Heimkind - Neger - Pionier

Transkript

1 Leseprobe aus: Detlef D! Soost Heimkind - Neger - Pionier Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier. (c) 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek

2 4. Juli Ich habe es geschafft. Innerhalb von 24 Stunden habe ich nicht nur die Choreographie eines hitverdächtigen Songs auf die Beine gestellt nein, mein gesamtes Leben hat eine unglaubliche Wendung genommen. Der Moment ist gekommen, wo all die Anspannung von mir abfallen könnte, doch nichts passiert. Wieso kann ich es nicht genießen? Vor gar nicht allzu langer Zeit saß ich mit einem unüberschaubaren Schuldenberg allein in meiner Wohnung. Vorgestern noch hoffte ich, dass mich irgendjemand anrief, um mir zu meinem 29. Geburtstag zu gratulieren. Heute klingelt mein Telefon pausenlos. Sie bewundern mich: «Großartig», «noch nie erlebt», «Superjob», «professionell schnell», «einmalig». Ich höre, was sie sagen, die einzelnen Worte verstehe ich, doch die Lobeshymnen kommen nicht bei mir an. Ich kann mich nicht über meinen Erfolg freuen. So fing alles an: Das Telefon klingelte. Neugierig, wer mir denn endlich zum Geburtstag gratulieren würde, hob ich ab. Philip Eisenberg, der Produktmanager der Musikfirma BMG, war am Apparat. «Kannst du eine Choreo machen?» Was für eine Frage. «Na klar», antwortete ich und musste nicht lange auf die Details warten. Ohne Zögern rückte Philip mit der Sprache raus und brachte den 9

3 entscheidenden Nachsatz: «Du hast aber nur 24 Stunden Zeit, in einem Tag muss alles fertig sein. Choreo, Kostüme, Tänzer, Reiseorganisation. Ist für die RTL-Sendung Top of the Pops.» Ich schluckte, ließ mir aber nichts anmerken. Mit viel Mühe versuchte ich, meine Stimme zu kontrollieren, und sagte betont sachlich: «Kein Problem.» Als ich aufgelegt hatte, wurde mir für einen Augenblick schwindlig: Wo sollte ich in so kurzer Zeit Tänzer herbekommen? Und was nehme ich für Kostüme? Natürlich musste es was ganz Besonderes sein. «Noch nie gesehen», wie Philip Eisenberg betont hatte. Auch eine Choreographie «irgendwie spacig» lautete die Forderung musste ich mir noch ausdenken. Und diese dann mit den Tänzern einstudieren. Mir blieb wirklich keine Zeit zum Angsthaben. Damals hatte ich noch nicht wie heute ein funktionierendes Netzwerk und mehrere Mitarbeiter; ich war vollkommen auf mich allein gestellt. Aber ich witterte die Gelegenheit. Ich wollte das schaffen, und ich würde das schaffen. Ich begann zu telefonieren, dachte nach und tanzte. Ich wuchs über mich hinaus, und das Unmögliche wurde möglich. Am nächsten Tag, 24 Stunden später, war die Fernsehperformance fertig und meine Tänzer konnten nach Köln zu «Top of the Pops» fahren. Sie tanzten für die damals noch relativ unbekannte italienische Band «Eiffel 65». Gleich nach diesem Fernsehauftritt bei «Top of the Pops» landete die Band auf Anhieb mit ihrem Song «Blue» auf dem ersten Platz der Charts. Mein erster Nummer-eins-Hit. In Windeseile wurde «Blue» der Sommerhit des Jahres 1999, und bei mir blieb 10

4 nichts, wie es war. Es ging aufwärts. Endlich hatte ich erreicht, wovon ich so lange geträumt habe. Der Schweiß der vergangenen Jahre hatte sich gelohnt. Mein Weg, auch wenn er nicht geradlinig war, hatte doch zum Ziel geführt: Ich konnte etwas, was andere Menschen begeisterte. Ich verdiente Geld damit. Ich wurde anerkannt. Würde mein Leben nun in ruhigere Bahnen kommen? Würde ich endlich zu mir selbst finden? Ich wollte es so gern genießen. Aber in mir passierte nichts. Um mich herum überschlugen sich die Ereignisse, ich konnte mich vor lukrativen Angeboten kaum retten, doch ich fühlte kein Glück. Immer wieder horchte ich in mich hinein und wartete auf das kindliche Gefühl der Freude, auf das Kribbeln im Magen und die angenehm wohlige Leichtigkeit im Herzen. Aber in mir war absolut kein Glück zu finden. Was ist los mit mir?, fragte ich mich. Wieso stehe ich immer unter dem Druck, mich beweisen zu müssen, und kann nie zufrieden sein? Wo bleibt das Gefühl, angekommen zu sein? An diesem Punkt begann ich zu ahnen, dass ich einmal etwas verloren habe, das ich nur wiederfinden werde, wenn ich mich mit meiner Vergangenheit auseinander setze. Aber auch heute noch überfällt mich Panik, wenn ich über mein Leben nachdenke. Ich spüre plötzlich wieder die Scham des Kindes Detlef. Dieses Kind ist anders, es ist schwarz, ein «Neger», wie sie damals noch gerufen haben. Diesem Kind ist es peinlich, dass es nicht weiß, wer sein Vater ist. Dieses Kind muss für Jahre ins Kinderheim. 11

5 Dieses Kind wird von seiner eigenen Mutter nicht mehr erkannt. Auch wenn ich, dieses Kind, inzwischen längst erwachsen bin, verfolgt mich noch immer der Makel meiner Kindheit. Denn so empfinde ich es. Sobald ich versuche, mich zu erinnern, wehrt sich alles in mir. Ich fürchte, die «dunklen Flecken» meines frühen Lebens könnten einen Schatten auf mein jetziges, so mühsam erarbeitetes Leben werfen. Doch meine damalige Freundin hat immer wieder nach meiner Kindheit gefragt, und jedes Mal bin ich ausgewichen. Einmal, zu Weihnachten, als sie dachte, es sei eine gute Gelegenheit, mal wieder nachzuhaken, wollte sie wissen, was ich für Erinnerungen an Weihnachten in meiner Kindheit habe. Den Rest dieses «heiligen» Abends habe ich auf dem Klo verbracht. Heulend. Es ließ sich auch vor mir selber nicht mehr verbergen: Mit meiner Vergangenheit hatte ich ein Problem. Doch Ines gab nicht auf und überzeugte mich schließlich von der Notwendigkeit, mich meiner Kindheit zu stellen: «Ohne Vergangenheit keine Zukunft», erklärte sie, und «Du musst doch wissen, wo deine Wurzeln sind». Manchmal, wenn ich mich stark genug fühlte, versuchte ich mich zu erinnern. Aber schon in den Anfängen scheiterte dieses mutige Vorhaben jedes Mal, denn mir fiel nur so wenig ein. War es Selbstschutz? Manchmal hatte ich das Gefühl, aus einem großen schwarzen Loch zu kommen. Selbst die wenigen hellen Flecken der Erinnerung verschwanden sofort in einer Nebelwolke, wenn ich versuchte, mich ihnen zu nähern. Das Einzige, worauf ich mich bei meinen Gedanken an 12

6 früher verlassen konnte, war das stets aufkommende Gefühl von Scham und Peinlichkeit. Ich schämte mich, ein «Neger» zu sein. Auch wenn dieses Wort in meiner Kindheit nicht unbedingt ein Schimpfwort war, so sonderte es mich doch von den anderen ab und bewies mir, dass an mir etwas nicht normal war. Obendrein wurden wir Heimkinder von manchen Menschen als «sozialer Abschaum» diffamiert und als solcher behandelt. Sie wollten nichts mit uns zu tun haben. Und wieder musste ich mit dem Gefühl leben, dass an mir etwas nicht normal war. Aufgewachsen bin ich in der DDR. In der Schule wurde ich ein Pionier, und später trat ich in die FDJ, die Freie Deutsche Jugend, ein wie fast alle Kinder meiner Generation. Die DDR war meine Heimat. Dass es in den Augen vieler Wessis ein Makel war, ein «minderbemittelter Ostler» zu sein, wurde mir nach dem Mauerfall so manches Mal deutlich gemacht. Aber Pionier bedeutet noch etwas anderes: Pionier heißt «Wegbereiter». Ich möchte auch das sein. Ich möchte vielen Menschen Mut machen, ihren Träumen zu folgen. Vielleicht gelingt es mir, dem einen oder anderen zu zeigen, dass es mit eisernem Willen und mit harter Arbeit gelingen kann, seine Träume zu leben, wenn man akzeptiert, wer man ist. Ich habe diesen Schritt getan. Ich bin Heimkind, Neger, Pionier. Ich bin Detlef D! Soost.