sind festzuhalten: die Festlegung der Häufigkeit der Besuche auf zweimal im Monat (entsprechend den konzeptionellen Rahmenbedingungen des Besuchstreffs), im Regelfall die Befristung der begleiteten Besuchstage auf höchstens ein Jahr, wenn nichts anderes verfügt worden ist, die Kostentragung, die Umschreibung der Aufgaben des Beistands bzw. der Beiständin. Eltern und Kind sind auf die begleiteten Besuchstage im Besuchstreff durch den Beistand/die Beiständin entsprechend vorzubereiten. 3.2 Das begleitete Besuchsrecht auf freiwilliger Grundlage Beruht die begleitete Übergabe oder die Ausübung des begleiteten Besuchsrechts auf sog. freiwilliger Grundlage durch Vereinbarung der Eltern, so ist auch in diesen Fällen eine fachliche Beratung und Hilfestellung im Hinblick die Zielerreichung durch die empfehlende soziale Fachstelle (AKJS, FaBe, KJUP) zu gewährleisten und eine verbindliche Frist für die Überprüfung der Massnahme mit den Eltern hinsichtlich ihrer Beendigung, Fortführung oder Modifikation festzulegen. Eine Kopie der Zielvereinbarung unter Angabe der vorgesehenen Dauer und Bezeichnung der zuständigen Beratungsperson sowie ein allfälliger Wechsel in der Zuständigkeit sind der Koordinationsstelle mitzuteilen. Die blosse Empfehlung für eine begleitete Übergabe oder die Inanspruchnahme eines begleiteten Besuchsrechts im Besuchstreff ohne kontinuierliche Beratung durch eine soziale Fachstelle genügt nicht. 3.3 Das begleitete Besuchsrecht als vorsorgliche Massnahme Wird das begleitete Besuchsrecht als vorsorgliche Massnahme angeordnet, so 224 VHN 73 (2004) 2, 223 227

ist abzuklären, ob die Sistierung des Prozesses bzw. des Kindesschutzverfahrens für die Dauer des begleiteten Besuchsrechts notwendig bzw. sinnvoll ist. 3.4 Überprüfung der Massnahme vor Fristablauf Das durch die Vormundschaftsbehörde angeordnete oder durch eine soziale Fachstelle empfohlene begleitete Besuchsrecht in einem Besuchstreff erfordert die Überprüfung der Massnahme hinsichtlich ihrer Beendigung, Fortsetzung oder Modifikation durch die beratende Fachperson vor Ablauf der von der zuweisenden sozialen Fachstelle festgelegten Frist. Dies gilt auch für eine behördlich angeordnete begleitete Übergabe des Kindes an den besuchsberechtigten Elternteil. Die Beendigung oder Fortsetzung der begleiteten Besuchstage bedarf eines neuen Beschlusses durch die anordnende Behörde. 4. Begleiterinnen und Begleiter im Besuchstreff Das Begleitteam des Besuchstreffs setzt sich aus fachlich qualifizierten und beruflich erfahrenen Männern und Frauen zusammen. Das Begleitteam begegnet den Eltern und Kindern offen und vorurteilsfrei und ermöglicht Eltern-Kind-Kontakte in einer kinderfreundlichen Atmosphäre. Die Begleitpersonen intervenieren, wenn der besuchsberechtigte Elternteil die übliche Distanz gegenüber dem Kind nicht beachtet, oder sie beenden den Besuch, wenn die Situation dies gebietet. Das Begleitteam führt eine Statistik über Anwesenheit, entschuldigte oder unentschuldigte Abwesenheit des besuchsberechtigten Elternteils und/oder des Kindes. Besondere Vorkommnisse werden der Koordinationsstelle mitgeteilt. Hinsichtlich der Beendigung der begleiteten Besuchstage im Besuchstreff verweist das Begleitteam die Eltern an die zuständige soziale Fachstelle. Über besondere Vorkommnisse, die das Kindeswohl beeinträchtigen, gibt die Koordinationsstelle der anordnenden Stelle Auskunft. 5. Koordinationsstelle Die Koordinationsstelle ist verantwortlich für die Administration und sichert den Kontakt gegenüber den zuweisenden Stellen. Sie nimmt die schriftliche Anmeldung sowie telefonische Abmeldung im Verhinderungsfall entgegen und leitet diese an das Begleitteam weiter. Die Koordinationsstelle gibt den Eltern Auskunft über die Besuchsdaten, den Besuchstreff und die Strukturen. Hinsichtlich Beendigung oder Fortführung der begleiteten Besuchstage enthält sie sich jeglicher Stellungnahme. Sie informiert die zuweisenden Stellen lediglich über die Wahrnehmung oder Nicht-Wahrnehmung der begleiteten Besuchstage sowie über besondere Vorkommnisse und die Gründe eines allfälligen Ausschlusses. 6. Fachgruppe Die Fachgruppe setzt sich aus kompetenten Vertreterinnen und Vertretern involvierter staatlicher und nicht staatlicher Stellen sowie der Bezirkskommission Basel-Stadt zusammen. Sie berät und unterstützt die Koordinationsstelle und das Begleitteam bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sowie in konzeptionellen Fragen. VHN 73 (2004) 2, 223 227 225

Mitglieder der Fachgruppe BBT Basel-Stadt Claude Ammann, dipl. Sozialarbeiter, Sozialdienst der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitäts- und-poliklinik Basel (KJUP) Lic. phil. Heinz Hermann Baumgarten, ehem. Leiter des Jugendamtes Basel- Stadt, Mitglied der Bezirkskommission pro juventute Basel-Stadt Dr. phil. Jacqueline Frossard, Fachpsychologin FSP, Chefin Sozialdienst Kantonspolizei Basel-Stadt Lic. phil. Dorothea Gautschin, Psychologin, Professorin an der Hochschule für Pädagogik und Soziale Arbeit beider Basel (HPSA-BB) Maria Herter, dipl. Sozialarbeiterin, Familien- und Erziehungsberatung Basel-Stadt (FaBe) Christoph Katzenmaier, dipl. Sozialarbeiter, Abt. Kindes- und Jugendschutz (AKJS) der Vormundschaftsbehörde Basel-Stadt Lic. iur. Bruno Lötscher-Steiger, Zivilgerichtspräsident Basel-Stadt Elisabeth Rudin-Schaffner, dipl. Pädagogin, Leiterin der Geschäftsstelle pro juventute Basel-Stadt Gabi Zenhäusern Baumann, dipl. Sozialpädagogin, Projektberaterin pro juventute 7. Trägerschaft Die Trägerin der Begleiteten Besuchstage im Besuchstreff ist die pro juventute Basel-Stadt. Sie stellt das Personal ein und ist verantwortlich für die Qualitätssicherung und die Öffentlichkeitsarbeit. Sie ist zugleich die Beschwerdeinstanz bei Problemen der Eltern mit der Koordinationsstelle oder mit den Begleiterinnen und Begleitern des Besuchstreffs. 8. Gesetzliche Bestimmungen UNO-Kinderrechtskonvention (UKRK) Artikel 9 3 Die Vertragsstaaten achten das Recht des Kindes, das von einem oder beiden Elternteilen getrennt ist, regelmässige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen, sofern dies nicht dem Kindeswohl widerspricht. Eidgenössische Bundesverfassung (BV) Artikel 11 Schutz der Kinder und Jugendlichen 1 Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. 2 Sie üben ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit aus. Artikel 41 1 Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein, dass: b. jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält; c. Familien als Gemeinschaften von Erwachsenen und Kindern geschützt und gefördert werden; g. Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu selbstständigen und sozial verantwortlichen Personen gefördert und in ihrer sozialen, kulturellen und politischen Integration unterstützt werden. Schweizerisches Zivilgesetzbuch (ZGB) Artikel 273 D. Persönlicher Verkehr 1. Eltern und Kinder 1. Grundsatz 1 Eltern, denen die elterliche Sorge oder Obhut nicht zusteht, und das unmündige Kind haben gegenseitig Anspruch auf angemessenen persönlichen Verkehr. 226 VHN 73 (2004) 2, 223 227

2 Die Vormundschaftsbehörde kann Eltern, Pflegeeltern oder das Kind ermahnen und ihnen Weisungen erteilen, wenn sich die Ausübung oder Nichtausübung des persönlichen Verkehrs für das Kind nachteilig auswirkt oder wenn eine Ermahnung oder eine Weisung aus anderen Gründen geboten ist. 3 Der Vater oder die Mutter können verlangen, dass ihr Anspruch auf persönlichen Verkehr geregelt wird. Artikel 274 2. Schranken 1 Der Vater und die Mutter haben alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Aufgabe der erziehenden Person erschwert. 2 Wird das Wohl des Kindes durch den persönlichen Verkehr gefährdet, üben die Eltern ihn pflichtwidrig aus, haben sie sich nicht ernsthaft um das Kind gekümmert oder liegen andere wichtige Gründe vor, so kann ihnen das Recht auf persönlichen Verkehr verweigert oder entzogen werden. 3 Artikel 275 III. Zuständigkeit 1 Für Anordnungen über den persönlichen Verkehr ist die Vormundschaftsbehörde am Wohnsitz des Kindes zuständig und, sofern sie Kindesschutzmassnahmen getroffen hat oder trifft, diejenige an seinem Aufenthaltsort. 2 Teilt das Gericht nach den Bestimmungen über die Ehescheidung und den Schutz der ehelichen Gemeinschaft die elterliche Sorge oder die Obhut zu, oder hat es über die Änderung dieser Zuteilung oder des Unterhaltsbeitrages zu befinden, so regelt es auch den persönlichen Verkehr. 3 Bestehen noch keine Anordnungen über den Anspruch von Vater und Mutter, so kann der persönliche Verkehr nicht gegen den Willen der Person ausgeübt werden, welcher die elterliche Sorge oder Obhut zusteht. Anmerkung: 1 Verabschiedet von der Fachgruppe BBT Basel-Stadt am 2. Dezember 2003 und genehmigt von der pro juventute Basel-Stadt am 4. Februar 2004 Literatur: Amt für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich: Das begleitete Besuchsrecht als Spezialfall der Besuchsrechtsregelung. Empfehlungen für Gerichte, Vormundschaftsbehörden und Fachstellen. Zürich 1998. Bally, Christa: Die Anordnung des begleiteten Besuchsrechts aus der Sicht der Vormundschaftsbehörde. In: Zeitschrift für Vormundschaftswesen (ZVW) 53 (1998)1, 1 16. Bundesamt für Justiz, Zentralbehörde zur Behandlung internationaler Kindesentführung (N. Rusca, V. Clivaz, C. Schmid): Vorbeugende Massnahmen gegen Kindesentführungen ins Ausland. Hausheer, Heinz: Die drittüberwachte Besuchsrechtsausübung (das sogenannte «begleitete» Besuchsrecht) Rechtliche Grundlagen. In: Zeitschrift für Vormundschaftswesen (ZVW) 53 (1998) 1, 17 40. Pro Juventute, Fachstelle Begleitete Besuchstage: Handbuch für den Aufbau und den Betrieb eines Treffpunktes für Begleitete Besuchstage. Zürich 2001. Korrespondenzanschrift: Lic. phil. Heinz Hermann Baumgarten Ehem. Leiter des Jugendamtes Basel-Stadt Mitglied der Bezirkskommission pro juventute Basel-Stadt Äussere Baselstrasse 204 CH-4125 Riehen E-Mail: hh.baumgarten@freesurf.ch VHN 73 (2004) 2, 223 227 227