Günter Becker. Kohlberg und seine Kritiker

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Transkript:

Günter Becker Kohlberg und seine Kritiker

Günter Becker Kohlberg und seine Kritiker Die Aktualität von Kohlbergs Moralpsychologie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten VS Verlag für Sozialwissenschaften Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Julia Klös Eva Brechtel-Wahl VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfälti gungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinn e der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17647-5

Inhaltsverzeichnis Vorwort... 11 Einleitung... 15 1 Der Einfluss von Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung... 37 1.1 Grundfragen der entwicklungspsychologischen Moralforschung... 37 1.2 Die Dominanz von KohIbergs Theorie in den 1970er Jahren... 44 1.3 Der wachsende Einfluss der Kohlberg-Kritik seit den 1980er Jahren... 51 1.4 Ein integrativer Bezugsrahmen für die Diskussion der Kohlberg-Kritik... 61 2 Zu Piagets Stufen des Gerechtigkeitsurteils zurück? Am Piaget- Ansatz orientierte Kritik... 77 2.1 Die 1950er Jahre: Kohlbergs Bemühungen um die Weiterentwicklung von Piagets Ansatz... 78 2.2 Piagets und Kohlbergs klinisches Interview... 82 2.3 Die Kritik an Kohlbergs Urteilsstufen durch Siegal... 90 2.3.1 Die Stufen 3, 4, 5 und 6 als Stufen des Jugendalters... 90 2.3.2 Die Stufen 1 und 2 als Stufen der Kindbeit... 96 2.4 Neuere Versuche der Integration von Kohlbergs und Piagets Theorien... 101 3 Umweltabhängiges statt einsichtiges Lernen als Motor der Entwicklung der Gerechtigkeitsmoral? Psychoanalytische und lemtheoretische Kritik... 133 3.1 Die I%Oer Jahre: Kohlbergs Frontstellung gegenüber der Psychoanalyse und der sozialen Lerntheorie... 138 3.2 Moral als Produkt von Triebunterdrückung: Henrys psychoanalytische Kritik... 141 3.3 Probleme der Abgrenzung Kohlbergs gegenüber der Psychoanalyse... 146 3.4 Neuere Versuche der Integration von Kohlbergs Theorie und psychoanalytischen Theorien... 153 3.5 Moral als Produkt sozialen Lernens: Die Kritiken der sozialen Lerntheoretiker Bandura, Hoffman, Maccoby und Mische!...... 157 3.6 Moral als Produkt einsichtigen Lernens: Die Forschung der Kohlberg- Schule... 169 3.6.1 Analysen der Urteilsstufen... 169 3.6.2 Analysen nicht-kognitiver Aspekte... 178

6 Inhaltsverzeichnis 3.7 Neuere Versuche der Integration von Kohlbergs Theorie und sozialen Lemtheorien... 183 4 Keine Fortschritte bei Erhebung und Auswertung des Gerechtigkeitsurteils? Psychometrische Kritik... 201 4.1 Die 1970er Jahre: KohIbergs Veränderungen seiner k!inischhermeneutischen Forschungsmethodik... 204 4.2 Probleme psychometrischer Verfahren: Defining!ssue Test und Sociomoral Reflection Measure... 216 4.3 Die Kritik von Kurtines und Greif an Kohlbergs urspriing1icher Forschungsmethodik... 219 4.4 Die wissenschaftstheoretische Kritik von Philipps und Nicolayev... 220 4.5 Probleme von Kohlbergs Forschungsmethodik in den 1970er Jahren... 222 4.6 Die gegenwärtige Kritik an Kohlbergs Forschungsmethodik... 243 4.7 Der persöniichkeitspsychologische Beitrag der psychometrischen Tradition zur Analyse der Entwicklung des Gerechtigkeitsurteils... 248 5 Starke Variabilität der Stufenwerte und geringe Überzeugungskraft der Stufe 6 des Gerechtigkeitsurteils? Kohlbergianische und neokohlbergianische Kritik.... 251 5.1 Die 1980er Jahre: Kohlbergs Annäherung an die einflussreichen Kritiker... 252 5.2 Starke Variabilität der Stufenwerte: Levines kohlbergianische Kritik... 254 5.2.1 Stufenvariationen beim Urteilen zum Moral Judgment Interview... 255 5.2.2 Stufenvariationen beim alltagsbezogenen Urteilen... 266 5.2.3 Variabilität der Inhaltsaspekte des Urteilens... 272 5.3 Geringe Überzeugungskraft der Stufe 6: Die neokohlbergianischen Kritiken von Gibbs, Locke und Rest... 284 5.4 Erweiterte Analyse der Entwicklung des Gerechtigkeitsurteils durch die sozialpsychologische Forschung... 297 6 Bereichsabhängige Geltung der Stufen des Gerechtigkeitsurteils? Kritik durch Bereichstheorien... 307 6.1 Die Eigenständigkeit des Urteilens zu Gerechtigkeitsfragen in Beziehungen und Gruppen: Haans Kritik... 307 6.2 Die Eigenständigkeit des Urteilens zu Fragen distributiver Gerechtigkeit: Damons Kritik... 309 6.3 Die Eigenständigkeit prosozialen Urteilens: Eisenbergs Kritik... 315 6.4 Die Eigenständigkeit des Urteilens zu Konventionen und persöniichen Angelegenheiten: Turie!s Kritik... 321

Inhaltsverzeichnis 7 7 Von sozialen Kontexten abhängige Geltung der Stufen des Gerechtigkeitsurteil.? Kritik durch.oziokulturelle Theorien... 339 7.1 Die soziale Umwelt ist komplex: Bronfenbrenners sozialökologische Kritik... 341 7.2 In der benachteiligten sozialen Klasse denkt man solidarisch: Die marxistischen Kritiken von Baumrind und Sullivan... 342 7.3 Frauen denken fürsorglich: Gilligans feministische Kritik... 350 7.4 In östlichen Kulturen ist kollektivistisches Denken vorherrschend: Die kulturpsychologischen Kritiken von Simpson und Shweder... 356 8 Geringer Einfluss der Stufen des Gerechtigkeitsurteils auf nichtkognitive Moralaspekte? Kritik durch Kohlberg-Anhänger und einflussreiche Theorietypen............. 365 8.1 Dialoge über Gerechtigkeitsfragen folgen eigenen Gesetzen: Osers Kritik... 366 8.2 Die Identität bestimmt das Handeln bei Gerechtigkeitsproblemen: Blasis Kritik... 369 8.3 Die Eigenständigkeit nicht-kognitiver Aspekte prosozialer Moral: Die Kritiken von Radke-Yarrow und Zahn-Waxler... 376 8.4 Die große Diskrepanz zwischen moralischem Urteilen und politischem Handeln: Die Kritik von Youniss... 384 9 Von bewu ter zu unbewu ter morali.cher Vernunft? Kritik durch neuere Ansätze... 387 9.1 Die Konstruktion moralischer Individualität durch Erzählungen: Der postmoderne Ansatz von Tappan... 388 9.2 Moral als Bündel von Tugenden: Seligmans moderne Variante einer Humanistischen Psychologie... 389 9.3 Moral als Intuition: Die Theorien der Informationsverarbeitung von Crick, Fehr, Hauser und Green... 390 9.4 Moral als Produkt von Evolution, Genen und Gehirn: Die biologischen Theorieansätze von de Waal, Krebs und Damasio... 394 9.5 Haidts neue Synthese in der Moralpsychologie... 397 10 Zu.ammenfa ung und Au.blick........... 403 Literaturve1"l:eichni... 409

Veneichnis der Tabellen Tab. 1.1 Typen von Pflichten... 38 Tab. 1.2 Fonnen moralischer Emotionen... 40 Tab. 1.3 Theorierichtungen in der gegenwärtigen Entwicklungspsychologie... 54 Tab. 2.1 Zusammenfassung der Ergebnisse Piagets in "Das moralische Urteil beim Kind"... 92 Tab. 2.2 KohIbergs Stufenbestimmung in der Dissertation... 95 Tab. 2.3 Inhaltsaspekte des kindlichen Gerechtigkeitsurteils: Beispiele für "Versprechen" und für die Handlungsentscheidung "Autorität" beim "Judy"-Dilemma... 99 Tab. 2.4 Entwicklungsstufen für zentrale Bereiche sozialer Kognition... 119 Tab. 2.5 Parallelen zwischen Ich-Entwicklung und deren Unterbereichen... 120 Tab. 3.1 Lemperts Systematisierung von Entwicklungsbedingungen moralischer Urteilsfähigkeit... 190 Tab. 4.1 Rests "Defining!ssue Test": "Heinz"-Dilemma... 217 Tab. 5.1 Längsschnittstudien zur moralischen Entwicklungssequenz... 266 Tab. 5.2 Moralische Typen - Allgemeine Kriterien... 278 Tab.5.3 Amerikanische Längsschnitt-Stichprobe - Prozentanteile der auf jeder Stufe nach dem Typus kodierten Interviews... 282 Tab. 6.1 Damons Beschreibung der frühen Stufen ("Niveaus") des distributiven Gerechtigkeitsurteils... 310 Tab.6.2 Eisenbergs Beschreibung der Stufen ("Niveaus") des prosozialen Urteilens... 317 Tab. 6.3 Turiels Beschreibung der Stufen des Urteilens zu Konventionen... 326 Tab. 7.1 Vesters Differenzierung zwischen verschiedenen Milieutraditionen... 346 Tab. 9.1 Haidts Unterscheidung von fünf Formen intuitiver Ethik... 398

Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1.1 Kompetenzorientiertes Verlaufsmodell moralischen Handelns... 64 Abb. 1.2 Erweitertes Verlaufsmodell moralischen Handelns... 69 Abb. 1.3 Bedingungen und Resultate der Moralentwicklung... 71 Abb. 3.1 Die Internalisierung fördernde Aspekte elterlicher Disziplinieruogsmethoden... 199 Abb. 4.1 Verteilung des Stufengebrauchs... 239 Abb.8.1 KohIbergs Modell moralischen HandeIns... 371 Abb.8.2 Eisenbergs heuristisches Modell prosozialen HandeIns... 380

Vorwort Der amerikanische Psychologe Lawrenoe Kohlberg hat seit Ende der 1950er Jahre über mehr als 30 Jahre hinweg die Entwicklung von Moral untersucht 1987 setzte KohIberg seinem Leben selbst ein Ende - als Folge einer unheilbaren Virusinfektion, die er sich schon Ende 1971, Anfang 1972 bei einer Forschungsreise nach Mittelamerika zugezogen hatte, war er oft arbeitsunfähig und litt unter schweren Depressionen. Bis zu seinem Tode veröffentlichte er trotz starker gesundheitlicher Beeinträchtigungen eine Vielzahl von Arbeiten zur Moralentwicklung und fand mit diesen Arbeiten große Resonanz; viele Wissenschaftler führten und führen seine Forschungen weiter. Sein Einfluss beschränkte sich nicht auf die entwicklungspsychologische Moralforschung, sondern erstreckte sich auch auf die Moralforschung in anderen psychologischen Teildisziplinen (z.b. in Sozial- und Persönlichkeitspsychologie) sowie in weiteren Disziplinen, insbesondere Soziologie, Philosophie und Pädagogik. Insgesamt war er der einflussreichste Moralpsychologe, darüber hinaus einer der einflussreichsten Psychologen. Kohlbergs Arbeiten stießen jedoch seit Ende der l%oer Jahre auch auf scharfe und vielgestaltige Kritik. Sein Untersuchungsansatz wurde im internationalen Raum und in Deutschland zwar häufig dargestellt, fruchtbar gemacht und kritisiert, jedoch fehlen solche Analysen der Forschung dieses Ansatzes (der "Kohlberg-Forschung") sowie der Kohlberg-Kritik, die systematisch angelegt und forschungsgeschichtlich ausgerichtet sind: 1981, also etwa 20 Jahre nach Beginn der Kohlberg-Forschung und etwa zehn Jahre nach Beginn der KohIberg Kritik, setzte sich Fritz Oser, ein Pädagogischer Psychologe und Erziehungswissenschaft\er aus der Schweiz, in einem Artikel mit der Kritik insbesondere aus den angelsächsischen Ländern auseinander (Oser 1981a). Darin verteidigt er den Ansatz gegenüber Einwänden, indem er Missverständnisse in der Rezeption identifiziert und dessen Fruchtbarkeit betont. 1983 veröffentlichte Lutz H. Eckensberger, ein deutscher Entwicklungs- und Kulturpsychologe, einen Überblicksartikel über die entwicklungspsychologische Moralforschung im deutschsprachigen Raum seit 1975, wobei er die Kritik an Kohlbergs Perspektive in den Vordergrund rückt (Eckensberger 1983). In. Anknüpfung an die Kritiker benennt Eckensberger zentrale Probleme dieser Perspektive. Danach wurden im internationalen Raum und in Deutschland keine systematisch angelegten Diskussionen der Kohlberg-Kritik mehr publiziert. Differenzierte Überblicke über die Kohlberg-Forschung fehlen gänzlich. Darüber hinaus gab es keine Analysen der entsprechenden forschungsgeschichtlichen Aspekte. Das vorliegende Buch sucht diese Lücken zu schließen. Es zieht eine Bilanz von mehr als 50 Jahren Kohlberg-Forschung und von mehr als 40 Jahren Kohlberg-Kritik. Ziel ist es einerseits (wie bei Oser), Missverständnisse in der Rezeption der Kritiker zu benennen und ihnen gegenüber die Fruchtbarkeit der theoretischen Konzepte KohIbergs, seiner Methoden und empirischen AnnaIunen aufzuzeigen - das Buch wendet sich explizit gegen den derzei-

12 Vorwort tigen Trend, seine Untersuchungsperspektive in den Bereich der Forschungsgeschichte abzuschieben, also als veraltet zu bewerten. Andererseits sollen (wie bei Eckensberger) in Anknüpfung an die Kritiker zentrale Probleme der Perspektive aufgezeigt werden - verschiedene Einwände lassen sich für ihre Weiterentwicklung fruchtbar machen. Ein integratives psychologisches Modell der Moral und ihrer Entwicklung wird entsprechend formuliert. Die Abhandlung ist nicht nur systematisch angelegt, sondern rekonstruiert auch EntwicklungsIinien der Kohlberg-Kritik und der Kohlberg-Forschung. Die Schrift stellt folglich eine Art Kompendium dar. Im Unterschied zu anderen neueren Überblicksarbeiten zur Moralpsychologie stehen hier die Konsequenzen der verschiedenen Forschungsbemühungen für KohIbergs Position im Vordergrund. In einem Buchmanuskript habe ich die Entwicklungslinien der Moralforschung in den verschiedenen Teildisziplinen der Psychologie aufgezeigt; dieser Text hat eher einführenden Charakter (Becker 201Oa). Die Moraldiakussion in der vorwiegend von Soziologen betriebenen Sozia1isationsforschung wurde in einem Artikelmanuskript erörtert (Becker 201Ob). Die Bemühungen um die pädagogische Förderung moralischer Fähigkeiten waren Gegenstand einer Buchpublikation, wobei hier zusätzlich Fragen der pädagogischen Förderung sozialer und demokratischer Fähigkeiten behandelt worden sind (Becker 2008). Die vorliegende Abhandlung richtet sich vor allem an MoraHorscher sowie an Leser, die an Fragen der Moral und ihrer Untersuchung interessiert sind. Psychologen (z.b. Entwicklungspsychologen), Soziologen (z.b. Sozialisationsforscher), Erziehungswissenschaftler (z.b. in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft tätige Personen), Philosophen (z.b. Moralphilosophen) und Studenten der vier Fächer sind die hauptsächlichen Adressaten. Die Schrift präsentiert unter anderem auch die zentralen Ergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projekts "Kohlberg-Rekonstruktion", das am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin zwischen 1988 und 1992 durchgeführt wurde (vgl. Reuss/Becker 1996; Teo/BeckerlEdelstein 1995). Projektleiter war Siegfried Reuss, Antragsteller des Projekts waren Wolfgang Edelstein und Monika Keller. Zehn Jahre nach dessen Ende reichte ich bei der Freien Universität Berlin im Fach "Erziehungswissenschaft" eine Dissertation zur Kohlberg-Kritik in der Moralpsychologie ein (vgl. Becker 2002); Erstgutachter war Dieter Geulen, Zweitgutachter war Wollgang Edelstein. Die Schrift geht von diesem Text aus, allerdings geht sie in erheblichem Maße über ihn hinaus. Ich möchte den folgenden Personen für ihre (direkte oder indirekte) Arbeit am Manuskript herzlich danken. Dieter Geulen danke ich insbesondere dafür, dass er mich während des Studiums an der Freien Universität Berlin immer sehr kompetent begleitet hat, und dass er mit seiner wohlwollenden Haltung und verlässlichen Unterstützung dazu beitrug, dass ich ein Stück weit mehr an mich selbst glaubte. Seine Lehrveranstaltungen zu Fragen der Sozialisation, d.h. der gesellschaftlichen Beeinflussung individueller Entwicklung, boten die Möglichkeit, im Ralunen des erziehungswissenschaftlichen Studiums auch meinen Interessen für Psych<>logie, Soziologie und Philosophie nachzugehen. Er hat mir in meinen Holzkamp' schen Zeiten die Augen für die Bedeutung der Positionen von Habermas und - damit zusammenhängend - von Kohlberg geöffnet. Das von ihm in den 1970er Jahren ausgearbei_ handlungstheoretische Modell eines sozialisierten, "vergesellschafteten" Subjekts finde ich auch heute noch fruchtbar. Die entwicklungstheoretischen Überlegungen in seinem 2005 erschienenen

Vorwort 13 Buch "Subjektorientierte Sozialisationstheorie" sind für die Morallorschung höchst relevant. An sein Subjekbnodell und seine entwicklungstheoretischen Überlegungen knüpfe ich im vorliegenden Text an. Außerordentlichen Dank schulde ich meinem langjährigen Arbeitskollegen Siegfried Reuss, der 2005 leider allzu früh verstarb. Über viele Jahre hinweg (seit 1988, dem Beginn des DFG-Projekts "Kohlberg-Rekonstruktion") haben wir uns in zahllosen Diskussionen über KohIberg und Kohlbergs Kritiker ausgetauscht. Er hall mir dabei, die philosophischen Grundlagen der moralpsychologischen Forschung besser zu verstehen und einen eigenen moralpsychologischen Standpunkt zu finden. Mit der ihm eigenen Akribie las er mehrere Versionen des umfangreichen Textes und kommentierte sie sehr hilfreich. Er hatte auf das Buch den größten Einfluss; manche seiner Gedanken stecken darin. Seine philosophische Reflektiertheit, sein analytisch scharfsinniges, dilierenziertes und lebendiges Denken, seine kritische Stimme, seine deutliche Offenheit und seinen Zuspruch vermisse ich. Wolfgang Edelstein danke ich vor allem dafür, dass er mir während meines Aufenthalts am MPm hall, mein anfangs reichlich hilfloses Herumirren in KohIbergs komplexem Forschungsansatz allmählich zu überwinden, dass er immer wieder für ein Gespräch über Kohlberg und über dessen Kritiker bereit war, dass er gegen manche meiner Vorstellungen nachdrücklich Einspruch erhob (gerade wenn sie zu heftig gegen KohIberg gerichtet waren) und dass er den Text der Dissertation sehr kenntnisreich, sensibel und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen - insgesamt vorbildlich - kommentiert hat. Wie Siegfried Reuss las er mehrere Versionen des Buchmanuskripts. Er unterstütze mich auch dabet Zugang zu Kohlbergs Moralpädagogik zu finden und deren Potenzial für die "Demokratiepädagogik" zu erkennen, zu deren Begründung er maßgeblich beigetragen hat. Monika Keller gebührt Dank für die zeitweilige Einbindung in die um Fragen der entwicklungspsychologischen Moralforschung kreisenden Diskussionen ihrer Arbeitsgruppe am MPm. Insbesondere an die von ihr und ihrem Ehemann Wolfgang Edelstein formulierte Kritik an KohIbergs Konzept präkonventionellen Urteilens und an deren Analyse nichtpräskriptiver moralischer Kognitionen (z.b. des Verständnisses von Gefühlen) habe ich angeknüpft. Wolfgang Lempert, ebenfalls am MPm tätig, hat den Dissertationstext sorgfältig und konstruktiv kommentiert. Er bat mich über die Jahre hinweg immer wieder um eine Stellungnahme zu seinen eindrucksvollen Texten, was mir die Gelegenheit bot, seine moralpsychologische sowie moralsoziologische, sozialisationstheoretische, berufspädagogische und hochschuldidaktische Position genauer kennen zu lernen. Vor allem an seine kohibergkritische Perspektive auf die sozialen Entwicklungsbedingungen moralischen Urteilens sowie auf das konventionelle und postkonventionelle Urteilen habe ich angeknüpft. Klaus Beck wies in überzeugender Weise auf Mängel meiner Darstellung seiner Position im Buchmanuskript hin. Die von ihm und seiner Mainzer Arbeitsgruppe im Ra1unen eines DFG-Projekts formulierte Kritik an KohIbergs Stufenkonzept ist eine vorbildliche Form der kritischen Auseinandersetzung mit dem Kohlberg-Ansatz; dieser Ansatz wird von ihm im Kontext der Wirtschaftspädagogik in erfrischender Weise fruchtbar gemacht. Zudem hat er mich in Zeiten der Arbeitslosigkeit durch die kompetente und verlässliche Kommentierung verschiedener Versionen von Projektanträgen für die DFG unterstützt.

14 Vorwort Gertrud Nunner-Winkler, tätig zunächst an dem in Starnberg angesiedelten, unter anderem von Habermas gelei_n Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt und anschließend an dem in München angesiedelten Max-Planck-Institut für psychologische Forschung, übte überzeugende Kritik an meiner Darstellung ihres Ansatzes im Buchmanuskript. In ihren Arbeiten lenkt sie die Aufmerksamkeit nachdrücklich und in fruchtbarer Art auf die soziologischen Dimensionen moralpsychologischer Problemstellungen. Ihre Texte haben zur Klärung meiner moralpsychologischen Grundposition maßgeblich beigetragen; insbesondere die Analysen der Sozialisation moralischer Motivationen sowie des Verhältnisses von Geschlecht und moralischem Urteil waren erhellend. Heinz Schirp, der über viele Jahre hinweg am Landesinstitut für Schule in Nordrhein Westfalen arbei_ und sich vor allem mit Fragen der Weiterentwicklung von Curricula, Unterricht und Schule beschäftigt, danke ich dafür, dass er mir aus pädagogischer Perspektive einen Sinn für die Bedeutung intuitionistischer und neurobiologischer Positionen vermittelte. Ein herzliches Dankeschön geht an die Mitteilnehmer eines Kurses für Personen über 50 Jahre, der Anfang dieses Jahres in der Einrichtung "Bildung, Förderung, Beratung" (BFB) in Landau/Pfalz stattfand; stellvertretend seien Klaus Bindert, Reiner Burg, Salvatore Cavalera, Heinrich Dau.m, Roland Dausch, Patricia EngeL Beate Huber und Kurt Thürwächter genannt. In dem Kurs machte ich die schöne, auch moralpsychologisch bedeutsame Erfahrung, dass Menschen trotz vieler erlebter Ungerechtigkeiten und widriger Lebensumstände zu einer insgesamt solidarischen, harmonischen und sogar humorvollen Gruppe zusammenfinden können. Der gute Zusammenhalt war auch Ergebnis pädagogisch kompetenter Arbeit der Verantwortlichen des Kurses, nämlich von Klaus Böhm und MeItem Dörzapf, zudem von Viola Ka1f, die den Teilnehmern auf überaus menschliche und herzliche sowie sehr versierte Art sportliche Aktivitäten nahe brachte. Ganz großer Dank gebührt Johanna Kröber. Sie hat den Dissertationstext kompetent "auf den Computer gebracht" (anfangs war mir der Computer eine "fremde Welt"). Darüber hinaus hat sie diesen Text sowie Versionen des Buchtextes sowohl in formaler (sprachlicher) Hinsicht als auch in inhaltlicher Hinsicht kritisch kommentiert, und zwar in einer Weise, wie man es von einem sehr guten Wissenschaftler gewohnt ist: sachorientiert, scharfsinnig, akribisch, ungeschminkt und konstruktiv; dabei war sie, als studierte Ang1istin, mit der moralpsychologischen Literatur nicht vertraut. Bei der Erstellung der Druckvorlage des Manuskripts war sie ebenfalls behilflich, wobei sie weiterführende, überzeugende Textkritik übte. Die langjährige Zusammenarbeit mit ihr ist äußerst lehrreich und angenehm gewesen. Zu guter Letzt danke ich Kea Sarah Brahms vom VS Verlag für Sozialwissenschaften für die Bereitschaft, das Buch ins Verlagsprogramm aufzunehmen, sowie Eva Brechtel-Wahl für die kompetente Unterstützung bei dessen Fertigstellung. Für die inhaltlichen und formalen Mängel des Textes trage natürlich allein ich die Verantwortung. Aus Gründen der Lesbarkeit wird oft die männliche Form verwendet, obwohl männliche und weibliche Personen gleichermaßen gemeint sind. Englischsprachige Zitate wurden vorn Autor übersetzt. Heuchelheim-Klingen, im August 2011