DIE PROPHEZEIUNG JEAN-CHARLES WALL DES AFGHANISCHEN TEPPICHS _

Transkript

1 JEAN-CHARLES WALL DIE PROPHEZEIUNG DES AFGHANISCHEN TEPPICHS _

2 Umständen führte mich im Jahre 1991 in ebendieses Geschäft, wo ich genau diesen und keinen anderen Teppich erwarb? Mir schwirrt der Kopf von diesen endlosen Grübeleien, diesen Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Ich merke, dass mein Puls schneller geht, seit ich im Fernsehen die ersten Bilder von den Anschlägen gesehen habe. Er hat sich auch nicht beruhigt, nachdem ich wieder zu Bett gegangen bin. Diese ganze Geschichte ist doch völlig verrückt. 2 Uhr früh, 3 Uhr früh, die Zeit verrinnt in der Nacht, doch ich finde einfach keinen Schlaf. Zu viele Gedanken, zu viele Dinge, die ich nicht verstehe, schwirren mir durch den Kopf. Endlich geht die Sonne auf. Die ganze Nacht sind meine Gedanken um Flugzeuge gekreist und um all die Tragödien und Tränen, die sie gebracht haben. Um jene Flugzeuge, die in den Teppich in meinem Wohnzimmer eingewebt sind.

3 Kapitel 3 Ein dunkles Rätsel wird noch dunkler Am 12. September warte ich morgens in aller Frühe ungeduldig eine einigermaßen zivile Uhrzeit ab, um meinen Freund Roland, der Historiker ist, anzurufen und ihn zu bitten, doch bei mir vorbeizuschauen. Etwas verwundert kommt er bei mir an. Ohne ein Wort der Erklärung zeige ich ihm den Teppich.»Na, was hältst du davon?was soll ich davon halten? Das ist dein alter Teppich. Was soll denn mit dem sein?siehst du das denn nicht?nein, was denn? Hast du einen Fleck draufgemacht?jetzt schau doch mal genau hin: die ganze Darstellung, die Stadt, die Flugzeuge. Erinnert dich das an nichts?nein, wirklich nicht. Das ist dein Teppich mit der Ansicht von New York und den Flugzeugen über der Brooklyn Bridge. Du hast das Ding jetzt schon so lange, dass ich es quasi auswendig kenne.und nichts, was jüngst vorgefallen ist, lässt dich an diesen Teppich denken?wie was jüngst vorgefallen ist? Du meinst doch wohl nicht die Anschläge auf das World Trade Center?Doch, ebendie meine ich. Schau doch mal genauer hin: Was da dargestellt ist, ist exakt der Anschlag auf den ersten Turm.Das ist doch wohl nicht dein Ernst? Wie sollte das denn zugehen? Glaubst du wirklich, die Terroristen haben das Motiv auf deinem Teppich entworfen? Außerdem ist es schon so lange her, dass du ihn gekauft hast. Die Attentäter haben diesen Anschlag doch nicht zehn Jahre lang vorbereitet!«zehn Minuten geht die Diskussion in diesem Stil noch weiter, ehe ich sie beende. Mir wird klar, dass ich ihn nicht überzeugen 20

4 kann. Als er geht, sind wir zwar nicht sauer aufeinander, doch ein wenig nehme ich es meinem Freund schon übel, dass er meine Sicht der Dinge und auch meine Erregung darüber so gar nicht teilen will. Nun bin ich niemand, der sich leicht geschlagen gibt. Ich werde dieser Sache weiter nachgehen. Tags darauf lade ich einen fadenscheinigen Grund vorschützend eine Freundin, ihres Zeichens Teppichliebhaberin, ein, mich doch zu besuchen. Möglichst unauffällig versuche ich, das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken:»findest du nicht auch, dass mein Teppich jetzt eine ganz neue Bedeutung bekommen hat?dein Teppich? Welcher Teppich denn?na, der blaue Teppich, der im Atelier liegt.ach, der Teppich. Den hast du doch jetzt schon gut zehn Jahre!Ja, aber du hast ihn schon lange nicht mehr richtig angeschaut. Wirf doch mal einen Blick drauf und sag mir, ob dir etwas auffällt.«sie kniet sich vor den Teppich, mustert ihn aus nächster Nähe. Keinerlei Reaktion.»Gut, das hier ist eine Ansicht von New York, und mir ist bewusst, dass im Radio und im Fernsehen seit zwei Tagen über nichts anderes berichtet wird als über die jüngsten Ereignisse dort. Trotzdem verstehe ich nicht recht, worauf du hinauswillst.nun gut, wenn du nicht von selber draufkommst, helfe ich dir ein wenig auf die Sprünge. Es ist doch ganz eindeutig: Was du hier siehst, ist eine bildliche Darstellung der Anschläge.Jetzt übertreibst du ein bisschen! Das ist schlicht und einfach eine Darstellung der berühmtesten Brücke der Welt in einer der berühmtesten Städte der Welt, und über der schweben zufällig 21

5 ein paar Flugzeuge am Himmel. Schluss, aus! Wie kommst du nur auf diese komischen Ideen?Wenn du mir nicht glauben willst, von mir aus. Aber wenn du genau hinsiehst, erkennst du, dass die Abbildung der beiden Türme des World Trade Centers genau den Bildern von den Anschlägen entspricht. Da, der brennende Turm, die weißen Schriftzeichen stellen die Rauchsäule dar, die vom Nordturm aufsteigt, die Lage der Brücke, die Flugzeuge am Himmel Also, entschuldige bitte, möglicherweise siehst du das ja alles, aber ich kann dir da nicht folgen.«ich seufze. Dann meint sie:»bist du momentan vielleicht ein bisschen überarbeitet? Schläfst du gut?«sofort unterbreche ich sie mit einer Handbewegung.»Ich kann dir versichern, es geht mir glänzend. Ich bin weder plötzlich übergeschnappt noch leide ich an Schlafstörungen. Meine Interpretation des Teppichs ist nicht dem Hirn eines armen Irren entsprungen. Ich bin im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, und aus genau diesem Grund erkenne ich die Verbindung zwischen meinem Teppich und dem, was am 11. September passiert ist.schon gut, schon gut, ich will mich nicht mit dir streiten. Wolltest du mich sehen, um mir das zu sagen?natürlich! Wieso denkst du, dass das nicht genügt? Wenn ich recht haben sollte, dann ist diese Information möglicherweise von größter Wichtigkeit für die Geheimdienste, den CIA und was weiß ich für wen!ach komm, wo denkst du bloß hin! Lass uns von was anderem reden. Möchtest du nicht ein bisschen raus an die frische Luft? Oder vielleicht ins Kino?«Szenen wie diese wiederholen sich in der Woche nach dem 11. September noch öfter: Ich bitte ein paar Freunde, mich zu be- 22

6 suchen, zeige ihnen den Teppich, frage sie um ihre Meinung Und ihre Reaktion ist stets die gleiche: Skepsis und Spott. Selbst wenn ich sie im wahrsten Sinn des Wortes mit der Nase auf den Teppich stoße zwecklos. Sie sehen einfach nicht, was ich sehe. Ich rede mir ein, es liege nur daran, dass sie nicht wie ich gleichzeitig die Fernsehaufnahmen vom Angriff auf den Nordturm und die Szenerie auf dem Teppich gesehen haben, dass sie nicht wie ich diese identischen Bilder nebeneinander vor Augen hatten. Dennoch lasse ich mich von der Verständnislosigkeit meiner Umwelt nicht beirren. Meine Überzeugung steht fest: Dieser Teppich birgt ein Geheimnis.