Wir haben uns heute versammelt, um auf die 90jährige. Geschichte der österreichischen, demokratischen,
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1 90 Jahre Bundesverfassung Festveranstaltung im Parlament am 7. September 2010 Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben uns heute versammelt, um auf die 90jährige Geschichte der österreichischen, demokratischen, republikanischen Bundesverfassung zurückzublicken, die ja nicht undramatisch verlaufen ist. Am Beginn stand das Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, das in bemerkenswert kurzer Zeit und unter schwierigsten Rahmenbedingungen erarbeitet wurde und am 10.November 1920 in Kraft getreten ist. Hans Kelsen, Karl Renner, Ignaz Seipel und Otto Bauer waren am Zustandekommen dieser Verfassungsurkunde in besonderer Weise beteiligt.
2 2 Niemand wird leugnen, dass es zwischen der Geschichte eines Landes und der Verfassungsgeschichte dieses Landes enge Verbindungen und Zusammenhänge gibt. Allerdings weist Österreich auf diesem Gebiet Besonderheiten auf. Denn die Geschichte der sogenannten I. Republik, die schon nach eineinhalb Jahrzehnten in eine Katastrophe mündete und die bis heute 65jährige Geschichte der II. Republik, die man alles in allem als Erfolgsgeschichte bezeichnen kann, sind total unterschiedlich. Und dennoch spielen sie sich im Großen und Ganzen auf der gleichen verfassungsrechtlichen Grundlage ab. Denn Österreich hat nach dem Ende des II. Weltkrieges anders als in vielen anderen europäischen Staaten verfassungsrechtlich Kontinuität zur Vorkriegszeit hergestellt.
3 3 Im Artikel 1 der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 kundgemacht im Staatsgesetzblatt Nummer 1 aus 1945 heißt es: Die demokratische Republik Österreich ist wieder hergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten. Diese Festlegung auf ein selbständiges demokratisches Österreich im Geiste der Verfassung von 1920 wurde im Verfassungs-Überleitungsgesetz dahingehend präzisiert, dass die Verfassungslage vom 5. März 1933, also vor dem Beginn der Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie, Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der II. Republik sein sollte. Die I. Republik im Zeitraum vom 1. Oktober 1920 bis zum 5. März 1933, sowie die II. Republik mit dem Gründungsdatum des 27. April 1945, sind also durch die Klammer einer gemeinsamen Bundesverfassung miteinander verknüpft.
4 4 Dazwischen lag einerseits die Periode vom 5. März 1933 bis zum 13. März 1938, die man als die Zeit der Diktatur des Ständestaates bezeichnen kann und muss, und die Zeit vom 13. März 1938 bis zum 27. April 1945, also die Zeit der nationalsozialistischen Gewalt- und Terrorherrschaft, als Österreich von der Landkarte gelöscht war. In Summe 12 Jahre, in denen jene österreichische Bundesverfassung, deren 90. Geburtstag wir heute feiern, entweder nicht in Kraft war oder de facto keine Anwendung mehr fand. Dennoch darf man um auch das klarzustellen die beiden Perioden nämlich den autoritären Ständestaat und das totalitäre NS-Regime natürlich nicht in einen Topf werfen. Der Unterschied war so groß, dass er nach 1945 eine dauerhafte Zusammenarbeit der Bürgerkriegsgegner von 1934 ermöglicht hatte.
5 5 Meine Damen und Herren! Österreich war nicht das einzige Land in Mitteleuropa, wo die Demokratie nach dem I. Weltkrieg und nach den Folgen des I. Weltkrieges, zu denen auch die oktroyierten Friedensverträge ihren Teil beigetragen haben, die in sie gesetzten Hoffnungen und Erwartungen vieler Menschen nicht erfüllen konnte. Im Gegenteil: Gegner der Demokratie unterschiedlichster Provenienz fanden damals in Mittel-, Süd- und Südosteuropa einen fruchtbaren Boden vor, der durch die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse und durch die Zerrissenheit der Gesellschaft gedüngt wurde und dem demokratischen Wettbewerb und dem friedlichen Machtwechsel wenig Chancen ließ. Hitler in Deutschland, Mussolini in Italien, Horthy in Ungarn, Pilsudski in Polen, Antonescu in Rumänien, aber auch Franco in Spanien und Salazar in Portugal etc. waren wenn auch in
6 6 Abstufungen - Resultate der Verächtlichmachung von Demokratie und Parlamentarismus, die - unter nahezu aussichtslosen und deprimierenden gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen - die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnten. Das mündete in der Sehnsucht nach dem sogenannten starken Mann, nach autoritären Regierungsformen, was ja auch die Entwicklung in Österreich prägte und hatte auch einen maßlos übersteigerten Nationalismus zur Folge. Ein Staat, den keiner wollte lautete die zu einem Buchtitel komprimierte Kurzformel für die Einstellung allzu Vieler gegenüber dem Österreich der I. Republik. Diese Feststellung ist nicht als Entschuldigung für die dramatischen Ereignisse zu verstehen, aber notwendig, um die Schwierigkeiten der damaligen Situation richtig einzuschätzen. Das katastrophale Ende dieser Entwicklungen ist bekannt.
7 7 Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die verfassungsrechtliche Kontinuität von der I. zur II. Republik war bemerkenswerterweise keineswegs ein Hindernis für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in Politik, politischer Kultur und Demokratieverständnis. Der Verlust der Demokratie unter schwersten Opfern ließ viele Menschen den Wert der Demokratie nach 1945 besser erkennen und verstehen. Das ist eine Lehre, die nie vergessen werden darf. Die Demokratie der II. Republik ist nicht Mittel zum Zweck, daher auch nicht Vorstufe zu irgendwelchen ismen, sondern sie ist ein unveräußerlicher Wert für sich. Politische Auseinandersetzungen werden auch in der II. Republik mit großer Härte und manchmal leider auch jenseits
8 8 der Grenzen, die von Gesetz, politischer Kultur oder Geschmack gezogen werden, geführt. Aber sie können immer nur den Zweck haben, die eigene Position im politischen Wettbewerb zu stärken, aber nie den Sinn, politische Gegner zu vernichten oder einmal errungene Macht gegen künftige demokratische Veränderungen irreversibel abzusichern. Die Demokratie kennt Gegner, aber keine Feinde schon gar keine Todfeinde. Und in der Demokratie gilt die Verfassung für alle: Für die Mehrheit und für die Minderheit. Für die Regierung und für die Opposition. Für den Staat und für den Einzelnen. Daran haben wir uns zu orientieren. Demokratie ist jenes politische System, das den friedlichen Machtwechsel ermöglicht. Aber sie ist nicht unzerstörbar. Sie muss gewollt und gelebt werden. Die Demokratie braucht Demokraten. Zu ihren Feinden zählt auch der Sumpf politischer
9 9 oder wirtschaftlicher Unkultur, der vereinzelt noch immer den verhängnisvollen wenn auch gedankenlosen Ruf nach dem sogenannten starken Mann auslösen kann. Meine Damen und Herren! Das österreichische Verfassungssystem ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass Verfassungsänderungen relativ leicht möglich sind. Dies, sowie die rasante gesellschaftliche Entwicklung in der II. Republik, hat zu einer auch im internationalen Vergleich enorm großen Zahl von Verfassungsänderungen in Österreich geführt: Seit Erlassung des B-VG hat es insgesamt 100 ausdrückliche Verfassungsnovellierungen gegeben. Von den 152 Artikeln des B-VG aus 1920 sind nur 21 unverändert geblieben. Insgesamt wurden seit 1945 ca. 20
10 10 neue Themenkomplexe verfassungsrechtlich geregelt und damit auch neue Artikel in die Bundesverfassung aufgenommen. Darüber hinaus wurden und werden auch außerhalb des B-VG in anderen Gesetzen Verfassungsbestimmungen aufgenommen, die inhaltlich gleichfalls Änderungen des Verfassungsbestandes darstellen. Umgekehrt ist es seit 1920 nie gelungen, den vor 90 Jahren als Provisorium in die österreichische Verfassung aufgenommenen Grundrechtskatalog von 1867 durch einen modernen Grundrechtskatalog umfassend zu ersetzen, auch wenn es wichtige Ergänzungen des bestehenden Grundrechtsbestandes gegeben hat, wie etwa in Bezug auf die Freiheit der Kunst, das Fernmeldegeheimnis oder den Datenschutz. Auch die im Verfassungsrang stehende EMRK spielt natürlich eine wichtige Rolle. Dies alles hat auch Anlass für Kritik an der österreichischen Bundesverfassung und am Verfassungsgesetzgeber geboten.
11 11 Am prägnantesten und härtesten war diesbezüglich wohl der frühere österreichische Justizminister und Universitätsprofessor für Verfassungsrecht Hans Klecatsky, der schon vor vielen Jahren von einer inneren und äußeren Ruinenhaftigkeit der Österreichischen Bundesverfassung gesprochen hat. Er meinte damit auch den starken Einfluss von Institutionen auf den Entscheidungsprozess, die in der Verfassung gar nicht verankert sind, wie die früher so wichtigen Koalitionsausschüsse oder auch das Phänomen der Sozialpartnerschaft. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, dass den Schöpfern unserer Bundesverfassung unter schwierigsten Bedingungen eine einstimmige Beschlussfassung in der Konstituierenden Nationalversammlung gelungen ist, was eine beachtliche Leistung war. Und man darf nicht übersehen, dass die Weiterentwicklung der Verfassung in der II. Republik nicht
12 12 nur manchen Verfassungsschotter produziert hat (Andreas Khol), sondern auch wichtige, wertvolle und sinnvolle neue Elemente in die österreichische Bundesverfassung eingebaut wurden. Darüber hinaus musste und muss unsere Bundesverfassung dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union und der Weiterentwicklung der Europäischen Union angepasst werden. Dieser Beitritt erfolgte am 1. Jänner 1995 und die damit verbundene Verfassungsänderung war zweifellos der größte Eingriff in das Österreichische Verfassungsrecht seit 1945, der auch einer Volksabstimmung unterworfen wurde. Diese Volksabstimmung ist in verfassungskonformer Weise von der erforderlichen Zahl von Mitgliedern des Nationalrates verlangt worden, hat am stattgefunden und hat eine Zustimmung von etwa 66% der gültigen Stimmen ergeben.
13 13 Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie kann und soll es mit der österreichischen Bundesverfassung weitergehen? Ich habe beim 80. Geburtstag der Österreichischen Bundesverfassung vor 10 Jahren gemeint, dass es angemessen wäre, eine hochrangige Verfassungsreform- Kommission zu bilden, mit dem Ziel, zu einigen wichtigen Themen der Verfassungsdiskussion in Österreich gut durchdachte Vorschläge auszuarbeiten und damit unsere Verfassung in sinnvoller Weise weiterzuentwickeln. Eine solche Verfassungsreform-Kommission ist in Form des Österreich-Konvents eingesetzt worden und hat gute und wichtige Arbeit geleistet. Nicht möglich war es allerdings, über eine Gesamtreform der Österreichischen Bundesverfassung, also über ein neues Bundes-Verfassungsgesetz, Einvernehmen herzustellen.
14 14 Es liegen aber genügend Bausteine für eine sinnvolle Weiterentwicklung der Österreichischen Bundesverfassung auf dem Tisch, und es kommen auch immer wieder neue Aufgaben und Problemstellungen auf uns zu, die es sinnvoll und notwendig machen, der Verfassungsdiskussion weiterhin größte Aufmerksamkeit zu widmen. Schließlich sind in der laufenden Legislaturperiode noch drei Jahre Zeit, um gute Arbeit für eine sinnvolle Weiterentwicklung unserer Bundesverfassung auf möglichst breiter Basis zu leisten. Ich wage allerdings nicht zu prophezeien, ob es im Zeitraum bis zum 100. Geburtstag unserer Bundesverfassung möglich sein wird, eine Gesamtreform der Österreichischen Bundesverfassung zustande zu bringen, oder ob sich der Verfassungsgesetzgeber so wie in den letzten Jahrzehnten
15 15 auf einzelne Schritte zur Weiterentwicklung und Modernisierung unserer Verfassung konzentrieren wird. Über eines kann aber kein Zweifel bestehen: die Verfassung unseres Landes soll nicht nur an Gedenktagen und runden Geburtstagen gefeiert werde, sondern sie muss Tag für Tag gelebt und von allen beachtet werden.
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