Landschaft und Utopie

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1 Peter Dové Landschaft und Utopie Studien zur erzählten Natur in der arabophonen und frankophonen Literatur Marokkos 2010 Harrassowitz Verlag Wiesbaden ISSN ISBN

2 Inhalt Vorwort...VII I. Einleitung 1. Zu den Begriffen Landschaft und Utopie Zum Landschaftsbegriff Utopie und utopische Intention Zur Methode: Ein erzähltheoretischer Ansatz Zum Korpus der Texte: Marokkanische Literatur seit den Achtzigerjahren Zum Paradigmenwechsel in der marokkanischen Literatur Eine Literatur oder zwei Literaturen : Ein komparatistischer Ansatz?..14 II. Fallanalysen 1. Lail Ab zaid: m al-f l [Das Jahr des Elefanten] und Souad Bahéchar: Ni fleurs ni couronnes Zu Lail Ab zaid und Souad Bahéchar Lail Ab zaid: m al-f l [Das Jahr des Elefanten] Zusammenfassung Garten/(ländlicher) Heimatort als Handlungsraum und als Metapher Tradition und kulturelles Erbe: Emblematische Landschaft Souad Bahéchar: Ni fleurs ni couronnes Zusammenfassung Land und Landschaft: Der Hügel Ästhetische Wahrnehmung von Land/Landschaft Ethik und Ästhetik: Zur Figur Chouhayra Stadt und Kunst: Ein offener Raum Allegorisches Erzählen: Eine neue Gesellschaft Schlussbemerkungen Mohammed Khaïr-Eddine: Il était une fois un vieux couple heureux, Légende et vie d Agoun chich und Tobias Vorbemerkung Zu Mohammed Khaïr-Eddine Il était une fois un vieux couple heureux Präsentation Stadt vs. Dorf: Eine zentrale Opposition Konkrete Landschaft Légende et vie d Agoun chich...56

3 VI Inhalt 2.4 Tobias Vorbemerkung Zusammenfassung Landschaften und Gärten: Orte des Glücks Ökologie und Gesellschaftskritik Traumlandschaft Schlussbemerkungen Mu ammad Berr da: a -Øau al-h rib [Das fliehende Licht] Zu Mu ammad Berr da a -Øau al-h rib [Das fliehende Licht] Präsentation Fliehendes Licht Traum-Landschaften: Utopien Al- Aiº n s Traum: Unter Meer F imas Tagtraum: Im Wald Tanger: Kosmopolitischer Raum Schluss: Mise en abyme III. Landschaft und Utopie 1. Utopische Intentionen Utopie: Ein non-lieu Gegenwelten Stadt vs. Dorf (ländlicher, agrarischer Lebensraum) (Einzelne) Figur vs. Gesellschaft Exkurs: Tiere in den écritures carcérales Landschaft und Figur: Ethische Dimensionen Kommentarfunktion von Landschaft Figur und Landschaftswahrnehmung Paradiesische Palimpseste Locus horridus Schönheit: Ethik und Ästhetik Uneigentliche Konstruktion von Landschaft Garten-Landschaft: Ein Paradigma für die marokkanische Literatur Zusammenfassung Bibliografie 1. Primärliteratur Sekundärliteratur Index der behandelten Autoren/Autorinnen und Werke

4 Vorwort Der Umgang des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt ist eines der zentralen Themen unserer Zeit; die Lösung ökologischer Problemstellungen ist zu einer vorrangigen Aufgabe geworden. Und wichtig wird damit auch die Reflexion über das Verhältnis von Mensch und Natur, über das Verständnis des Menschen von Natur. Debatten zu diesem komplexen Thema finden auf verschiedensten Ebenen und in unterschiedlichen Forschungsrichtungen statt. Auch in der Literaturwissenschaft hat dieses Thema an Bedeutung gewonnen, man denke nur an ökokritische Arbeiten oder auch an Studien zum Landschaftsbegriff, die für die vorliegende Studie von besonderem Interesse sind. Bislang aber wurde diese Thematik sowohl für die Literatur arabischer Länder als auch für die arabische Welt insgesamt kaum untersucht. Auch wenn die arabische Welt in einem globalen Kontext und besonders auch als unmittelbarer mittelmeerischer Nachbar Europas von grosser Bedeutung ist, gibt es nur wenige Arbeiten, die sich dem Naturverständnis der Gesellschaften dieser Region widmen. Die vorliegende literaturwissenschaftliche Studie möchte dazu beitragen, diese Frage von Natur für die arabische Welt anhand einer Analyse der zeitgenössischen marokkanischen Literatur in arabischer wie französischer Sprache (ab den Achtzigerjahren) aufzuarbeiten. Sie konzentriert sich dabei auf den Begriff der Landschaft; untersucht wird mit einem erzähltheoretischen Ansatz, wie natürlicher (Landschafts-)Raum erzählt wird, welche Bedeutungen und Werte mit Landschaft verknüpft werden und was als landschaftlich schön empfunden bzw. wie Landschaft wahrgenommen wird. Eine Prämisse der Studie ist, dass Natur wie Landschaft Kategorien sind, die kulturell und historisch verschieden sein können. Jede Gesellschaft kann diese Kategorien anders verstehen und dementsprechend auch das Verhältnis zur natürlichen Umwelt, aufgrund allenfalls unterschiedlicher Vorstellungen von Natur/Landschaft, anders organisieren und damit auf Herausforderungen durch gegenwärtige oder mögliche zukünftige ökologische Schwierigkeiten auch unterschiedlich reagieren. 1 Grundsätzlich gehe ich mit Kirchhoff und Trepl einig, dass man sich, je mehr sich unsere Welt globalisiert und internationale Vereinbarungen auch im Natur- und Umweltschutz getroffen werden, über die Bedeutung von fundamentalen Termini wie Natur und Landschaft verständigen können muss. 2 Literarische Texte wie Kunst im Allgemeinen sind ein Ort, an dem solche Vorstellungen von Natur/Landschaft verhandelt werden. Sie eignen sich damit gut für 1 Vgl. Berque (1994: 17). 2 Vgl. Kirchhoff/Trepl (2009b: 14).

5 VIII Vorwort eine solche Untersuchung, die sich für Natur und Landschaft als kulturgeschichtliche Phänomene interessiert. Eine solche Arbeit kann nun aber nicht nur Aufschluss über das Verständnis von natürlicher Umwelt in der marokkanischen Literatur und Gesellschaft geben, sondern auch, da eine natürliche Umwelt als ein kulturelles Konstrukt immer auch mit verschiedensten Werten versehen wird, über das Selbstverständnis der marokkanischen Gesellschaft. Und das umso mehr, als in vielen Texten der marokkanischen Literatur in arabischer wie französischer Sprache schöne Naturräume überwiegend als Orte eines alternativen, besseren Lebens konstruiert werden: Sie sind utopische Orte der Verwirklichung von Wünschen und Träumen. Anders formuliert ist auch hier das Naturschöne ein exemplarischer Ort gelingender Existenz. 3 Diese utopischen, idealen Landschaften sind dann auch das eigentliche Thema des Buches, denn hier in solchen Ideallandschaften werden explizit die (positiven) Werte und Bedeutungen artikuliert, die Natur/Landschaft zugeschrieben werden. Marokko ist in kulturgeografischer, in ethnischer und sprachlicher Hinsicht ein komplexes, kontrastreiches Land. So ist es landschaftlich sehr vielfältig; von den Ufern des Atlantiks und des Mittelmeers mit den fruchtbaren Küstenstreifen über die Gebirge des Rifs und des Atlas bis hin zu den Wüsten des Südens bietet es eine Vielzahl von Landschaften, in denen eine mehrheitlich rurale Bevölkerung lebt. 4 Obwohl es damit neben riesigen urbanen Zentren wie Casablanca ein in weiten Teilen agrarisch geprägtes Land ist, ist die Literatur jedoch eine überwiegend städtische, d. h. von Autoren verfasst, die in Städten leben (aber nicht zwingend auch dort geboren sein müssen). So ist auch der Kontrast (ländliches) Dorf vs. Stadt ein bedeutendes, wiewohl unterschiedlich akzentuiertes Thema in der zeitgenössischen marokkanischen Literatur. Die Sprachenvielfalt ist ein weiterer komplexer Aspekt der marokkanischen Gesellschaft. Neben dem Arabischen in der Form einer Schriftsprache und mehrerer Dialekte die am meisten verbreitete Sprache in Marokko und dem amazigh als der Muttersprache einer berberischen grossen, in weiten Teilen ruralen Minderheit, hat das Französische weiterhin grosse Bedeutung als Wirtschafts- und Wissenschaftssprache wie auch als Sprache einer Vielzahl literarischer Werke. Insbesondere in den Sechziger- und Siebzigerjahren gab es heftige Diskussionen zwischen den Vertretern eines arabophonen und eines frankophonen Lagers; die Wahl der Sprache wurde als Wahl einer kulturellen Option verstanden und diskutiert. Wenngleich es auch so ist, dass französisch schreibende Autoren sich überwiegend dem Lager der Modernisten zuordnen, so kann hingegen nicht behauptet werden, dass arabisch schreibende Autoren grundsätzlich dem Lager der Traditionalisten angehören. Unter den arabisch schreibenden Autoren gibt es durchaus viele 3 Seel (1996: 9). 4 Vgl. z. B. Dalle (2007).

6 Vorwort IX und bedeutende progressive Autoren. Zudem scheint es, dass in den letzten Jahren diese Diskussion um die franko-arabische Sprachproblematik ruhiger geworden ist; es mehren sich die Anzeichen, dass eine solche Zweisprachigkeit akzeptiert oder zumindest geduldet wird. Jedoch ist an die Stelle dieser Diskussion eine andere Debatte getreten: Gegenwärtig konzentrieren sich die Diskussionen auf das Problem, welchen Status das amazigh in Marokko erhalten soll. Sie zielen damit letztlich auf die Frage, welcher Status der Berberkultur in der bislang als rein arabisch-islamisch definierten nationalen Identität Marokkos eingeräumt werden soll. Auch wenn das Arabische, insbesondere in seiner dialektalen Form, die am meisten verbreitete Sprache ist, sind sehr viele Marokkaner und Marokkanerinnen bi- wenn nicht trilingue (und zwar in den verschiedensten Sprachkombinationen), sodass es nicht selten ist, dass sich die verschiedenen ethnischen und sprachlich-kulturellen Einflüsse wenn auch in unterschiedlicher Intensität de facto durchmischen. Aufgrund der Fragestellung der vorliegenden Arbeit, die sich letztlich für lebensweltliche Aspekte dem Verhältnis des Menschen zur natürlichen Umwelt interessiert, werden sowohl Texte, die in den beiden bislang wichtigsten Literatursprachen Marokkos, nämlich Arabisch und Französisch, untersucht, da damit ein breiteres Spektrum von Landschaftserzählungen erfasst und damit die komplexe und vielfältige Situation Marokkos wenigstens ansatzweise berücksichtigt werden kann. Die Studie ist damit auch eine der ganz wenigen Arbeiten zur maghrebinischen Literatur, in denen sowohl Texte in arabischer wie auch in französischer Sprache behandelt werden. Zudem ist im Kontext der gegenwärtigen Debatten um Interkulturalität, die auch in Europa geführt werden eine Untersuchung der vielsprachigen marokkanischen Literatur, die in vielerlei Hinsicht eben eine plurikulturelle Literatur ist, besonders aufschlussreich. In vielen literarischen Texten wird eine solch kulturell komplexe Situation der marokkanischen Gesellschaft überdies wiederholt thematisiert und verhandelt. Ausnehmend wichtig ist in den letzten Jahren auch die Diskussion um den Status der Berber-Kultur und ihrer Sprache(n) in Marokko geworden. Texte in amazigh konnten jedoch nicht in das Korpus aufgenommen werden, da erstens der Verfasser kein amazigh spricht und zweitens und hauptsächlich auch noch kaum eine literarische, narrative schriftliche Produktion in amazigh existiert. Die Bemühungen um eine einheitliche Schriftsprache tragen erst allmählich Früchte bislang existierte diese Sprache lediglich als Dialekte; bis ins Jahr 2008 sind ungefähr ein Dutzend Texte veröffentlicht worden. 5 Hingegen ist mit dem berberstämmigen frankophonen Autor Mohammed Khaïr-Eddine ein emblematischer Autor der berberischen Kultur in der vorliegenden Studie vertreten. 5 Gespräch mit Ahmed Aassid vom IRCAM (Institut Royal de la culture amazighe) in Rabat im Juli 2008.