Prävention von Missbrauch in Einrichtungen Prof. Dr. Mechthild Wolff, Hochschule Landshut Wolfsburg, 05.09.2012
Inhalt 1. Dynamiken des Machtmissbrauchs in Institutionen 2. Mindeststandards für Schutzkonzepte in Institutionen 3. Praxisreflexionen aus Implementationsprozessen
Vorbemerkung: und noch ein guter Grund für Prävention
Deutsche Traumafolgekostenstudie 2011: Traumafolgen durch Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch und Vernachlässigung jährlich rund 11 Milliarden Euro (Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel, Barmer GEK, Universitätsklinikum Ulm)
Berechnungsgrundlage: alle 15- bis 64-Jährigen aus dem Jahr 2009 Ergebnis: von 53,9 Millionen Deutschen dieser Altersgruppe waren 14,5 % von schwerer bis extremer Kindesmisshandlung, -missbrauch oder Vernachlässigung betroffen 1/5 der Betroffenen (1,6 Millionen) tragen Langzeitfolgen davon (Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel, Barmer GEK, Universitätsklinikum Ulm)
Kosten für: - Arbeitslosenunterstützung - Kriminalitätsfolge - Therapiekosten Kosten allein im Gesundheitswesen: ca. 500 Millionen 3 Milliarden Euro (Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel, Barmer GEK, Universitätsklinikum Ulm)
1. Dynamiken des Machtmissbrauchs in Institutionen
Macht als Verhältnisbeschreibung Machtquellen - Machtbalance Machtasymmetrie Qualität der Beziehung Aggression als innerer Zustand bewusst - unbewusst - vorbewusst Erregungszustand des/r Aggressors/in Gewalt als interaktive Ausdrucksform psychische - physische - sexualisierte ökonomische - soziale - (angedroht) Erscheinungsformen des Phänomens
Eine ewige Erfahrung lehrt, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu missbrauchen. Es geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt. Charles des Secondat (1689-1755)
Vier Faktoren-Modell als Voraussetzungsgefüge für sexuellen Missbrauch im sozialen Nahraum I. Individuelle Motivation II. Überwindung interner Hemmungen (soziale Norm) III. Überwindung externer Hemmungen IV. Überwindung kindlichen Widerstands Grundlage integrativer Erklärungsmodelle: Erklärungen für das Entstehen von Verhalten eines sexuellen Missbrauchers kann nicht gleichgesetzt werden mit Erklärungen, warum ein Kind sexuell missbraucht wird. (vgl. Finkelhor 1984 zitiert in: Deegener 1995, S. 222)
Person-Institutionen-Gefüge als Ursache für sexualisierte Gewalt Machtbedürfnisse Strukturelle Macht Machtmissbrauch +
Täter-Opfer-Institutionen-Dynamiken in Systemen es geht um schwierige Gemengelagen in Soziokulturen Person Strukturen Institution
Soziokulturelle Erklärungsmodelle zur Täter-Opfer- Institutionen- Dynamik Grafik: Hoffmann, Ulrike (2011): Sexueller Missbrauch in Institutionen. Eine wissenssoziologische Diskursanalyse. Lengerich, S. 114
Bullying: Täter-Opfer-Umgebungs-Dynamik Mitläufer fasziniert ängstlich Zuschauer / Wegsehende -schweigen nicht eingreifen Täter Assistenten Bullying Opfer Passiv / hilflos vs. provokant Helfer Dan Olweus: The Bullying Circle, Bergen/Norwegen, 2001
Fehler haben Hintergründe: organisational vulnerability Aktives Versagen am scharfen Ende des Systems Gefahr Unfall/ Schaden Quelle: Swiss Cheese Model of System Accidents (Fehlertheorie nach Reason 1995; Grafik: British Medical Journal Latentes Versagen auf den höheren Stufen einer Organisation
Feuerwehr-Effekt Einrichtungen reagieren immer nur auf den worst case und nehmen die Gewährleistungspflicht und den Verbraucherschutz nicht ernst und verantwortliche Behörden setzen keine Grenzen.
Geschlossene Systeme Institutionen neigen dazu, sich mit sich selbst zu befassen, sie werden blind nach innen und werden zu geschlossenen Systemen.
warning indicator: Machtkonzentration
Kultur der Macht - Leitungsdynastien - Günstlingsstrukturen - Machtdemonstration durch kontinuierliches Auswechseln der mittleren Leitungsebene - Klima der Konkurrenz - fehlende Entschuldigungskultur (Beobachtungen aus einem Aufarbeitungsprozess)
Institutionelle Traumatisierungen mit Langzeiteffekt Die Auswirkungen des Sich-Nicht-Kümmerns um Fehlerquellen in Institutionen und und deren proaktive Bearbeitung sind lang anhaltend und werden schwerwiegender und unbearbeitbar.
Momentane Gefahr Retraumatisierung von Betroffenen durch Untätigkeit von Institutionen
2. Mindeststandards für Schutzkonzepte in Institutionen
Verfahren und Maßnahmen des Klientenschutzes sind Querschittsthemen von Versorgungsqualität und Klientenrechten Verfahren und Maßnahmen des Klientenschutzes sind Umsetzungsschritte von Garantenpflichten
Präventionsstrategie des Runden Tisches Kindesmissbrauch Erhöhung der Verbindlichkeit durch die Koppelung von Förderung und Implementierung eines Schutzkonzeptes für Kinder und Jugendliche in Institutionen
Implementierung von Mindeststandards 1. Vorlage eines verbindlichen Schutzkonzeptes 2. Durchführung einer einrichtungsinternen Analyse zu arbeitsfeldspezifischen Gefährdungspotentialen und Gelegenheitsstrukturen 3. Bereitstellung eines internen und externen Beschwerdeverfahrens 4. Notfallplan für Verdachtsfälle 5. Hinzuziehung eines/einer externen Beraters/Beraterin in Verdachtsfällen (z.b. Fachkraft für Kinderschutz) 6. Entwicklung eines Dokumentationswesens für Verdachtsfälle 7. Themenspezifische Fortbildungsmaßnahmen für MitarbeiterInnen durch externe Fachkräfte 8. Prüfung polizeilicher Führungszeugnisse 9. Aufarbeitung und konstruktive Fehlerbearbeitung im Sinne der Prävention und Rehabilitierungsmaßnahmen (Unterarbeitsgruppe I des Runden Tisches Kindesmissbrauch)
Empfehlungen des Runden Tisches Allgemeine Präventionsmaßnahmen: Information der Zielgruppen über das Schutzkonzept der Institution Verankerung von Schutzmaßnahmen in Qualitäts- und Personalentwicklungsprozessen Erstellung einer Risikoanalyse innerhalb der Institution
Empfehlungen des Runden Tisches Spezifische Präventionsmaßnahmen: Aufklärungsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche Etablierung von Beteiligungsformen für Kinder und Jugendliche Einrichtung von Beschwerdeverfahren für Kinder und Jugendliche Schutzmaßnahmen bei der Personalrekrutierung
Empfehlungen des Runden Tisches Spezifische Präventionsmaßnahmen: Erstellung eines gestuften Handlungsplans im Falle einer Vermutung eines Missbrauchs Festlegung von Verantwortlichkeiten für alle weiteren Schritte Berücksichtigung des Beteiligungspostulats, insbesondere der Betroffenen und ihrer Personensorgeberechtigten Offenlegung der Einschätzungskriterien im Falle einer Vermutung Schwellenbeschreibung zur Einschaltung einer externen Beratung Definition des Beginns interner Schutzmaßnahmen für potentielle Täter und Dokumentation datenschutzrechtlicher Erwägungen Erfüllung der Auskunftspflicht Schwellenbeschreibung zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden Erstellung eines Dokumentationsverfahrens Aufarbeitung und Veränderung: Übergeordnete Träger entwickeln Handlungsempfehlungen zur Rehabilitierung (Fachhinweise zur Beteiligung, Unterstützung, Organisationsanalyse, Rehabilitationsformen)
Zentrale Mindeststandards von Kinderschutzkonzepten des RTKM Personalprüfung Institutionelle Gefahrenanalyse Externe Beschwerdestellen Beteiligungsstrukturen Notfallplan Fortbildung Proaktive Aufarbeitung Rehabilitierung
Was ein Schutzkonzept nicht sein sollte Ein Schutzkonzept ist nicht zu verwechseln mit Leitlinien, Verfahrensvorschriften, Dienstanweisungen, Verhaltenskodices oder anderen institutionellen Standards.
Was ein Schutzkonzept nicht sein sollte Ein Schutzkonzept ist nicht durch organisationsweite Fortbildung zu ersetzen. Fortbildung ist kein Allheilmittel und impliziert eine falsche Sicherheit, zumal sich Verhalten nicht automatisch dadurch ändert. Beobachtbar ist eine Ökonomisierung und Vermarktung des Problems durch Fortbildung.
Was ein Schutzkonzept sein sollte Organisationsentwicklung dient den zu versorgenden Menschen in Systemen, sie dient nicht den Strukturen im Sinne eines Selbstzwecks. Fachliche Weiterentwicklung und Haltungsänderungen können nicht durch Gesetze und Verordnungen in Gang gesetzt werden, sondern nur in lernenden Organisationen.
Was ein Schutzkonzept sein sollte Die Erarbeitung von Schutzkonzepten basieren auf partizipativen Organisationsentwicklungsprozessen mit Topdown und Bottom-up-Elementen. Betroffene werden an den Steuerungsgruppen, Projektgruppen, Arbeitsgemeinschaften, Qualitätszirkerln etc. beteiligt.
Derzeitige Schutzphilosophien Marktregulation: Schutz als Qualitätsfaktor Gesetzliche Verpflichtung: Schutz als Verordnung Selbstverpflichtung: Schutz als Haltung
Zielperspektive: Klima des Schutzes Pädagogische Grundhaltung Kultur der Einrichtung erzeugen ein soziales Klima der Offenheit, erlebten Beteiligung und Sicherheit
Wie ein Schutzkonzept entwickelt wird Unterschiedliche Formen der Gewalt in Institutionen erfordern methodische Berücksichtigung in Schutzüberlegungen. Grenzverletzungen Übergriffe Strafrechtlich relevante Gewalthandlungen (vgl. Enders/Eberhardt 2007)
Beispiel für eine Risikoanalyse - beteiligungsorientiert
Zielperspektive: Kultur der Achtsamkeit Reden über Unrecht, Unangenehmes sehen, Hilferufe hören und gegen Unrecht handeln
Beispiel für ein Schutzkonzept
3. Praxisreflexionen aus Implementationsprozessen
Angst vor Destabilisierung Insbesondere konfessionell gebundene Institutionen haben eine lange Tradition der Hierarchie und Macht. Implementationsprozesse stellen grundlegende Strukturen und die Machtverteilung in Frage. Die Umsetzung von Prävention in Institutionen ist darum eine Grundsatzfrage des Machtverzichts.
Aufarbeitung und proaktive Verarbeitung Handelt es sich um einen Entwicklungsprozess vor dem Hintergrund eines stattgefundenen Machtmissbrauchs? Handelt es sich um einen Entwicklungsprozess ohne konkretes institutionelles Vorwissen?
Präventionskonzept Vor der Entwicklung eines Schutzkonzepts benötige ich zuvor eine genaue Definition, was ich eigentlich wo für wen vermeiden oder ausschließen möchte.
Nutzerbefragungen Vor der Entwicklung eines Schutzkonzepts benötige ich zuvor empirisches Wissen darüber, welche Ängste, Unsicherheiten, Risiken, Schutzbedürfnisse Kinder und Jugendliche selbst benennen können.
Stoßrichtungen notwendiger Organisationsentwicklungsprozesse: Selbstreflexion und überzeugte Erneuerung von innen Entlarvung von Macht erzeugenden Dynamiken Wechsel zwischen top-down und bottom-up-strategien Überprüfung eigener Werteordnung Demokratisierung von unten
Am Anfang einer jeden gewollten Veränderung in einem System steht der Mensch. Grundprinzip aus der Organisationsentwicklung
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!