Die Schwerbehindertenvertretung informiert: Aktuelle Rechtsprechung zum Schwerbehindertenrecht SGB IX I. Kündigungsschutz schwerbehinderte Arbeitnehmer: Ist der Arbeitnehmer im Kündigungszeitpunkt bereits als schwerbehinderter Mensch anerkannt, steht ihm der Kündigungsschutz gemäß 85 ff. SGB IX nach dem Wortlaut des Gesetzes auch dann zu, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft oder dem Anerkennungsantrag nichts wusste. Gleichwohl trifft den Arbeitnehmer sowohl im Fall der außerordentlichen als auch der ordentlichen Kündigung bei Unkenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderung bzw. der Antragstellung die Obliegenheit, innerhalb einer angemessenen Frist, die in der Regel drei Wochen beträgt, auf den besonderen Kündigungsschutz hinzuweisen. Dies trägt dem Verwirkungsgedanken ( 242 BGB) Rechnung und ist aus Gründen des Vertrauensschutzes gerechtfertigt. Eine Einschränkung der Möglichkeit des Arbeitnehmers, sich auf den Kündigungsschutz als schwerbehinderter Mensch zu berufen, ist aber nur gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber tatsächlich schutzbedürftig ist. Das ist nicht der Fall, wenn der Arbeitgeber die Schwerbehinderung oder den Antrag vor Ausspruch der Kündigung kannte und deshalb damit rechnen musste, dass die Kündigung der Zustimmung des Integrationsamtes bedarf. Informiert der Arbeitnehmer den Arbeitgeber vor Zugang der Kündigung über die Antragstellung beim Versorgungsamt, ist der Arbeitgeber ausreichend in die Lage versetzt, zumindest vorsorglich die Zustimmung zur Kündigung beim Integrationsamt zu beantragen. Weitergehender Informationen durch den Arbeitnehmer bedarf es nicht. Insbesondere ist er nicht verpflichtet, das Datum der Antragstellung mitzuteilen oder seine Schwerbehinderung innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung durch Vorlage des Feststellungsbescheides nachzuweisen. II. Außerordentliche Kündigung Mitglied der Schwerbehindertenvertretung In der Literatur war umstritten, ob der Arbeitgeber bei der außerordentlichen Kündigung eines Mitglieds der Schwerbehindertenvertretung den Betriebsrat nach 103 BetrVG oder die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen hat. Nach überwiegender Auffassung hat der Betriebsrat nach 103 BetrVG der
Kündigung zuzustimmen. Auch nach Meinung des BAG ist die betriebliche Interessenvertretung zu beteiligen. Dem widerspricht das LAG Hamm in seinem Beschluss vom 21. Januar 2011. Die außerordentliche Kündigung eines Mitglieds der Schwerbehindertenvertretung bedarf nach Auffassung des LAG Hamm der Zustimmung der Schwerbehindertenvertretung und nicht des Betriebsrats. Zur Begründung führt das Gericht an, dass anderenfalls der Eigenständigkeit dieses Organs nicht ausreichend Rechnung getragen werde. Sinn der Schutznorm sei es, diejenige Vertretung, die ein Mitglied verlieren soll, selbst über die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung entscheiden zu lassen.6 Das LAG Hamm hat richtigerweise die Rechtsbeschwerde zugelassen, da die Sache von grundlegender Bedeutung ist. Es bleibt abzuwarten, wie das BAG entscheiden wird. III. Anspruch auf behindertengerechten Arbeitsplatz Kann ein Arbeitnehmer seinen ursprünglichen Arbeitsplatz personenbedingt nicht mehr ausüben, ist der Arbeitgeber nach 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX verpflichtet, das Direktionsrecht neu auszuüben und soweit vorhanden und möglich dem Arbeitnehmer einen anderen, behindertengerechten Arbeitsplatz zuzuweisen. Der Arbeitnehmer kann den Anspruch auf Ausübung des Direktionsrechts in die Form eines Beschäftigungsanspruchs auf von ihm vorgeschlagene Arbeitsplätze kleiden. Unterlässt der Arbeitgeber die ihm mögliche Ausübung des Direktionsrechts, macht er sich schadensersatzpflichtig, soweit die weiteren Anspruchsvoraussetzungen (Kausalität, Verschulden) gegeben sind. Stellt die Neuzuweisung eines Arbeitsplatzes eine Versetzung im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne dar, ist zuvor der Betriebsrat zu hören. Der skizzierte Schadensersatzanspruch ist regelmäßig nicht Entscheidungsreif, bevor der Betriebsrat der Versetzung nicht zugestimmt hat. Verweigert der Betriebsrat die Zustimmung zu einer leidensgerechten Weiterbeschäftigung (Versetzung) des behinderten Arbeitnehmers auf einem anderen Arbeitsplatz, ist der Arbeitgeber verpflichtet, das Zustimmungsersetzungsverfahren nach 99 Abs. 4 BetrVG durchzuführen, wenn er erkennt, dass die geltend gemachten Zustimmungsverweigerungsgründe tatsächlich nicht vorliegen. Der sich aus 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX ergebende Anspruch auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz kann auch einen Anspruch auf Änderung des Ortes, an dem die Arbeitsleistung zu erbringen ist, umfassen. Der schwerbehinderte Arbeitnehmer hat in der Regel auch einen Anspruch auf einen Heimarbeitsplatz. Wenn der Arbeitgeber für den schwerbehinderten Arbeitnehmer bereits in der Vergangenheit einen funktionsfähigen Telearbeitsplatz in dessen Wohnung eingerichtet hat, so ist es dem Arbeitgeber ohne das Hinzutreten neuer, gewichtiger Umstände im Zweifel nicht unzumutbar, den Arbeitnehmer weiterhin an zwei Werktagen in Telearbeit zu beschäftigen. Sofern die leidensgerechte Beschäftigung am heimischen Arbeitsplatz eine Abänderung des ursprünglich geschlossenen Arbeitsvertrages hinsichtlich des Ortes der Erbringung der Arbeitsleistung erforderlich macht,
kann der betroffene Arbeitnehmer unmittelbar auf entsprechende Beschäftigung klagen. Einer vorangehenden auf Abänderung des Arbeitsvertrages gerichteten Klage bedarf es nicht. IV. Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) Das betriebliche Eingliederungsmanagement hat auch im letzten Jahr die Gerichte vielfach beschäftigt. Nach 84 Abs. 2 SGB IX hat der Arbeitgeber das BEM durchzuführen, wenn der Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt ist. Nach Auffassung des LAG Hamm gehört zu den gebotenen Maßnahmen des BEM auch die Durchführung einer ärztlich empfohlenen stufen weisen Wiedereingliederung. Die frühere Auffassung, dem Arbeitgeber stehe die Entscheidung über die stufenweise Eingliederung frei, ist damit überholt. Weigert sich der Arbeitgeber eine stufenweise Wiedereingliederung vorzunehmen, kommen Schadensersatzansprüche des Arbeitnehmers nach 280 BGB, 823 Abs. 2 BGB 84 Abs. 2 SGB IX in Betracht. Der Personalrat bzw. der Betriebsrat hat gem. 84 Abs. 2 Satz 7 SGB IX, Anspruch auf Mitteilung der Namen der länger erkrankten Beschäftigten, die auf die Möglichkeit des betrieblichen Eingliederungsmanagements hingewiesen werden. Mitzuteilen sind also die Namen der Arbeitnehmer, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig waren und bei denen daher ein betriebliches Eingliederungsmanagement nach 84 Abs. 2 SGB IX einzuleiten war. Wichtig ist, dass es nach Auffassung des LAG München dabei nicht der vorherigen Zustimmung der betroffenen Arbeitnehmer bedarf. Der Informationsanspruch steht dem Personalrat in seiner Gesamtheit zu. Die Mitteilungspflicht kann nicht auf den Vorsitzenden beschränkt werden. Der Regelungstatbestand des betrieblichen Eingliederungsmanagements gemäß 84 Abs. 2 SGB IX wird von dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG (Ordnung im Betrieb und Verhalten der Arbeitnehmer) erfasst. Das betriebliche Eingliederungsmanagement entspricht dem Zweck des Mitbestimmungsrechts nach 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG, der eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gestaltung des betrieblichen Zusammenlebens gewährleisten soll. Durch das betriebliche Eingliederungsmanagement sind Arbeitnehmer in die Aufklärung und Überwindung individueller Defizite so eingebunden, dass das Ordnungsverhalten im Betrieb tangiert ist. Das Ob der Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements ist abschließend gesetzlich geregelt und unterliegt nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats, so das LAG Berlin- Brandenburg. Bei der Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements verbleibt den Betriebsparteien ein Regelungsspielraum zur näheren Bestimmung des Wie. Bei den in 84 SGB IX geregelten Klärungs-, Überwachungs- und Beteiligungsrechten handelt es sich nicht um abschließende Regelungen. Sie verdrängen nicht Mitbestimmungsrechte nach 87 BetrVG, weil die im SGB IX geregelten Rechte erst nach Beginn eines betrieblichen Eingliederungsmanagements greifen
können. Hingegen besteht kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG (Gesundheitsschutz) im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements. Die nach 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG vorausgesetzte Konnexität zwischen Beschäftigung und Gesundheitsrisiko existiert nach Auffassung des LAG Berlin- Brandenburg für das betriebliche Eingliederungsmanagement nicht. Das betriebliche Eingliederungsmanagement knüpft nicht an einen erforderlichen Kollektivtatbestand an, sondern erfordert individuell auf den Arbeitnehmer bezogene Maßnahmen. Das BAG hatte sich mit der Frage zu befassen, ob das BEM vom Arbeitgeber auch dann durchzuführen ist, wenn keine betriebliche Interessenvertretung besteht. Diese Frage hat das BAG eindeutig bejaht. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement nach 84 Abs. 2 SGB IX ist vom Arbeitgeber also auch dann durchzuführen, wenn kein Betriebsrat oder Personalrat oder eine sonstige betriebliche Interessenvertretung nach 93 SGB IX gebildet ist. Zudem hat das BAG die Kündigungsmöglichkeit des Arbeitgebers in den Fällen eingeschränkt, in denen der Arbeitnehmer die Durchführung des BEM abgelehnt hat. Hat der Arbeitgeber ein BEM deshalb nicht durchgeführt, weil der Arbeitnehmer nicht eingewilligt hat, kommt es bei der Rechtfertigung einer Kündigung darauf an, ob der Arbeitgeber den Betroffenen zuvor auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hingewiesen hatte. Die Belehrung nach 84 Abs. 2 SGB IX gehört zu einem regelkonformen Ersuchen des Arbeitgebers um die Zustimmung des Arbeitnehmers zur Durchführung des BEM. Sie soll dem Arbeitnehmer die Entscheidung ermöglichen, ob er dem BEM zustimmt oder nicht. Mitunter unterlassen Arbeitgeber die Einleitung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements mit der Begründung, dass auch das BEM nicht zu einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers führe. Die Darlegungs- und Beweislast, dass ein BEM deshalb entbehrlich war, weil es wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers unter keinen Umständen ein positives Ergebnis bringen kann, trägt der Arbeitgeber. Dazu muss er umfassend und konkret vortragen, warum weder der weitere Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisherigen Arbeitsplatz, noch dessen leidensgerechte Anpassung und Veränderung möglich war und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können. V. Bewerbungsverfahren Nach 82 SGB IX müssen öffentliche Arbeitgeber schwerbehinderte Bewerber, die sich um einen frei werdenden oder freien Arbeitsplatz beworben haben, zu einem Vorstellungs-gespräch einladen. Eine Einladung ist dann entbehrlich, wenn die fachliche Eignung des Bewerbers offensichtlich fehlt. Bewerber werden im Sinne des 7 Abs. 1 AGG benachteiligt, wenn ein öffentlicher Arbeitgeber ihnen die in 82 Satz 2 SGB IX angeordnete Besserstellung
gegenüber nicht schwerbehinderten Bewerbers durch Einladung zu einem Vorstellungsgespräch vorenthält. Unterbleibt eine Einladung zum Vorstellungsgespräch, kann sich der Arbeitgeber schadensersatzpflichtig machen. Ein Entschädigungsanspruch eines Schwerbehinderten wegen Diskriminierung in einem Bewerbungsverfahren besteht aber nicht schon dann, wenn dieser nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde, wenn sachlich nicht behinderungsbezogene Gründe für die Nichtberücksichtigung der Bewerbung ausschlaggebend waren. Eine Benachteiligung des abgelehnten Bewerbers kommt insofern nur dann in Betracht, wenn er fachlich für die Stelle geeignet gewesen wäre. Nur dann würde er sich in einer vergleichbaren Situation mit dem Bewerber befinden, der bei der Stellenbesetzung den Vorzug erhalten hat. Ob die fachliche Eignung im Sinne von 82 Satz 3 SGB IX offensichtlich fehlt, ist an dem vom öffentlichen Arbeitgeber mit der Stellenausschreibung bzw. Bewerbungsaufforderung bekannt gemachten Anforderungsprofil zu messen. Das LAG Rheinland-Pfalz hat zudem klargestellt, dass der Arbeitgeber für die Dauer des Auswahlverfahrens an das in der veröffentlichten Stellenausschreibung bekannt gegebene Anforderungsprofil gebunden ist. Für den Nachweis, dass für die Nichteinladung eines Bewerbers zum Vorstellungsgespräch ausschließlich andere Gründe als die Behinderung erheblich waren, kann ein öffentlicher Arbeitgeber nur solche Gründe heranziehen, die nicht die fachliche Eignung betreffen. Beispiel: Die Einladung eines einem Schwerbehinderten gleichgestellten Technikers zu einem Vorstellungsgespräch wegen dessen Bewerbung auf die Stelle eines Arbeitsvermittlers, welche den Abschluss im Bereich der öffentlichen Verwaltung oder eines Fachhochschulabschlusses im betriebswirtschaftlichen oder kaufmännischen Bereich verlangt, ist gemäß 82 SGB IX wegen offensichtlich fehlender Eignung entbehrlich. Einen interessanten Fall zur Frage des offensichtlichen Fehlens der Eignung des schwerbehinderten Bewerbers hatte das Hessische LAG zu entscheiden. Dort sah eine Dienstvereinbarung vor, dass die fachliche Eignung des Bewerbers offensichtlich fehlt, wenn alle am Einstellungsverfahren Beteiligten einstimmig davon ausgehen. Eine solche kollektiv-rechtliche Vereinbarung ist nach Auffassung der Richter unwirksam, da sie gegen das Benachteiligungsverbot des 7 Abs. 2 AGG verstößt. Begründet wurde dies mit dem Argument, dass über die Einstimmigkeit der Eindruck erweckt werde, eine gerichtliche Überprüfung der Voraussetzung offensichtlich fehlender fachlicher Eignung sei nicht mehr möglich. Entschädigung wegen Benachteiligung aufgrund einer Behinderung Der Entschädigungsanspruch nach 15 Abs. 2 AGG setzt zudem einen Kausalzusammenhang voraus. Dieser ist dann gegeben, wenn die Benachteiligung an einen oder mehrere der in 1 AGG genannten Gründe
anknüpft oder dadurch motiviert ist. Nach 22 AGG genügt es dazu, dass der Antragsteller Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen. Eine personenbedingte (später mit Zustimmung des Arbeitnehmers zurückgenommene) Kündigung wegen häufigen und wieder zu erwartenden Arbeitsunfähigkeitszeiten stellt regelmäßig keine hinreichende Indiztatsache für die Vermutung einer Benachteiligung wegen einer Behinderung dar. Auch ein Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtung, ein ordnungsgemäßes betriebliches Eingliederungsmanagement nach 84 Abs. 2 SGB IX durchzuführen, kann allenfalls ein Indiz für die Vermutung darstellen, dass er sich nicht an seine gesetzlichen Verpflichtungen gegenüber Arbeitnehmern mit längeren Krankheitszeiten hält. Dieser Verstoß begründet jedoch keine Vermutung nach 22 AGG für eine Benachteiligung des Arbeitnehmers wegen einer Behinderung. 84 Abs. 2 SGB IX ist nämlich keine besondere Schutzvorschrift zugunsten behinderter Arbeitnehmer, weil diese Norm für alle Arbeitnehmer gilt. Ein Entschädigungsanspruch des Schwerbehinderten wegen Diskriminierung nach 81 Abs. 2 SGB IX in einem Stellenbesetzungsverfahren besteht aber dann nicht, wenn seine Schwerbehinderung erst aufgefallen war, nachdem die Stelle mit einem anderen Bewerber besetzt wurde. aus ZBVr- Online 12/2012