Stadt Bern Direktion für Bildung Soziales und Sport Betrug / Unrechtmässiger Sozialhilfebezug Zusammenfassung Macht die Klientel gegenüber dem Sozialdienst unrichtige oder unvollständige Angaben oder verschweigt sie Tatsachen und erhält sie dadurch unrechtmässig Sozialhilfeleistungen, so kann der Tatbestand von neu Art. 148a StGB/Art. 85 SHG 1 oder allenfalls sogar Betrug vorliegen. Der Sozialdienst klärt entsprechende Sachverhalte ab und reicht, sofern sich ein strafrechtlicher Verdacht erhärtet, eine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft ein. Betreffend bestimmter Delikte besteht zudem eine Anzeigepflicht des Sozialdienstes. Rechtliche Grundlagen Art. 8 Gesetz vom 11. Juni 2001 über die öffentliche Sozialhilfe (Sozialhilfegesetz, SHG), BSG 860.1 Art. 12, 97, Art. 109 und Art. 146, 148a und Art. 251 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (StGB ), SR 311.0 Art. 115 ff. Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO), SR 312.0 Art. 30, Art. 48 Einführungsgesetz vom 11. Juni 2009 zur Zivilprozessordnung, zur Strafprozessordnung und zur Jugendstrafprozessordnung (EG ZSJ), BSG 271.1 BGE 127 IV 163 ff. Urteil des Bundesgerichtes 6B_22/2011 vom 23.05.2011 Urteil der 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 04.05.2010, SK-Nr. 2009 295 Materielle Regelung 1. Grundsatz 1.1 Unrechtmässiger Sozialhilfebezug Die Klientel, die jemanden durch unwahre oder unvollständige Angaben, durch Verschweigen von Tatsachen oder in anderer Weise irreführt oder in einem Irrtum bestärkt, sodass sie oder ein anderer Leistungen der Sozialhilfe bezieht, die ihr oder dem anderen nicht zustehen, macht sich strafbar. Der Schwindel kann dadurch erfolgen, dass die Klientel Einnahmen jeglicher Art nicht angibt, Vermögenswerte verheimlicht, versteckt oder beiseite schafft, Rech- 1 Art. 148a StGB ist die gesetzgeberische Umsetzung von Art. 121 Abs. 3-6 BV über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer. Inhaltlich stimmt die Bestimmung weitgehend mit Art. 85 SHG überein. Das Verhältnis der beiden Bestimmungen ist aktuell ungeklärt. Es stellt sich im Lichte des Art. 335 StGB insbesondere die Frage, inwieweit die ältere kantonale Bestimmung (Art. 85 SHG) von den Gerichten noch angewendet werden darf. Nachfolgend wird nur auf Art. 148a StGB Bezug genommen. Vorbehalten bleibt die Anzeigepflicht gemäss Art. 8 SHG (Ziff. 2.3)
nungen fälscht, falsche Angaben über die Lebensgemeinschaft und die Wohnverhältnisse macht, eine Krankheit vorspiegelt usw. Ist die vorsätzliche Täuschung vom Sozialdienst einfach aufzudecken oder sind die falschen Angaben ohne grösseren Aufwand zu überprüfen, wird das Verhalten der Klientel in der Praxis als unrechtmässiger Sozialhilfebezug gemäss Art. 148a StGB angesehen. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn die verschwiegenen Einkünfte aus einer Arbeitstätigkeit auf der bekannten Kontoverbindung ohne weiteres ersichtlich sind. Oder wenn auf den eingereichten Kontoauszügen ersichtlich ist, dass Gebühren für ein Wertschriftendepot oder für einen Safe bei der gleichen Bank abgezogen werden (Hinweis auf verschwiegene Vermögenswerte). Oder wenn auf den Kontoauszügen grössere Benzinbezüge auffallen (Hinweis auf den Besitz eines Fahrzeuges, welches eventuell einen Vermögenswert darstellt). Als unrechtmässiger Sozialhilfebezug kann auch passives Verhalten der Klientel gewertet werden, wenn die Klientel bewusst Einnahmen oder Vermögen verschweigt. Ein leichter Fall liegt vor, wenn die unrechtmässig bezogenen Sozialhilfeleistungen den Betrag von Fr. 3 000.-- nicht übersteigen 2. Bezüglich des Tatbestandes des unrechtmässigen Sozialhilfebezugs verjährt die Strafverfolgung mit Ablauf von sieben Jahren seit der Tatbegehung. In leichten Fällen ist die Verjährungsfrist drei Jahre. Es ist daher wichtig, dass der Sozialdienst den Sachverhalt rasch abklärt und meldet (Vorgehen siehe unten Punkt 2.), da im Zeitpunkt der Urteilsfällung durch das Gericht nicht mehr als drei Jahre seit der Tat vergangen sein dürfen. 1.2 Betrug Die Strafverfolgung bezüglich Betrugs verjährt im Gegensatz zum unrechtmässigen Sozialhilfebezug erst nach Ablauf von 15 Jahren seit der Tatbegehung. Damit ein Betrug im strafrechtlichen Sinne vorliegt, müssen folgende Merkmale kumulativ erfüllt sein: a) Täuschung Bedient sich die Klientel für die Täuschung gefälschter Rechnungen (falsche Mietzins- Einzahlungsscheine, falsche Arztrechnungen), eines falschen Arztzeugnisses, falscher Lohnbelege oder falscher Bilanzen (bei Selbständigerwerbenden), liegt ein Betrug im Sinne von Art. 146 StGB vor. Zudem kann solches Verhalten den Tatbestand der Urkundenfälschung gemäss Art. 251 StGB erfüllen. Ein Betrug liegt zudem dann vor, wenn die Klientel vom Sozialdienst aktiv gefragt wird, ob sich an ihrer Arbeits- und/oder Einkommens- und Vermögenssituation etwas geändert hat und die Klientel diese Frage falsch oder unvollständig beantwortet. Beides, sowohl die explizite Nachfrage als auch die entsprechende Antwort, muss der Sozialdienst im Strafverfahren nachweisen können. Für die Praxis der Sozialdienste bedeutet dies beispielsweise, dass bei der halbjährlichen Auswertung und Erarbeitung der Zusammenarbeit mit der Klientel ausdrücklich nachgefragt werden muss, ob sich an den finanziellen Verhältnissen etwas verändert hat. Die Frage muss zusammen mit der Antwort schriftlich festgehalten werden. Die Frage nach den finanziellen Verhältnissen kann auch anlässlich der regelmässigen Besprechungen auf dem Sozialdienst geklärt und in einer Besprechungsnotiz festgehalten werden. 2 Vgl. Empfehlungen des Vorstandes der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz betreffend die Ausschaffung verurteilter Ausländerinnen und Ausländer (Art. 66a bis 66d StGB) vom 7.9.2016.
b) Arglist Eine einfache Lüge ist nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht arglistig, sondern es braucht dafür eine qualifizierte Lüge. Qualifiziert ist die Lüge dann, wenn sie sich nicht ohne besondere Mühe überprüfen lässt, oder wenn die Überprüfung dem Getäuschten nicht zumutbar ist, oder wenn der Täter den Getäuschten von der Überprüfung abhält oder wenn der Täter aufgrund besonderer Umstände damit rechnet, dass der Getäuschte von einer Überprüfung absehen wird. Damit ein Betrug vorliegt, muss der Sozialdienst deshalb - zusätzlich zu den oben erwähnten Punkten - die ihm möglichen und zumutbaren Kontrollen durchgeführt haben, also beispielsweise die AHV-Kontoauszüge sowie die Bankkontoauszüge eingeholt und geprüft haben. Nur wenn all diese Punkte erfüllt sind, ist eine Verurteilung wegen Betrugs möglich. Kann nicht nachgewiesen werden, dass die Klientel die explizite Nachfrage nach den finanziellen Verhältnissen falsch beantwortet hat und sind auch keine Kontrollen gemacht worden, sind aber im relevanten Zeitraum die Zusammenarbeitsverträge unterzeichnet worden, ist einzig eine Strafanzeige wegen unrechtmässigen Sozialhilfebezugs möglich. c) Irrtum und Vermögensschaden Durch die falschen Angaben der Klientel wird der Sozialdienst in die Irre geführt. Auszahlungen, die der Sozialdienst infolge dieses Irrtums vornimmt, stellen einen Vermögensschaden des betroffenen Gemeinwesens dar. Die Klientel ist bereichert, weil sie auf die Leistung der finanziellen Hilfe keinen Rechtsanspruch hat. d) Vorsatz und Bereicherungsabsicht Strafbar macht sich - auch wenn alle oben erwähnten Punkte erfüllt sind - nur derjenige, dem auch bewusst ist, dass er falsche Angaben gegenüber dem Sozialdienst macht und dadurch wirtschaftliche Hilfe erhält, auf die er keinen Anspruch hat, und er beabsichtigt dies auch oder nimmt es zumindest in Kauf. Er handelt auch mit der Absicht, die Sozialhilfe zu erwirken, obschon er darauf mangels Voraussetzungen gar keinen Anspruch hätte. Zum Beispiel verheimlicht ein langjähriger Sozialhilfebezüger Einnahmen aus einer Arbeitstätigkeit, weil er mit diesen Mehreinnahmen seine Schulden bei Kollegen zurückbezahlen will. Hingegen ist nicht strafbar, wer beispielsweise pflichtwidrig Einnahmen verschweigt, weil der Betrag so gering ist, dass er irrtümlich davon ausgeht, dass sie unter den Einkommensfreibetrag fallen und er deshalb nicht verpflichtet ist, dem Sozialdienst diese Einnahmen zu melden. 2. Vorgehen und Zuständigkeiten 2.1 Sachverhaltsabklärung In gewöhnlichen, einfachen Fällen gemäss Art. 148a StGB mit geringfügigem Deliktsbetrag konfrontiert die/der Sozialarbeitende die Klientel mit den Vorwürfen und klärt den Sachverhalt ab. Über dieses Gespräch wird eine Besprechungsnotiz erstellt, die der betreffenden Person zur Unterschrift vorgelegt und bei einer Strafanzeige allenfalls als Beweismittel beigelegt wird. Bei einem qualifizierten Fall gemäss Art. 148a StGB (z.b. planmässiges Vorgehen, grosser Deliktsbetrag), bei Verdacht auf Betrug, Urkundenfälschung oder wenn es allenfalls grössere Geldbeträge sicherzustellen gilt, nimmt der oder die Sozialarbeitende selbst lediglich Grundab-
klärungen vor. Der Sozialdienst kann einen Abklärungsauftrag an ein Sozialinspektorat erteilen oder direkt Strafanzeige erstatten (vgl. Ziff. 2.2). 2.2 Einreichen einer Strafanzeige Kann der Sachverhalt auch mittels entsprechenden Abklärungen nicht genau geklärt werden und sind keine Beweismittel erhältlich (auch nicht mittels Inspektion), ist dies in einer Besprechungsnotiz festzuhalten. Kann der Sachverhalt (allenfalls mittels Inspektion) geklärt werden, versucht die/der fallführende Sozialarbeitende mit der Klientel eine entsprechende Rückerstattungsvereinbarung abzuschliessen. Kommt keine Rückerstattungsvereinbarung zustande, wird die Rückerstattung verfügt. Bestätigt sich bei der Klärung des Sachverhalts der Verdacht eines strafbaren Verhaltens, wird eine Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft erstellt. Darin hat der Sozialdienst den Sachverhalt möglichst präzis, aber auf das Wesentliche beschränkt, zusammenzufassen (insbesondere: seit wann und in welchem Umfang wird die Person unterstützt; worin bestand das täuschende Verhalten; wie und wann ist der Sozialdienst auf das fehlbare Verhalten aufmerksam geworden; wie hoch ist der dem Sozialdienst entstandene Schaden) und diesen zusammen mit den Beweismitteln (z.b. Lohnbelege; IK-Auszug; Kontoauszüge, Abrechnung, Rückerstattungsvereinbarung, unterzeichnetes Budget mit Belehrung über Auskunftspflicht, unterzeichnete Zusammenarbeitsverträge mit Hinweis auf Art. 28 Abs. 1 SHG etc.) an die Staatsanwaltschaft übermittelt. 2.3 Anzeigepflicht Personen, die sich mit dem Vollzug des SHG befassen, sind gemäss Art. 8 SHG zur Mitteilung an die Staatsanwaltschaft verpflichtet, wenn ihnen in ihrer amtlichen Tätigkeit konkrete Verdachtsgründe bekannt werden für: - ein von Amtes wegen zu verfolgendes Verbrechen, - ein von Amtes wegen zu verfolgendes Vergehen im Zusammenhang mit dem Bezug von Sozialhilfeleistungen, oder - eine Übertretung im Sinne von Art. 85 SHG, ausser wenn sie offensichtlich ungewollt erfolgte (siehe dazu Ziffer 1.1). Als Verbrechen gelten Taten, die mit Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind, also beispielsweise Betrug, Urkundenfälschung, Erpressung etc. Als Vergehen gelten Taten, die mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht sind, z.b. ungetreue Geschäftsbesorgung, Missbrauch von Lohnabzügen, Nötigung, Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht, Fälschung von Ausweisen, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte etc. Übertretungen sind Taten, die mit Busse bedroht sind. Eine Anzeigepflicht besteht nur bei der Übertretung nach Art. 85 SHG. 3. Kein strafrechtlich relevantes Verhalten In Fällen, in denen die Klientel zwar zu viel Leistungen bezogen hat und für diese rückerstattungs- pflichtig ist (unrechtmässiger Bezug), hingegen weder Betrug noch ein unrechtmässiges
Erwirken von Leistungen gegeben ist (z.b. wenn die Leistungen aufgrund eines nicht durch die Klientel verschuldeten Irrtums ausgerichtet wurden), wird keine Strafanzeige gemacht. 4. Privatklägerschaft bei Betrug In Fällen, in denen das Verhalten der Klientel die Voraussetzungen des Betrugs erfüllt, kann sich das geschädigte Gemeinwesen gemäss Strafgerichtspraxis als Privatkläger im Strafpunkt am Strafverfahren beteiligen, da es durch die strafbare Handlung unmittelbar in eigenen rechtlich geschützten Interessen verletzt worden ist. Der Privatkläger hat Parteirechte und kann Anträge stellen, Belege unterbreiten, einen Parteivortrag halten, Akteneinsicht nehmen, etc. Bezüglich des Tatbestandes der Widerhandlung gegen das Sozialhilfegesetz gemäss Art. 85 SHG war die Konstituierung als Privatkläger gemäss obergerichtlicher Rechtsprechung nicht möglich. Die Gerichtspraxis wird zeigen, ob dies auch für den Tatbestand des unrechtmässigen Sozialhilfebezugs gemäss Art. 148a StGB gilt. Das Sozialamt konstituiert sich nur bei Bedarf als Privatklägerin. Der Bedarf ist gegeben, wenn alternativ: - nur dadurch mittels Beweisanträgen finanzielle Aspekte geklärt werden können, welche im Zusammenhang mit einer Rückerstattung von Bedeutung sind oder - der Fall eine gewisse Brisanz (Aktualität des Themas) aufweist und von hohem öffentlichen Interesse ist. 5. Rückerstattung Parallel zu den strafrechtlichen Abklärungen wird in jedem Fall (unabhängig davon, ob eine Strafanzeige eingereicht wird oder nicht) das Rückerstattungsverfahren durchgeführt. Das Strafverfahren und die Rückerstattung gemäss Sozialhilfegesetz sind voneinander unabhängig. Falls der Sozialdienst über die Modalitäten der Rückerstattung keine Vereinbarung mit der Klientel erzielen kann, hat der Sozialdienst eine Rückerstattungsverfügung zu erlassen. Achtung: Der Rückerstattungsanspruch verjährt mit Ablauf eines Jahres, seit der Sozialdienst von der Entstehung des Anspruchs Kenntnis erhalten hat, für jede einzelne Leistung jedoch spätestens 10 Jahre nach deren Ausrichtung. Wird der Rückerstattungsanspruch aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für die das Strafrecht eine längere Verjährung vorschreibt, so gilt diese auch für den Rückerstattungsanspruch. 6. Weiterführende Stichwörter: Rückerstattungspflicht Von der Sozialhilfekommission der Stadt Bern beschlossen am 11. Januar 2017 Inkraftsetzung per 1. April 2017 (Ersetzt die Version vom 18. Juni 2014) Sozialhilfekommission P. E. Neuhaus, Präsidentin