Zur Gesundheitslage älter werdender Menschen: Erfahrungen aus dem Alterssurvey Clemens Tesch-Römer Susanne Wurm Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin Vortrag auf dem Workshop Datengrundlagen für die Gesundheitsforschung in Deutschland am 12. und 13. Oktober 2006 in Berlin Der Alterssurvey wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) finanziell gefördert.
Große Fragen zum Thema Gesundes Altern Altersverlauf der Gesundheit Wie verändert sich die Gesundheit im Erwachsenenalter? Kompression oder Expansion der Morbidität? Bringt die wachsende Lebenserwartung eine Zunahme der gesunden oder der kranken Jahre? Kumulation oder Nivellierung sozialer Risiken? Wirkt sich soziale Ungleichheit im Alter stärker oder schwächer aus? Personale Ressourcen der Gesundheit im Alter Welche personalen Ressourcen sind für Gesundheit im Alter bedeutsam? Ist Gesundheitsförderung im Alter sinnvoll? Bleiben Effektivität und Effizienz gesundheitsfördernder und präventiver Intervention im Alter hoch oder werden sie geringer? Systeme mit Altersschwäche? Werden alte Menschen im (deutschen) Gesundheitssystem angemessen versorgt oder benachteiligt? Seite 2
Gliederung 1. Alterssurvey 2. Exemplarische Ergebnisse: Altersverlauf der Gesundheit 3. Exemplarische Ergebnisse: Kompression vs. Expansion der Morbidität 4. Exemplarische Ergebnisse: Personale Ressourcen und Gesundheit Seite 3
1. Alterssurvey Ziel Design Instrumente zum Thema Gesundheit Seite 4
Alterssurvey Ziel Bundesweit repräsentative Befragung von Personen im Alter in der zweiten Lebenshälfte (zwischen 40 und 91 Jahren). Erhebungen Ersterhebung im Jahr 1996 Zweiterhebung im Jahr 2002 Geplant: Dritterhebung im Jahr 2008 Datensätze Querschnitt 1996 im Alter von 40-85 Jahren (n=4.838) Querschnitt 2002 im Alter von 40-85 Jahren (n=3.084) Längsschnitt 1996-2002 im Alter von 40-91 Jahren (n=1.524) Themen Umfassende Befragung zu unterschiedlichen Aspekten der Lebenslage: Arbeitssituation, Übergang in den Ruhestand, Einkommen und Vermögen, Familie und soziale Netze, gesellschaftliche Partizipation, Wohlbefinden und Gesundheit Seite 5
Alter Design des Alterssurveys 100 Basis n = 4.838 Panel n = 1.524 n = 3.084 Replikation n = 586 Nicht-Deutsche 85 70 55 40 1996 Erste Welle 2002 Zweite Welle Seite 6
Alterssurvey-Publikation 2006 Clemens Tesch-Römer, Heribert Engstler, Susanne Wurm (Hrsg.) (2006). Altwerden in Deutschland. Sozialer Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten Lebenshälfte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (ISBN 3-531-14585-3). Seite 7
Zugang zu den Mikrodaten des Alterssurveys Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung, Universität zu Köln http://www.gesis.org/za/index.htm Studiennummern Studien-Nr. 3264: Alters-Survey, Welle 1 (1996) Studien-Nr. 4304: Alterssurvey, Welle 2 (2002) Daten und Dokumente freigegeben für die akademische Forschung und Lehre (jeweils nach Genehmigung durch DZA) Seite 8
Sichtweisen auf Gesundheit Klassische Sichtweise auf Gesundheit Erkrankungen, Multi-Morbidität Funktionelle Einschränkungen Behinderungen Lebenserwartung, Mortalität Erweiterte Sichtweise auf Gesundheit Subjektive Gesundheit Lebenszufriedenheit Lebensstil (Ernährung, Bewegung, Genussmittel/Drogen) Inanspruchnahme medizinischer und sozialer Dienstleistungen Seite 9
Messung von Gesundheit im Alterssurvey Körperliche Gesundheit Funktionelle Gesundheit Hilfe- und Pflegebedarf Psychisches Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit Kognitive Leistungsfähigkeit Subjektive Gesundheit Gesundheitsverhalten Gesundheitsversorgung Seite 10
Körperliche Gesundheit Krankheitsliste 11 Erkrankungsgruppen, u.a. Herz-Kreislauferkrankungen, Durchblutungsstörungen, Gelenk-, Knochen-, Bandscheiben- oder Rückenleiden Frage nach Vorhandensein einer entsprechenden Krankheit (ja/nein) Frage nach Ausmaß der Beschwerden durch Krankheit (keine... große) Schwere Krankheit oder Unfall in den letzten (6 bzw. 10) Jahren Wenn aufgetreten: Erhebung von Jahr und Art der Krankheit (sowie von Belastungen durch Krankheit) Krankenhausaufenthalt Dauer Seite 11
Funktionelle Gesundheit, Hilfe- und Pflegebedarf Funktionelle Gesundheit Schwierigkeiten aufgrund von Seh- bzw. Hörproblemen (4 Items) SF-36, Subskala Körperliche Funktionsfähigkeit (Mobilität, ADL; 10 Items) Aktivitäten des täglichen Lebens: ADL/iADL (7 Items) Hilfe- oder Pflegebedarf Benötigt Person Hilfe, Pflege oder andere Unterstützung? Wenn ja: Genauere Nachfrage zum Erhalt von entsprechenden Leistungen sowie zum Erhalt von Leistungen der Pflegeversicherung Seite 12
Psychisches Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit, Kognitive Leistungsfähigkeit Psychisches Wohlbefinden: Positive und negative Emotionen (PANAS-Skala, Watson et al.; 20 Items) Depressivität (CES-D / ADS nach Hautzinger; 15 Items) Einsamkeit (DeJong-Gierveld & Kamphius; 11 Items) Lebenszufriedenheit: Lebenszufriedenheit (Satisfaction with Life Scale, Pavot & Diener; 5 Items) Subjektive Lebensqualität (WHOQOL; 26 Items) Kognitive Leistungsfähigkeit Verarbeitungsgeschwindigkeit/ Speed (Zahlen-Symbol-Test; HAWIE-R) Seite 13
Subjektive Gesundheit und Gesundheitsverhalten Bewertung des Gesundheitszustands: Wie bewerten Sie Ihren derzeitigen Gesundheitszustand? Wie hat sich Ihr Gesundheitszustand in den letzten (6 bzw. 10) Jahren verändert? Was erwarten Sie, wie sich Ihr Gesundheitszustand in Zukunft verändern wird? Gesundheitsverhalten: Bewegung, sportliche Aktivität (6 Items) Rauchverhalten (3 Items) Body-Mass-Index (Körpergröße und -gewicht) Seite 14
Gesundheitsversorgung Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen Häufigkeit von Arztbesuchen in den vergangenen 12 Monaten 12 Facharztgruppen (u.a. Allgemeinmedizin, Zahnmedizin, Augenheilkunde, HNO) Vorhandensein eines Hausarztes Vermeidung eines (eigentlich) notwendigen Zahnarztbesuches Inanspruchnahme weiterer gesundheitsbezogener Dienstleistungen Häufigkeit der Nutzung in den vergangenen 12 Monaten 15 Dienstleistungen (u.a. Krankengymnastik, Rehabilitation/Kur, Heilpraktiker, Essen auf Rädern) Hilfsmittelversorgung Nutzung von Hilfsmitteln (10 Items; z.b. Hörgeräte, Rollator, Prothesen) Seite 15
2. Exemplarische Ergebnisse: Altersverlauf der Gesundheit (Querschnitt 2002) Selbstangaben zu somatischer Gesundheit Multimorbidität Multiple Beschwerden Selbstangaben zu funktioneller Gesundheit Körperliche Funktionsfähigkeit (SF-36) Subjektive Gesundheit Seite 16
Multimorbidität Krankheiten Frauen 70-85 Jahre Männer 28 57 15 Ost 18 58 24 23 56 21 West 22 54 24 55-69 Jahre 9 57 34 Ost 40 41 19 10 53 37 West 40 47 13 40-54 Jahre 5 37 58 Ost 62 36 2 5 35 60 West 61 34 5 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 0 bis 1 2 bis 4 5 u. mehr Erkrankungen Datengrundlage: Replikationsstichprobe des Alterssurveys, 2002; n=2.788 Seite 17
Multimorbidität Beschwerden Frauen 70-85 Jahre Männer 5 40 55 Ost 66 25 9 5 34 60 West 60 34 5 55-69 Jahre 1 26 74 Ost 71 27 2 1 19 79 West 76 22 2 40-54 Jahre 1 18 81 Ost 93 7 0 15 84 West 87 12 1 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 0 bis 1 2 bis 4 5 u. mehr Krankheiten m. mittleren/großen Beschwerden Datengrundlage: Replikationsstichprobe des Alterssurveys, 2002; nur Personen mit mindestens e iner selbstberichte ten Erkrankung, n=2.261 Seite 18
Körperliche Funktionsfähigkeit (aus SF-36) 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Männer Frauen 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 Alter Seite 19
Subjektive Gesundheit Sehr gut 4,5 4,0 3,5 3,0 2,5 Sehr schlecht 2,0 1,0 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 Alter Seite 20
Gesundheitsförderung und Prävention nicht ausgeschöpft: Körpergewicht und Sport-(In)Aktivität 60 50 Anteil in Prozent 40 30 20 10 0 40-54 Jahre 55-69 Jahre 70-85 Jahre Untergewicht Normalgewicht Übergewicht Adipositas nie Sport Quelle: Alterssurvey (2002) Seite 21
3. Exemplarische Ergebnisse: Kompression vs. Expansion der Morbidität (Kohortenvergleich 1996-2002) Themen Multimorbidität Multiple Beschwerden Subjektive Gesundheit Kohortenvergleich 40-45 46-51 52-57 58-63 64-69 70-75 76-81 Alter 1996 1951-1956 1945-1950 1939-1944 1933-1938 1927-1932 1921-1931 1915-1920 2002 1957-1962 1951-1956 1945-1950 1939-1944 1933-1938 1927-1932 1921-1931 Kohorte Testzeit Seite 22
Multimorbidität im Kohortenvergleich 5 4,5 4 3,5 3 2,5 2 1,5 1 0,5 * 1996, Basisstichprobe 2002, Replikationsstichprobe ** ** *** *** ** 0 40-45 46-51 52-57 58-63 64-69 70-75 76-81 Alter in Jahren * p<.05, ** p<.01, *** p<.001 Seite 23
Multiple Beschwerden im Kohortenvergleich 5 4 1996, Basisstichprobe 2002, Replikationsstichprobe 3 *** ** ** *** 2 1 0-1 40-45 46-51 52-57 58-63 64-69 70-75 76-81 Alter in Jahren Datengrundlage: Basisstichprobe 1996 (n=3.447) und Replikationsstichprobe 2002 (n=2.267) des Alterssurveys, gewichtet; *p<.05, **p<.01, ***p<.001 Seite 24
Subjektive Gesundheit im Kohortenvergleich Sehr gut 5 4,5 1996, Basisstichprobe 2002, Replikationsstichprobe 4 3,5 * ** * 3 2,5 2 1,5 Sehr schlecht 1 40-45 46-51 52-57 58-63 64-69 70-75 76-81 Alter in Jahren Seite 25
4. Exemplarische Ergebnisse: Personale Ressourcen und Gesundheit im Alter (Längsschnitt/Panel 1996-2002) Positive Sicht auf das eigene Älterwerden als personale Ressource Personen mit positiver Sicht auf das Älterwerden haben besseres Gesundheitsverhalten, funktionelle Gesundheit, Langlebigkeit (z.b. Levy & Myers, 2004; Levy et al., 2002, Maier & Smith, 1999) Auswahl aus Befunden der Dissertation von Susanne Wurm Sicht auf eigenes Älterwerden ( Ongoing Development vs. Physical Losses ) Gesundheit Gesundheitsverhalten Kritische Lebensereignisse Seite 26
Alternsbezogene Kognitionen und Gesundheit 1.16*** Age 1 Gender.05* 1 Place of Residence T1 -.01 1 Partner T1 -.03 1 Education T1.01 1 Prestige T1 -.02 AgeCog PhyLoss T1.12*** Physical illnesses T2 1 AgeCog Develop T1 -.10**.38*** Hope T1.03 1 Physical illnesses T1 Dissertation Susanne Wurm Seite 27
Cross-lag Paneldesign: Positive Sicht auf das eigene Älterwerden oder Gesundheit? 1 Körperl. Erkrankg.1.48 Körperl. Erkrankg.2 1 -.19 -.12 -.12 -.09 AgeCog Develop1 -.17 -.17.56 AgeCog Develop2 Lisrel Modell: χ 2 (36) = 169,15, RMSEA =.054, NNFI =.95 and SRMR =.033 χ 2 (1) = 31,54, p <.001 Dissertation Susanne Wurm Seite 28
Sicht auf das eigene Älterwerden und körperliche Aktivität (Spaziergänge) im Erwachsenenalter 4,8 4,6 4,4 4,2 4 3,8 Gute Gesundheit Schlechte Gesundheit Personen, die das Älterwerden als Weiterentwicklung betrachten, gehen auch dann regelmäßig spazieren, wenn sie Erkrankungen haben. (Daten: Alterssurvey, 1996 - Querschnitt) 3,6 Negative Sicht auf Älterwerden Dissertation Susanne Wurm Positive Sicht auf Älterwerden Seite 29
Sicht auf das eigene Älterwerden und kritische Lebensereignisse (Unfall/schwere Krankheit) 4 3,8 3,6 3,4 3,2 3 2,8 Älterwerden Älterwerden = Weiterentwicklung Weiterentwicklung Positive Sicht aufs Älterwerden Kein Krankheitsereignis Krankheitsereignis Kein Krankheitsereignis Krankheitsereignis 2,6 Krankheitsereignis zwischen T1 und T2: Nein Ja 2,4 T1 T2 Subjektive Gesundheit T1 T2 Subjektive Gesundheit Dissertation Susanne Wurm Seite 30
Große Fragen zum Thema Gesundes Altern Altersverlauf der Gesundheit Wie verändert sich die Gesundheit im Erwachsenenalter? Kompression oder Expansion der Morbidität? Bringt die wachsende Lebenserwartung eine Zunahme der gesunden oder der kranken Jahre? Kumulation oder Nivellierung sozialer Risiken? Wirkt sich soziale Ungleichheit im Alter stärker oder schwächer aus? Personale Ressourcen der Gesundheit im Alter Welche personalen Ressourcen sind für Gesundheit im Alter bedeutsam? Ist Gesundheitsförderung im Alter sinnvoll? Bleiben Effektivität und Effizienz gesundheitsfördernder und präventiver Intervention im Alter hoch oder werden sie geringer? Systeme mit Altersschwäche? Werden alte Menschen im (deutschen) Gesundheitssystem angemessen versorgt oder benachteiligt? Seite 31
Zusammenfassung und Ausblick Gesundheit im Wandel Zunahme von Multimorbidität und funktionellen Einbußen mit Alter Verschlechterung subjektiver Gesundheit mit Alter (flacher Abfall?) Abnahme der Multimorbidität (aber nicht der subjektiven Gesundheit) über einen Zeitraum von sechs Jahren Positive Sicht auf das eigene Ältwerden als Ressource für Gesundheit im Erwachsenenalter Gesundheitserfassung in Surveys möglich? Ja, viele Facetten der Gesundheit sind über Selbstauskünfte erfassbar. Aber auch objektive Tests (z.b. kognitive Screenings, Handkraft, Gleichgewicht, Blutdruck) und weitere minimal-invasive Messungen möglich (z.b. National Social Life Health and Aging Project : Biomarker zur Erfassung physiologischer Parameter im Rahmen eines Surveys). Seite 32
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! tesch-roemer@dza.de wurm@dza.de Seite 33