Wissenswert. Heinrich von Kleist: Der rätselhafte Klassiker. von Ulrich Rüdenauer und Christiane Kreiner , Uhr, hr2-kultur

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Transkript:

Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Sylvia Schwab / Arne Kapitza Wissenswert Heinrich von Kleist: Der rätselhafte Klassiker von Ulrich Rüdenauer und Christiane Kreiner 21.11.2011, 08.40 Uhr, hr2-kultur : Zitator: 11-141 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks.

Seite 2 Collage Musik ZITATOR: Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache, taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht mahlen u. was sie uns giebt sind nur zerrissene Bruchstücke. (AUS EINEM BRIEF) ZITATOR Das Rechtgefühl aber machte ihn aber zum Räuber und Mörder. (AUS MICHAEL KOHLHAAS) O-Ton 1 Michalzik Es war mal so eine allgemeine Mode, Vergangenheit oder vergangene Schriftsteller oder Künstler als heutige Figuren zu begreifen. Das ist grottenfalsch. Die sind uns so fremd, die Menschen, dass wir sie nicht verstehen. Und die Zeiten auch. Trotzdem hat sich Peter Michalzik an eine Biografie über Heinrich von Kleist gewagt. Ihr Titel: Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher. Ein Wagnis schon alleine deshalb, weil vor einigen Jahren bereits einige neue biografische Studien erschienen sind ((von Jens Bisky, Herbert Kraft und Gerhard Schulz)). Und auch im Kleist-Jahr 2011 gibt es noch eine weitere, weit ausholende Untersuchung zu Kleist, geschrieben von dem Germanisten Günter Blamberger.

Seite 3 Michalzik aber wählt einen anderen Ansatz, er wollte eine Biografie schreiben, die er selber in der Kleist-Literatur bislang vermisst hat: Eine Erzählung über das Leben, ein Versuch, dem Menschen und seiner Zeit näher zu kommen. Zitator1 (aus: Michalzik: Kleist) Der Tag, an dem Heinrich von Kleist zum ersten Mal unverwechselbar vor uns erscheint, lässt sich genau bestimmen. Es ist der 18. März 1799. Mit diesem Tag beginnt er sichtbar er selbst zu werden. Er war damals 21 Jahre alt. Aus Potsdam, der preußischen Garnisonsstadt, in der er als Soldat stationiert war, schrieb er einen Brief an seinen früheren Lehrer in Frankfurt an der Oder. Es ist der dritte von ihm geschriebene Brief, der überliefert ist. Der Brief ist viele Seiten lang so lang, dass Kleist zwei Tage brauchte, um ihn zu schreiben. (9) Kleist möchte seinen Abschied vom Militär nehmen. Eine Ungeheuerlichkeit, auch für die Familie. In dem Brief aber geht es um ganz Grundsätzliches: Darum, dass man seinen eigenen Überzeugungen folgen müsse, dass man sein Lebensglück nicht auf das Urteil anderer gründen dürfe. Michalzik nähert sich dem Dichter, der ihn seit Jugendtagen fasziniert, indem er zwei Seiten an ihm herausstellt. Zwei verschiedene Stränge in dieser Biografie entdeckt. O-Ton 2 Michalzik Es gibt den Menschen, der vor allen Dingen ein innerliches Leben hat, ein reiches Innenleben, das sich dann in seinem Werk ausdrückt und das deutlich erkennbare Spuren von psychischer Beschädigung, von Zurückgezogenheit, von Labilität, von Angst, von prekären psychischen Zuständen trägt. Und es gibt den Bürger seiner Zeit. Vom Adeligen wurde er dann eigentlich relativ

Seite 4 schnell zu einem Wahlbürger, der unglaublich aktiv war. (...) Und manchmal merkt man dann auch, dass die innere Geschichte quasi in die äußere hineinbricht oder umgekehrt. Manchmal beschwingt die äußere die innere. Und es sind wie so zwei Dinge, die miteinander kommunizieren. Die Kunst des Biografen ist es, diese beiden Geschichten nicht nur packend zu erzählen. Sondern daraus die Geburt des Schriftstellers erahnbar werden zu lassen. Denn Kleist, von dessen Kindheit man kaum etwas weiß, ist im adeligen Milieu groß geworden. Seine Laufbahn als Offizier war ihm in die Wiege gelegt. Dann kam ihm die Literatur dazwischen und etwas in seinem Innern, das nach Ausdruck verlangte, wurde übermächtig. Und führte zum Bruch mit dem vorgegebenen Lebensweg. O-Ton 3 Michalzik Kleist wird zum Schriftsteller durch viele kleine Schritte. Er wird zum Schriftsteller in einem Moment, als er spürt, dass er in Beschreibungen von Landschaft, von Menschen, von einer Stadt, Würzburg in dem Fall, dass er in der Beschreibung etwas ausdrücken kann, was über die Beschreibung dessen, was man sieht und wahrnehmen kann, hinausgeht. Nämlich, das berühmteste Beispiel, er beschreibt einen Fluss, und der Fluss wird wie etwas Lebendiges. Der Fluss drückt einen inneren seelischen Vorgang aus. Die berühmte Würzburger Reise aus dem Jahr 1800 hat in der Forschung zu zahlreichen Spekulationen Anlass gegeben. Peter Michalzik stellt in seinem Buch eine neue These auf: Die Reise hatte ihren Sinn darin, zwischen Kleists angestammtem Leben und ihm selbst eine Distanz zu schaffen, einen Raum.

Seite 5 Und dieser Raum wurde mit Briefen an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge gefüllt, in denen er erstmals Möglichkeiten der Selbsterkenntnis ausprobieren konnte. In der Sprache. Die Würzburger Reise gab ihm die Freiheit, sich weiterzuentwickeln. Ein Gefühl, das ihm sagte: Nur durch Entfernung komme ich zu mir selbst. Die größte Entfernung ist der Tod. Er ist in diesem Leben schon sehr früh präsent, wie Peter Michalzik anschaulich macht. Zitator 2 (aus: Michalzik: Kleist) Man hat das Gefühl, dass in Kleist der Tod wuchs. Im Brief vom 15. August 1801, in dem er Wilhelmine noch einmal sein Inneres auftat, sprach er das erste Mal vom Selbstmord. (...) Kleist war bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Er wirkte dabei aber gefasster, klarer und entschiedener als bisher. Er klang, als sei er bei sich. Kleists Radikalität lässt sich hier schon entdecken. Und Kleists Radikalität im Schreiben besteht darin, dass er nicht genau wusste, was er tat. Nicht etwa, weil er dem Wahnsinn verfiel wie Hölderlin. Sondern weil er sich dem Sog des Schreibens überließ: Es fanden im Schreiben Prozesse statt, die er nicht bewusst steuern konnte. Seine Figuren entwickelten ein eigenes Leben. Und wurden fortgerissen von dem, was ihnen widerfuhr. Auch Kleist wurde fortgerissen. Er war, so Michalzik, eine zerrissene Gestalt, die in sich nach etwas suchte und daran scheiterte, sich zu finden.

Seite 6 O-Ton 4 Michalzik Es ist ihm nicht gelungen, weder übers Briefeschreiben noch übers Bauerwerden noch übers bürgerlich, adlig sein noch übers Soldatsein noch übers Schreiben, diese Identität zu entwickeln. Und er konnte sich seine Stücke nicht so zusammenbacken, dass dann da am Schluss so etwas rauskommt, was dann so wirkt wie ne schöne Identität, sagen wir mal in einem frühen Sinne: ein Happy End. Das konnte der halt einfach nicht. Collage ATMO Musik die Sprache taugt nicht nur zerrissene Bruchstücke Am 21. November 1811 begeht Heinrich von Kleist zusammen mit seiner Schwester im Geiste, Henriette Vogel, in Berlin am Kleinen Wannsee Selbstmord. 34 Jahre ist er alt. Neben den Biografien erschienen in den vergangenen Jahren auch literarische Annäherungen an den Menschen Kleist. Vorwiegend von Autorinnen: Die Schriftstellerin Tanja Langer widmet sich dem Doppelselbstmord. In ihrer Erzählung Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit erzählt sie die letzte Nacht am Wannsee als eine Liebesgeschichte zwischen Henriette Vogel und Heinrich von Kleist. Christa Wolf lässt in ihrer Erzählung Kein Ort. Nirgends! die Dichterin Karoline von Günderode Heinrich von Kleist begegnen.

Seite 7 Auch die Schriftstellerin Dagmar Leupold hat ein Kleist-Experiment gewagt. In ihrem fiktiven Journal die Die Helligkeit der Nacht, erschienen 2009, lässt sie Heinrich von Kleist Briefe an die politische Journalistin und spätere Terroristin Ulrike Meinhof schreiben: Zitator 3 Sie werden Sich womöglich fragen warum ich Ihnen schreibe das wäre schön, denn dann teilten wir ein Geheimnis: Denn das ist es mir noch.ich kannte Ihr Gesicht längst. Die wachsamen Augen eines kleinen Nagetiers, immer auf der Hut. Am Ende die Auszehrung, kein Blick mehr, nur Stumpfheit. Die Entsprechung zur Stummheit. Kleists Briefe segeln durchs Reich der Toten, durch Raum und Zeit. Eine Erfindung der Schriftstellerin Dagmar Leupold. In ihrem Buch Die Helligkeit der Nacht wählt sie für ihre Annäherung an Kleist eine fiktive Form, die Form des Briefromans, eine Art Tagebuch. O-Ton 5 Dagmar Leupold In der Literatur hat man die Lizenz. Wenn man Totengespräche in der Literatur anschaut, das ist ja eine alte Tradition, wenn man die wieder aufnimmt, und diese Lizenz wollte ich ausnutzen, um die Chronologie ein bisschen auf den Kopf zu stellen.

Seite 8 Kleist flaniert durch das Berlin der Jetzt-Zeit, er registriert, beobachtet, kommentiert klackernde Fingernägel auf Handytasten, Rollkoffer und Büchertische - beladen mit Büchern zur RAF. Erinnerungen an den deutschen Herbst. Kleist findet auch in Dagmar Leupolds Journal keine Ruhe, er besucht Buchenwald, reist nach Stuttgart-Stammheim. All das berichtet er an Ulrike Meinhof, deren Geschichte er verstehen will. O-Ton 6 Dagmar Leupold Es gibt eine Schnittstelle, die mich interessiert hat, Kleist war mit 15 Soldat und hat mit 22 die Armee verlassen, und hat sich, wie Friedrich Diekmann das einmal formuliert hat, ins Schreiben gerettet, und ich würde sagen, bei der Meinhof war es genau umgekehrt: Sie hat die Feder hingeschmissen, sie war ja eine sehr erfolgreiche politische Journalistin, aber eben doch dann aus ihrer Sicht folgenlose, und hat die Waffe ergriffen, und ich dachte, dass in dieser diametralen Gegenübersetzung Stoff für eine Tragödie sei. Der Trick der Schriftstellerin Dagmar Leupold: Ulrike Meinhof antwortet nicht. Sie antwortet ihm in seiner Vorstellung, in seinen Sätzen: Der Leser erfährt viel über das Innenleben Kleists und seine Gedanken: So schreibt an einer Stelle Kleist an Kleist: Zitator 4 Lieber Kleist, den Übeln kommt man nicht bei, indem man sie bedichtet. Da landet man nur bei der Obsession wie bei Ihrer kleinen Schwäbin, dem Käthchen, der Weltmeisterin der Hingabe - echte Empörung aber macht aggressiv. Politisch aggressiv; Sie werden aus mir keine Amazone schneidern

Seite 9 können. Mir war kein Schicksal bestimmt, sondern eine Geschichte. Eine Gesellschaft. Ich war Messerwerferin, früher, traf, mit der Sprache, haarscharf daneben, genau daneben. (58) Dagmar Leupold lässt Kleists Gedanken immer wieder um Gewalt und Ohnmacht kreisen. Der radikale Dramatiker hat diese Themen in seinen eigenen Figuren angelegt. Ihnen widerfährt Gewalt, und sie werden gewalttätig: Michael Kohlhaas, der, seiner Pferde beraubt, zum Zerstörer seines Landes wird; Penthesilea, die ihren geliebten Achill zerfleischt; das Käthchen, das sich in seiner Hingabe verliert. Für die Schriftstellerin Dagmar Leupold hätte die Geschichte von Ulrike Meinhof eine Kleistsche Tragödie sein können. O-Ton 7 Dagmar Leupold Nämlich, was wäre das für eine Figur, in welchem Drama oder welcher Tragödie wäre sie eine Figur, in diesem Sinne führt er sie innerlich ein bisschen als Michael Kohlhaas Schwester oder Penthesileas Schwester ( ) Und es ist die Frage nach dem Gründungsmythos von Gewalt: Was löst sie aus? Was löst sie in einer Weise aus, dass es nicht nur um Sachzerstörung geht, sondern auch Zerstörung von Leben. Durch wen oder was fühlt man sich autorisiert. Heinrich von Kleist kämpfte zu Lebzeiten schreibend - nicht nur in seinen Stücken, auch als Journalist und Zeitungsherausgeber. Er kämpfte gegen die

Seite 10 französische Besatzung Deutschlands, er gründete eine patriotische Zeitung, die Germania und nahm an konspirativen Treffen teil. Seine Berliner Abendblätter wurden schnell wieder eingestellt. Auch das ein Misserfolg. Heinrich von Kleist hat zu Lebzeiten keines seiner Stücke auf der Bühne gesehen. Die Anerkennung als Schriftsteller wurde ihm verwehrt. In den neuen Biografien und Erzählungen bekommt Kleist frische Konturen, ganz fassbar wird er trotzdem nicht. Vielleicht ist gerade das der Grund dafür, dass er Schriftsteller und Wissenschaftler immer wieder inspiriert. Auch sein Tod bleibt ein Geheimnis. Den wählt er selbst ein Gewaltakt. Am 21. November 1811 erschießt Heinrich von Kleist zuerst die Gefährtin Henriette Vogel, dann sich selbst. Die Stimmung am Kleinen Wannsee soll heiter gewesen sein kurz bevor die Schüsse fielen: O-Ton 8 Dagmar Leupold Die Bitterkeit war unmittelbar in den Jahren davor, als er gesehen hat, er wird nicht verstanden, er wird nicht veröffentlicht, Theater findet gar nicht mehr auf Deutsch statt sondern auf Französisch. Aber im Moment dieser Entscheidung oder am Tag der Entscheidung oder in den unmittelbaren Wochen davor, ist er offensichtlich beglückt gewesen von dieser Gemeinschaft, von dieser ersten Synchronisation von Wünschen in seinem Leben, die glücklich verlaufen ist.