Klinisch-psychologische Diagnostik und Klassifikation DIPS-Seminar 23.09., 21.10. & 25.11.13 Dr. Esther Biedert Universität Freiburg Schweiz
Übersicht DIPS-Seminar Inhalt der Sitzungen } Übersicht Klassifikation und Multiaxialität } Störungsbilder und deren Diagnosekriterien } Übungen zur Durchführung des DIPS Folie 2
Leistungsnachweis } Regelmässige Teilnahme (Unterschrift) & bestandene Prüfung } 3 CP } Prüfung } DIPS-Video -> u.a. Diagnosen stellen } Anforderungen: DIPS-Durchführung (inkl. Sprungregeln und Diagnosekriterien des DSM-IV-TR kennen) } Interviewleitfaden und Handbuch dürfen verwendet werden Folie 3
Lernziele } Heutige Vorgehensweise der klinisch-psychologischen Diagnostik kennen } Vor- und Nachteile der klassifikatorischen Diagnostik kennen } Vertraut sein mit den Kriterien der klinischen Störungen } DIPS durchgeführt und ausgewertet haben Folie 4
Klassifikation psychischer Störungen
Inhalt Klassifikation } Was verstehen wir unter Klassifikation? } Wie klassifizieren wir? } Gründe pro und contra Klassifikation? Folie 6
Inhalt Klassifikation } Kriterien für die Auswahl von Klassifikationssystemen } Relevanz } Reliabilität } Validität Folie 7
Definition Klassifikation Ihre Definition: Folie 8
Was ist Klassifikation? } Im Bereich psychischer Störungen wird der Begriff Klassifikation nicht einheitlich verwendet: } Mindestens 2 Bedeutungen: } Die Einteilung einer Vielfältigkeit (z.b. Menge von Personen, Merkmalen etc.) in ein nach Klassen gegliedertes System. D.h. eine Gesamtmenge wird unter bestimmten Gesichtspunkten in Teilmengen aufgeteilt (Systematik). } Zuordnung von Personen oder Merkmalen zu vorher festgelegten Klassen (Diagnostik). Folie 9
Wie kann man klassifizieren? (1) } Kategorialer versus dimensionaler Ansatz } Bei der Klassifikation psychischer Störungen sind derzeit kategoriale Systeme vorherrschend } Zugrunde liegende Annahmen kategorialer Klassifikation: } Sinnvolle Gruppierungen der beobachteten Phänomene (z.b.überzufällig gemeinsames Auftreten bestimmter Symptome) } Es bestehen hinreichend qualitative Unterschiede zwischen den Gruppen, die die Einteilung in diskrete Klassen oder zumindest Typen rechtfertigen. Folie 10
Wie kann man klassifizieren? (2) } Prinzipiell sind verschiedene Klassifikationsgesichtspunkte und somit unterschiedliche Klassifikationssysteme psychischer Störungen vorstellbar, z.b. bezüglich: } Erscheinungsbild } Verlauf } Ansprechen auf Behandlungsmassnahmen } Pathogenese Folie 11
Argumente pro und contra Klassifikation Folie 12
Argumente pro Klassifikation } Erleichterte Kommunikation durch klar definierte Nomenklatur } Sinnvolle Informationsreduktion } Ökonomische Informationsvermittlung, da von Diagnose auf Störungsmerkmale geschlossen werden kann } Überzufällig gemeinsames Auftreten von bestimmten Symptomen } Förderung von wissenschaftlicher Wissensakkumulation } Handlungsanleitung } Empirisch überprüfbar führt zu Weiterentwicklung Folie 13
Argumente contra kategoriale Klassifikation } Diagnostische Etiketten (Labels) fördern / bewirken Stigmatisierung } Informationsverlust durch ungenügende Beschreibung des Einzelfalls } Verwechslung von Deskription und Erklärung } Reifikation (Verdinglichung) künstlicher Einheiten } Klassen / Typologien verdecken zugrunde liegende Dimensionen } Mangelnder praktischer Nutzen, da keine spezifische Therapie aus Diagnose folgte } Mangelnde Reliabilität und Validität der Diagnosen Folie 14
Klassifikation hat sich durchgesetzt, weil: (1) } Wachsendes Störungswissen hat zur Entwicklung von störungsspezifischen Therapien geführt. Somit sind vermehrt direkte therapeutische Konsequenzen aus der Klassifikation ableitbar. } Die Zuverlässigkeit von klassifikatorischen Diagnosen ist durch die Einführung von operationalisierten Diagnosekriterien und standardisierten Verfahren zur Befunderhebung deutlich verbessert. } Die Krankenkassenabrechnung erfordert das Vergeben einer klassifikatorischen Diagnose. Folie 15
Klassifikation hat sich durchgesetzt, weil: (2) } Menschen bilden andauernd Hypothesen und suchen aktiv nach konformen Informationen ( confirmation bias ), wohingegen gegensätzliche Informationen nicht aktiv verfolgt oder sogar ignoriert werden. Wenn wir ohnehin klassifizieren, dann ist eine explizite Vorgehensweise einer impliziten vorzuziehen, da erstere überprüfbar ist. Folie 16
Reliabilität (Zuverlässigkeit) (1) } Wie hoch ist das Ausmass an diagnostischer Übereinstimmung? Mangelnde Reliabilität der klassischen psychiatrischen Diagnosen Folie 17
Reliabilität (Zuverlässigkeit) (2) Störungsklasse Anzahl Studien Mittlere Reliabilität Schizophrenie 8.54 Neurotische Depression 5.21 Psychotische Depression 1.19 Persönlichkeitsstörungen 7.29 Neurosen 7.36 Alkoholismus 4.71 (Spitzer & Wilson, 1975) Folie 18
Reliabilität (Zuverlässigkeit) (3) } Mit Ausnahme vom Alkoholismus, bei dem üblicherweise klare externe Hinweise auf die Diagnose vorliegen, war es häufiger der Fall, dass zwei Diagnostiker bei derselben Patientin zu unterschiedlichen Diagnosen kamen, als dass sie übereinstimmten. } Auch bei anerkannten Experten (vier Psychiater) aus derselben Einrichtung, waren die Ergebnisse nicht befriedigend: Bei einer zufällig ausgewählten Stichprobe von 153 neu überwiesenen Patienten erzielten sie eine Übereinstimmung von nur 54%!!! (Beck et al. 1962) Folie 19
Gründe unzureichender Übereinstimmung } Subjektvarianz: Patient wird in verschiedenen Krankheitszuständen untersucht. } Situationsvarianz: Patient wird zu verschiedene Phasen / Stadien einer Störung untersucht. } Informationsvarianz: Verschiedenen Untersuchern stehen unterschiedliche Informationen zur Verfügung. } Beobachtungsvarianz: verschiedene Untersucher gewichten und bewerten die vorliegenden Symptome unterschiedlich. } Kriterienvarianz: unterschiedliche Diagnostiker benutzen verschiedene Kriterien für die Diagnose derselben Störung. Folie 20
Validität (Gültigkeit) } Wie genau bilden diagnostische Kategorien reale Krankheitseinheiten ab? } Reliabilität bewirkt nicht automatisch Validität!!! } Beispiel.: 1. Leer, hohl und plop : Ein Fall für die Psychiatrie? (Rosenhan, 1973) Folie 21
Validität (Gültigkeit): Rosenhan, 1973 (1) }...Bei der Aufnahme sollten sie berichten, dass sie Stimmen hören, die (in dt. Übersetzung) leer, hohl und plop sagen. } Ansonsten völlig zutreffende Angaben über sich und ihre Lebensumstände machen. } Unmittelbar nach der Aufnahme, berichteten die Patienten nicht mehr von diesem Symptom und verhielten sich völlig normal } Alle wurden als psychotisch diagnostiziert (11x als schizophren und 1x als manisch-depressiv!!!) Folie 22
Validität (Gültigkeit): Rosenhan, 1973 (2) } Hohes Ausmass an diagnostischer Übereinstimmung, dennoch alle Diagnosen falsch hohe Reliabilität aber mangelnde Validität! } Klassifikation sehr stabil! Die Diagnose war kaum wieder abzuschütteln. So hiess es bei der Entlassung nicht etwa, es habe keine Störung vorgelegen, die typische Diagnose lautete vielmehr Schizophrenie in Remission. Folie 23
Fazit: Take home message } Klassifikation bringt viele Vorteile, ist aber nicht ungefährlich } Klassifikation ist notwendig, aber im Kontext der individuellen Therapie nicht hinreichend } Wenn wir schon klassifizieren, dann lieber explizit } Für sinnvolle Klassifikation brauchen wir: } Empirisch fundierte Kriterien nach denen Klassen gebildet werden } Gute Erhebungsinstrumente, um Informationen adäquat zu erfassen um sie dann in einem weiteren Schritt in bestehende Klassen einzuordnen Folie 24
Klassifikationssysteme ICD und DSM
Klassifikationssysteme (1) Die beiden wichtigsten und international gebräuchlichsten Klassifikationssysteme: } Das Kapitel V (F) über psychische Störungen der International Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death (ICD) der World Health Organization (WHO) } Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Association (APA). Folie 26
Klassifikationssysteme (2) } In unregelmässigen Abständen Neuauflagen } Neuauflagen durch hinzugefügte Nummerierung gekennzeichnet } Die ICD ist derzeit in der 10. Auflage erschienen (ICD-10; WHO, 1992) } Das DSM ist in der 5. Auflage erschienen (DSM-5; APA, 2013) } Aktuellste deutschsprachige Version: DSM-IV-TR (Textrevision) (2000; dt. Version 2003) Folie 27
Klassifikationssysteme (3) } Unterschiedliche Fassungen des ICD } Grösste Bedeutung: } klinisch-diagnostischen Leitlinien (WHO, 2002) Für allgemeinen klinischen Gebrauch, die Gesundheitsdienste und für Ausbildungszwecke bestimmt } Forschungskriterien (WHO, 2002) Für den wissenschaftlichen Gebrauch gedacht } ICD-10 gilt offiziell für die psychiatrische Versorgung in Österreich, der Schweiz und Deutschland } DSM weltweit häufiger eingesetzt Folie 28
Annäherung beider Systeme (1) } DSM-III (1980): Operationalisierung führt zu erhöhter Diagnosereliabilität } DSM-III gilt als das international am häufigsten eingesetzte Klassifikationssystem (Maser, Kaelber und Weise, 1991). } ICD-10 (1992) und DSM-5 (2013): } starke Annäherung der Systeme (kriterienorientierte Beschreibung einzelner Störungen und genaue Definition der Symptome) Folie 29
Annäherung beider Systeme (2) } Vergleichsstudie zwischen ICD-10 und DSM-IV Diagnosen (Andrews, Slade und Peters, 1999): } Konkordanzrate von 68% über alle Störungskategorien. } Diagnosekriterien der ICD-10 im Vergleich zu DSM-IV weicher } d.h. mit dem ICD-10 wurden mehr Personen als Fälle identifiziert } Aber immer noch unterschiedliche Akzentsetzung Folie 30
Prinzipien der operationalisierten Diagnostik in ICD-10 & DSM-5 (1) 1) Atheoretischer Ansatz: Definitionen der Störungen beruhen auf Beschreibungen der klinischen Merkmale 2) Kriterienorientierter Ansatz: Störungsdefinitionen orientieren sich an beobachtbarem und explorierbarem Verhalten 3) Ausreichende Reliabilität: nur solche diagnostischen Kategorien werden berücksichtigt, die eine Mindestanforderung an die Reliabilität erfüllen Folie 31
Prinzipien der operationalisierten Diagnostik in ICD-10 & DSM-5 (2) 4) Komorbiditätsprinzip 5) Konzept der Multiaxialität Folie 32