Prof. Dr. Matthias Rossi Richard- Wagner- Str Augsburg. Bundesverfassungsgericht Postfach Karlsruhe. per Telefax:

Ähnliche Dokumente
Deutscher Bundestag. Ausarbeitung. Zulässigkeit einer Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht. Wissenschaftliche Dienste WD /12

Die Rechtfertigung der Fünf- Prozent-Sperrklausel bei der Wahl zum Deutschen Bundestag und ihre Verfassungswidrigkeit im Europawahlrecht

Stellungnahme zur Rechtmäßigkeit der Einführung einer 3%-Hürde bei den Europawahlen. Anhörung am 10. Juni 2013 im Deutschen Bundestag, Innenausschuss

Bundesverfassungsgericht

Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zur Abschaffung der Drei-Prozent-Sperrklausel im Überblick 1

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes zum Zweck des Ausschlusses extremistischer Parteien von der Parteienfinanzierung

Ausschluss von Parteien mit verfassungsfeindlichen Zielen von der staatlichen Parteienfinanzierung und sonstigen Leistungen"

Wahl der besonderen Vertreterversammlung für die Aufstellung von Listenkandidaten zur Bundestagswahl Zur Ausgestaltung durch Parteisatzung

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

Konversatorium Grundkurs Öffentliches Recht I -Staatsorganisationsrecht- Fall 4: Verlängerung der Legislaturperiode

Lösung Fall 1 Die verlängerte Legislaturperiode. Frage 1: Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 Satz 1)

Abweichende Meinung des Richters Müller zum Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar BvE 12/13 -

Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen und wahlrechtlicher Vorschriften (Kommunalvertretungsstärkungsgesetz)

Fall 3: Wahlprüfungsbeschwerde - Lösungshinweise. Die Wahlprüfungsbeschwerde des W hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

Bundesrat Drucksache 154/17. Gesetzesantrag des Landes Niedersachsen

Art.3 des Gesetzes regelt sodann die Abstimmungsmodalitäten, welche den Regelungen des BWahlG entsprechen.

Wahlrecht als materielles Verfassungsrecht

Demokratieprinzip. (Art. 20 Abs. 1; Abs. 2 S. 1 GG; s.a. Art. 79 Abs. 3 GG) Abstimmungen: Entscheidung des Volkes über Sachfragen, zu unterscheiden

ABGEORDNETENHAUS VON BERLIN WISSENSCHAFTLICHER PARLAMENTSDIENST Berlin, den 2. Februar 2016

Andrea Kirsch. Demokratie und Legitimation in der Europäischen Union

Staatsorganisationsrecht Fall 2

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

Statement. Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim Homepage: arnimvon.de

SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG

Aussetzen des Familiennachzugs zu international subsidiär Schutzberechtigten aus verfassungsrechtlicher Sicht

19 Allgemeiner Gleichheitssatz und spezielle Gleichheitsrechte. 1. Warum wird Art. 3 Abs. 1 GG als allgemeiner Gleichheitssatz bezeichnet?

Aufstellung von Listenkandidaten einer Partei

Wissenschaftliche Dienste. Ausarbeitung

Die O-Fraktion kann mit Erfolg gegen das WASG vorgehen, wenn ein entsprechender Antrag vor dem BVerfG zulässig (A.) und begründet (B.) wäre.

Atomkraft nein danke! Lösungsskizze. Vorab: Festlegung der zu prüfenden hoheitlichen Maßnahme: Verbotsverfügung

Europäisches Verfassungsrecht. Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit

Chancengleichheit der politischen Parteien in Griechenland

Vorlage zur Kenntnisnahme

Änderung des Direktwahlaktes Verbindliche Sperrklausel bei Wahlen zum Europäischen Parlament

Gesetzentwurf. 17. Wahlperiode der Fraktionen von CDU/CSU und FDP A. Problem und Ziel

- 2 - B. Lösung Der Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 AEUV hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus fü

Überwachung von Abgeordneten des Deutschen Bundestages durch den Verfassungsschutz

Das allgemeine Gesetz i.s.v. Art. 5 I, II GG BVerfGE 124, 300 Wunsiedel

EuR Fall Semestergebühren

Vergabe der Studienplätze für Humanmedizin ist verfassungswidrig

AUSARBEITUNG. Kommunales Wahlrecht für Ausländer (Drittstaater)

Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe

Verwaltungsgerichtsbarkeit und Vielfalt der Grundrechte

Brandenburgisches Oberlandesgericht. Beschluss

Prof. Dr. Christoph Gröpl. Vorlesung Staatsrecht II (Grundrechte)

VÖLKERRECHT Rechtsbegründende Kraft einseitiger Rechtsgeschäfte, wenn Dritte darauf vertrauen können müssen

Kongress "Ungarns neues Grundgesetz" Fachkonferenz über Europas jüngste Verfassung. am 19. Oktober 2012 in München

Sind Sie angesichts der bestialischen Morde an Kindern in diesem Jahr für die Wiedereinführung der Todesstrafe?

Verfassungsprinzipien. Freiheit und Gleichheit

Leistungsausschluss von der Grundsicherung nach SGB II für Personen unter 50 Jahren

Fall ihrer Beteiligung an Presseunternehmen (2). Schutz der Meinungsfreiheit politischer Parteien durch Art. 5 I 1 GG (a).

2. Eine Aufhebung und Zurückverweisung nach 538 Abs. 2 Nr. 3 ZPO kommt im Verfügungsverfahren nicht in Betracht.

VERFASSUNGSGERICHTSHOF FÜR DAS LAND BADEN-WÜRTTEMBERG. B e s c h l u s s

Fall 8. Organstreitverfahren des A gegen den Bundespräsidenten gem. Art. 93 I Nr.1 GG, 13 Nr.5, 63ff BVerfGG

Grundbegriffe der Staatsrechtslehre Republik, Monarchie, parlamentarische Demokratie. Fall 1: Kaiser Franz I. 14

IM NAMEN DES VOLKES. In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde. gegen a) den Beschluss des Amtsgerichts Tostedt vom 30. März C 14/ 16 -,

Propädeutische Übung im Öffentlichen Recht. Universität Bonn Wintersemester 2010/

NORMATIVITÄT DER VERFASSUNG STAATSRECHT II STAATSORGANISATIONSRECHT VERFASSUNGGEBENDE GEWALT DES VOLKES DR. ULRICH PALM

Düsseldorfer Rechtswissenschaftliche Schriften 135. Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln auf Landesebene

9: Gleichbehandlung und Gleichberechtigung

Schriftliche Stellungnahme zur Vorbereitung der öffentlichen Anhörung des

Rechtmäßigkeitsanforderungen an die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung

Vertrag von Lissabon

Die Ministerpräsidentin Saarbrücken, 30. Januar 2018 des Saarlandes. als Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz übersende ich den

Probeklausur zur Vorlesung Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht, Professor Dr. Christoph Degenhart

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

GRUNDRECHTE Funktion Gewährleistungen Beschränkungen

Fall 11. Frage: Ist der Antrag auf abstrakte Normenkontrolle in der Sache erfolgreich? Die Zulässigkeit ist nicht zu prüfen. Lösungsskizze Fall 11

Universitätsrepetitorium Öffentliches Recht Dienstag, den 10. Januar 2006

Fall 11. Frage: Ist der Antrag auf abstrakte Normenkontrolle in der Sache erfolgreich? Die Zulässigkeit ist nicht zu prüfen. Lösungsskizze Fall 11

Inhalt. 1 Die Grundlagen des Staatsorganisationsrechts 7. I. Der Staatsbegriff 7 II. Unterscheidung Bundesstaat, Staatenbund, Einheitsstaat 10

Wissenschaftliche Dienste. Ausarbeitung. Bund-Länder-Vereinbarungen nach Art. 91b GG Deutscher Bundestag WD /16

Kolloquium. Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. BVerfGE 123, 267 Lissabon

Inhaltsverzeichnis. Vorwort... Vorwort zur 1. Auflage... Abkürzungsverzeichnis und Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur...

Wilko Zicht Wahlrecht.de

Vorlesung Staatsrecht II. Prof. Dr. Dr. Durner LL.M.

Zu Immanuel Kant: Die Metaphysik beruht im Wesentlichen auf Behauptungen a priori

Fall 10 Bananenmarkt Lösung

Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Überprüfung der Genehmigung der vorläufigen Anwendbarkeit des Freihandelsabkommens CETA

STELLUNGNAHME 16/388. darauf ab, eine entscheidungsfähige Vertretung der Wählenden zu konstituieren (vgl. dazu Trute, in:

IV. Die Diskussion um die Abschaffung der Todesstrafe bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes 39

VERFASSUNGSGERICHTSHOF FÜR DAS LAND BADEN-WÜRTTEMBERG. B e s c h l u s s

4 ZA (pat) 59/17 zu 4 Ni 79/17 (EP) 99 Abs. 3 Satz 3 PatG; 31 Abs. 1 Satz 2 PatG; 299 Abs. 2 ZPO

EnEV und Energieausweise 2009

5 Die politischen Parteien. 1. Enthält das Grundgesetz eine Definition des Begriffs der politischen Parteien?

RECHTSGUTACHTEN (KURZGUTACHTEN) Zulässigkeit eines kassatorischen Bürgerbegehrens zum Beschluss des Rates der Stadt Bochum vom

A. Überblick: Wichtige Verfahrensarten im Staatsorganisationsrecht. Ausgangspunkt: Art. 93 GG, 13 BVerfGG

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

Verwaltungsgerichtsbarkeit und Vielfalt der Grundrechte. Univ.Prof. DDr. Christoph Grabenwarter

Konversatorium Grundkurs Öffentliches Recht I Staatsorganisationsrecht. Fall 6: Das Parteienbereinigungsgesetz

Tarifautonomie im Spannungsverhältnis zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag am Beispiel der Tarifverträge der Metallindustrie 1984

Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundestagsfraktionen

I. Sachverhalt. II. Bestellung und Funktion des Vizepräsidenten des Wiener Stadtschulrates

ÖR 15: Verfassungsmäßigkeit der 5%-Sperrklausel im Europawahlrecht

Inhaltsverzeichnis. Vorwort 5. 1 Einleitung Teil: Allgemeine Grundlagen Gesetzliche Regelung 23

Transkript:

Prof. Dr. Matthias Rossi Richard- Wagner- Str. 16 86199 Augsburg Bundesverfassungsgericht Postfach 1771 76006 Karlsruhe per Telefax: 0721 9101-382 Augsburg, den 11.01.2014 Aktenzeichen 2 BvE 2221/13 Sehr geehrter Herr Präsident, mit Blick auf die ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. Lenz vom 19.12.2013, die ich vorgestern, 9.1.2014, erhielt, sowie unter Berücksichtigung des Vermerks des Juristi- schen Dienstes des Europäischen Parlaments vom 16.12.2013 erlaube ich mir eine kurze letzte Ergänzung meiner Stellungnahme vom 9.12.2013: Sowohl der Vermerk des Juristischen Dienstes als auch die ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. Lenz sind der Auffassung, Art. 3 DWA enthalte die Wahlfreiheit des natio- nalen Gesetzgebers als solche als zwingendes unionsrechtliches Postulat, dessen effet utile nicht durch eine Auslegung des nationalen Verfassungsrechts unterlaufen werden dürfe, die diese Wahlfreiheit im Ergebnis vereitele. Diese Auffassung wird das wird der Hohe Senat sicherlich auch ohne diesen Hinweis zur Kenntnis nehmen oder schon ge- nommen haben ebenso in einem jüngst erschienenen Beitrag von Rainer Wernsmann vertreten (JZ 2014, S. 23, 24). Wernsmann führt aus: Es spricht also vieles dafür, Art. 3 DWA [...] die positive Aussage zu entnehmen, dass Sperrklauseln bis zur Höhe von Fünf- Prozent bei Wahlen zum EP nicht in Frage gestellt werden können. Die Zulassung der Fünf- Prozent- Klausel durch das Unionsrecht wäre dann allein durch den EuGH Zu über-

prüfen; dieser hätte Art. 3 DWA dann gegebenenfalls für primärrechtswidrig zu erklären wegen Verstoßes gegen Art. 10 EUV, der das Demokratieprinzip absichert. Indes macht auch ihre wiederholte Behauptung diese Auffassung nicht richtig. Vielmehr sind neben der nur ermächtigenden Wirkung des Art. 3 DWA und dem Gestaltungs- und Verantwortungsbereich, der den nationalen Gesetzgebern von Art. 8 DWA zugewie- senen wird (vgl. S. 2 f. meiner Stellungnahme vom 9.12.2013) folgende Aspekte zu be- denken: 1. Festzuhalten ist zunächst, dass das Grundgesetz kein kategorisches Verbot von Sperrklauseln für die Wahlen des Europäischen Parlaments enthält und das Bundes- verfassungsgericht auch nie ein solches aus dem Grundgesetz abgeleitet hat. Inso- fern widerspricht die unter Punkt 8 geäußerte Auffassung des Vermerks des Juristi- schen Dienstes des Europäischen Parlaments, die sich Prof. Lenz in seiner ergänzen- den Stellungnahme vom 19.12.2013 zu eigen gemacht hat, nicht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.11.2011. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung deutlich herausgestellt, dass weder der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit noch der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Par- teien einem absolutem Differenzierungsverbot unterliegt. Es hat lediglich betont, dass Differenzierungen [...] zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, zwingenden Grundes [bedürfen]. Die von Art. 3 DWA vorausgesetzte, letztlich aber doch durch das demokratische Prinzip und die rechtstaatliche Gewal- tenteilung in den nationalen Verfassungen gewährleistete Freiheit des nationalen Gesetzgebers zur Abgrenzung der individuellen Freiheitsverbürgungen von staats- organisationsrechtlichen Aufgabenzuweisungen sollte auch der Juristische Dienst des Europäischen Parlaments besser von parlamentarischen Gestaltungsspielräu- men denn von Freiheiten sprechen wird auch in Deutschland insoweit nicht ka- tegorisch beschnitten, sondern mit Blick auf die subjektiven Rechte von Wählern und politischen Parteien nur einem besonderen Begründungszwang unterworfen. 2. Wenn der Unterschied zwischen der Auffassung des Juristischen Dienstes und dem Duktus der Entscheidung vom 9.11.2011 also nur in der Frage liegen sollte, welche Anforderungen an die Darlegungslast des nationalen Gesetzgebers zu stellen sind, so ist zunächst hervorzuheben, dass Art. 3 DWA nicht dahingehend verstanden werden kann, dass den nationalen Gesetzgebern eine willkürliche Beschränkung der Wahl- 2

rechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien möglich ist. Willkür- liche Entscheidungen, die zu einer Beschränkung von Rechten, noch dazu von ele- mentaren demokratischen Partizipationsrechten, führen, sind in einer konstitutio- nellen Demokratie schlechthin ausgeschlossen. Weder die nationalen Parlamente noch das Europäischen Parlament, daran muss es mitunter erinnert werden (ich er- laube mir den Hinweis auf Rossi, EuR 2013, 170, 193), stehen außerhalb der Rechts- ordnung, sondern sind verfassungsrechtlich bzw. vertraglich gebunden. Was sodann die Anforderungen an die Darlegungslast betrifft, ist zunächst zu rekapi- tulieren, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.11.2011 in ih- ren tragenden Gründen nicht davon spricht, dass Sperrklauseln nur bei einer dro- henden Funktionsunfähigkeit zulässig seien. Dies ist vielmehr die Formulierung der Richter des Bundesverfassungsgerichts Di Fabio und Mellinghof, die sie in ihren ab- weichenden Meinungen der Entscheidungsbegründung mehr oder weniger in den Mund legen. Die Entscheidung selbst formuliert sehr viel offener: Nur die mit eini- ger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane kann die Fünf- Prozent- Sperrklausel rechtfertigen. Begründet werden diese gesteigerten Anforderungen an die Darlegungslast überzeugend mit dem Argument, dass im Übrigen jegliche Kontrolle unmöglich wäre, dass mit ande- ren Worten willkürliche Entscheidungen möglich wären. Dieser verfassungsgerichtlich präzisierte Maßstab des Verfassungsrechts ist flexibel genug, um dem Parlament politische Handlungsspielräume zu belassen. Er greift entgegen mancher polemischer Kritik an der Entscheidung nicht erst dann, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, wenn das Europäische Parlament sich also nach einer Wahl als handlungsunfähig erweisen sollte. Vielmehr führt er schon im Vorfeld zu einer Rechtfertigung von Verletzungen der Wahlrechts- und Chancen- gleichheit, wie die Formulierung zu erwarten deutlich zu erkennen gibt. Dass die Beeinträchtigung zudem nur mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein muss, betont dabei sogar noch einmal mehr den parlamentarischen Spielraum. Um- gekehrt sind die mit Sperrklauseln verbundenen Eingriffe in die Wahlrechtsgleich- heit und Chancengleichheit der politischen Parteien eben nicht hinzunehmen, wenn überhaupt keine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit zu erwarten ist. Dass inso- fern nicht schon eine erschwerte Entscheidungsfindung und auch nicht eine verfehl- te Mehrheit im Parlament als Funktionsbeeinträchtigung gewertet werden kann, 3

sollte in einer Demokratie, die ja nicht mit den Wahlen aufhört, sondern sich wäh- rend der Legislaturperiode innerparlamentarisch fortsetzt, an sich selbstverständ- lich sein. Es fragt sich insofern, welches Selbstverständnis das Europäischen Parla- ment von sich hat, wenn es eine Funktionsbeeinträchtigung bereits darin erkennt, dass ein Kommissionsvorschlag im Europäischen Parlament einmal nicht die not- wendige Mehrheit erhalten hat (so war wohl der Präsident des Europäischen Parla- ments in der mündlichen Verhandlung zu verstehen). Im Ergebnis gibt es somit keinen Grund, den in der Entscheidung vom 9.11.2011 ge- fundenen Maßstab an die Darlegungslast des Gesetzgebers aufzugeben. Dass seine Anwendung im konkreten Fall zeigt, dass der Gesetzgeber die Drei- Prozent- Sperrklausel nicht zur Abwehr von mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments eingeführt hat, führt nicht zur europarechtlich begründeten Unzulässigkeit dieses verfassungs- rechtlichen Maßstabs, sondern zur verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit der ge- setzlichen Entscheidung. 3. Nicht haltbar ist schließlich die Auffassung, allein der EuGH dürfe über die Zulassung einer Sperrklausel im nationalen Wahlrecht entscheiden (so etwa Wernsmann, JZ 2014, 23, 24). Sie übersieht zunächst, dass es dem EuGH schlicht an einem Maßstab fehlt, um Be- einträchtigungen der Wahlrechtsgleichheit überprüfen zu können. Denn die Wahl- rechtsgleichheit ist wegen der politisch gewollten und vertraglich fixierten Ponderie- rung der mitgliedstaatlichen Kontingente entsprechend ihren Bevölkerungsgrößen kein europarechtlicher Wahlrechtsgrundsatz. Soweit mangels dieses Maßstabs schlicht auf Art. 10 EUV verwiesen wird, der das Demokratieprinzip absichert (Wernsmann, JZ 2012, 23, 24), ist diese Norm viel zu unscharf, um konkrete Folgen für die Verletzung der Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleich- heit der politischen Parteien ableiten zu können. Die Arbeitsweise der Union beruht auf der repräsentativen Demokratie. heißt es in Absatz 1 dort eher im Sinne eines konkretisierungsbedürftigen Organisationsgrundsatzes denn mit präzisen rechtli- chen Folgen für die Aufgaben- und Befugnisverteilung innerhalb der Europäischen Union oder gar für die Rechte der Bürger. Zudem wird der repräsentativen Demo- kratie in der Europäischen Union gerade nicht nur durch das Europäischen Parla- ment, sondern auch durch die nationalen Parlamente Rechnung getragen, wie Art. 12 4

EUV und das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente zum Ausdruck brin- gen. Wie also der EuGH aus dem Demokratieprinzip zunächst eine Wahlrechts- gleichheit destillieren soll, die er anschließend zum Maßstab für Sperrklauseln kon- kretisieren müsste, ohne dabei in Konflikt mit dem bewussten Fehlen des Grundsat- zes der Wahlrechtsgleichheit oder anders ausgedrückt: mit dem bei der Zusam- mensetzung des Europäischen Parlaments bewusst in Kauf genommenen Verstoß gegen diesen Grundsatz zu geraten, bleibt fraglich. Dass der EuGH nicht über die Zulässigkeit von nationalen Sperrklauseln entscheiden darf geschweige denn ausschließlich dazu befugt ist, ergibt sich vor dem Hinter- grund des fehlenden Maßstabs im Übrigen schlicht aus dem Umstand, dass solche Sperrklauseln nicht Europarecht, sondern nationales Recht verletzen. Wenn gleich- wohl die alleinige Zuständigkeit des EuGH für die Entscheidung über nationale Sperrklauseln behauptet wird, wird erneut jener Irrtum sichtbar, der auch schon den diversen kritischen Stellungnahmen gegenüber der Entscheidung des Bundesverfas- sungsgerichts vom 9.11.2011 zu Grunde liegt. Anstatt zu erkennen, dass nationale Sperrklauseln in subjektive Rechte von Wählern und politischen Parteien eingreifen, wird ihre verfassungsrechtliche Unzulässigkeit als Eingriff in wie auch immer defi- nierte Rechte des Europäischen Parlaments gewertet. Dabei hängt doch weder die Charakterisierung noch gar die Wertschätzung eines Parlaments von der Beurteilung seiner Schutzbedürftigkeit ab. Im Gegenteil mag in dem Umstand, dass ein Parlament auch ohne Sperrklauseln funktionsfähig ist, eine besondere Anerkennung zum Aus- druck kommen. Fünfzig Kopien folgen per Post. Mit freundlichen Grüßen Matthias Rossi 5