Liebe Gemeinde, du siehst heute aber nett aus!
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- Uwe Seidel
- vor 6 Jahren
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1 Liebe Gemeinde, du siehst heute aber nett aus! Diese Aussage aus dem Mund einer Mutter zu einer Sechzehnjährigen bringt den Teenager dazu, in Tränen auszubrechen, ins Zimmer zu stürmen und sich komplett von Kopf bis Fuß umzuziehen. Dieselbe Aussage aus dem Mund des smarten Elftklässlers bewirkt eine andere Reaktion. Um ein Kind großzuziehen braucht es ein ganzes Dorf, sagt man; und auch bei Erwachsenen ist es vermutlich oft so, dass wir uns von manchen auf keinen Fall dreinreden lassen 1 / 14
2 und andere können uns - fast - jeden Floh ins Ohr setzen. Können uns für Sachen begeistern, die wir aus anderem Munde oder in anderem Zusammenhang vielleicht sogar ablehnen würden oder jedenfalls nicht genauer betrachten. Dem wollen wir als Kirchengemeinde Rechnung tragen; drum sind auch immer mal wieder wechselnde Pfarrer und Prediger hier im Einsatz - was Sie mir nicht glauben, nehmen Sie einem anderen vielleicht eher ab. Und drum ist es auch genial, dass es nicht nur ein Evangelium gibt. Sondern vier. Vier sehr unterschiedliche. Mt, Mk, Lk, Joh. Gehen wir sie durch! 2 / 14
3 1. Matthäus - ein langes Evangelium. Es richtet sich vor allem an die Judenchristen, also an das alte Gottesvolk; damit die Schrift erfüllet werde!, heisst es bei Matthäus ganz oft; er sagt, ihr wartet doch schon so lange auf den Messias. Habt klare Vorstellungen aus der Schrift, wie er sein soll - schaut euch doch den Jesus an! Da erfüllt sich alles, da isses genau so, wie es vorhergesagt ist - und daran seht ihr, dass er es wirklich ist! 2. Ganz anders Markus! Das kürzeste Evangelium. Das geheimnisvolle Evangelium. Jesus heilt die Menschen, aber sie dürfen nicht drüber reden. Jesus erklärt sich den Menschen, aber sie verstehen es nicht. 3 / 14
4 Gott zeigt sich den Menschen, aber sie merken es nicht. Und Markus sagt, das musste auch so sein - denn man versteht den Jesus erst, wenn er gekreuzigt wurde. Und wenn Jesus nicht gekreuzigt worden wäre. dann hätten die Menschen es nie kapiert, worum es ihm geht. 3. Lukas dagegen sagt, die Erdenzeit Jesu ist kein Geheimnis, sondern das Zentrum der Weltgeschichte! Jesus ist die Mitte der Zeit, das ist der mit der Weihnachtsgeschichte und mit dem Simeon im Tempel, der das kleine Jesuskind auf die Arme nimmt und sagt, Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben dein Heil gesehen. Jesus war da, jetzt ist alles gut; jetzt kann bei der Kirche der Alltag einkehren, wo man sich um die Armen und Kranken kümmert und um die Mission der Heiden, so dass alle von Gott erfahren; alles, was notwendig ist zur Erlösung, ist in den Erdentagen von Jesus bereits passiert. 4 / 14
5 Ihr müsst es bloß noch erfahren, begreifen - und glauben. Ganze infach eigentlich... Matthäus, Markus, Lukas - welcher von den Dreien liegt Ihnen am meisten? Wessen Argumente, welche Herangehensweise überzeugt Sie, wer provoziert Ihren Widerspruch? Vielleicht sind Sie skeptisch, ob Jesus die Erfüllung des Alten Bundes, des Alten Testamentes ist - Sie sagen, das glaub ich nicht. Dass sich alle Verheißungen und Weissagungen für einen Messias aus vielen Jahrtausenden in einer einzigen Person erfüllen. Und dass Jesus so völlig unverständlich gewesen sein soll wie bei Markus - das können Sie sich auch nicht vorstellen. 5 / 14
6 Aber Jesus als eine ganz und gar historische Person, weit weg in der Geschichte, einer vergangenen Epoche? Mit dieser merkwürdigen Erzählung aus Emmaus, wo Jesus genau dann verschwindet, als ihn die Jünger endlich erkennen - am Brotbrechen? auch nicht Ihr Jesus? Dann bring ich Ihnen heute vielleicht Ihren Evangelisten. Den ganz anderen Die anderen drei, Mt, Mk und Lukas - die haben alle voneinander abgeschrieben; die sind sich oft ganz ähnlich, sie wollen letztlich die Geschichte Jesu nacherzählen. Johannes will mehr. Johannes erzählt nicht nur, schreibt keine chronologische Biografie - 6 / 14
7 sondern er entfaltet ein ganzes Bekenntnis, er schreibt eine theologische Novelle, mit langen Monologen und Dialogen. Er beschreibt nicht einfach nur einen Menschen und das, was der getan und geredet hat, sondern er bekennt / er behauptet? / : in diesem Mann Jesus Christus hat Gott selbst unter uns gewohnt und wir sahen seine Herrlichkeit.. Unter den Menschen gewohnt hat Gott ja für die Israeliten auch in der Stiftshütte mit der Bundeslade bei der Wanderung durch die Wüste, aber da hat man eben Gottes Herrlichkeit nicht sehen dürfen. Und wer die Bundeslade angefasst hat, ist vom Blitz getroffen worden und tot umgefallen. Aber für Johannes hat in Jesus Gott selbst unter den Menschen gewohnt, man hat ihn sehen, hören und sogar anfassen können. Von einer Berührung ging heilende Kraft aus, kein tödlicher Blitzschlag. 7 / 14
8 In den drei anderen Evangelien geht es um die Herrschaft Gottes: wie man sich das vorstellen soll und worauf es ankommt, Gott lieben und den Nächsten lieben, so wie Jesus eben auch gelehrt hat. Bei Johannes ist dagegen Jesus selbst das Thema. Weil er den vater offenbart, weil er höchstpersönlich von Gott selbst gesandt ist, und niemand!, sagt Jesus, niemand kommt zum Vater - außer durch mich. An Jesus führt kein Weg vorbei, das ist Johannes wichtig. Sie erinnern sich an diese Geschichte aus dem Alten Testament, weit, weit vor Jesus: 8 / 14
9 Die Israeliten leben als Sklaven in Ägypten, und sie leiden, weil sie so schuften müssen. Mose geht zum Pharao und bittet sie frei. Der Pharao will erst nicht, hin und her, es gibt die Plagen, ja, nein, doch - schließlich zieht das Volk Israel aus, aus Ägypten, unter Gottes Schutz in der Wolke bei Tag und der Feuersäule bei Nacht; durchs Rote Meer, und dann durchqueren sie die Wüste. Und Gott versorgt sie, auch in der Wüste. Mit Brot, das vom Himmel fällt, Manna!, diesen kleinen Körnern, die man mahlen kann, um Brot draus zu backen; für Israel DER Inbegriff himmlischer Fürsorge, Götterspeise sozusagen, Gott lässt vom Himmel regnen, was sie zum Überleben brauchen, jeden Tag aufs Neue, unglaublich. Brot des Lebens. Und jetzt kommt Jesus, und bei Johannes behauptet dieser Jesus: ICH BIN das Brot des Lebens. 9 / 14
10 Damit behauptet er: ich bin so wichtig für dich und dein Leben, ich übertreffe sogar DAS zentrale Versorgungswunder der Israeliten, DIE entscheidende Heilstat des Herrn, ich bin noch wichtiger, noch zentraler als damals das Manna in der Wüste. Ich bin alles, was ihr zum Leben braucht, und ohne mich könnt ihr nicht überleben. Denn das ist die Bestimmung von Jesus bei Johannes: uns überleben zu lassen. Sein Leben hinzugeben für uns; den Willen des Vaters zu erfüllen am Kreuz und uns vorzuführen, was Hingabe ist und was Liebe ist. Die Geschichte vom leiden und Sterben Jesu ist bei Johannes nicht sehr viel anders erzählt als bei den anderen; das letzte Abendmahl fehlt, statt dessen wäscht Jesus den Jüngern die Füße - kein Sakrament der Kirche, sondern Liebe und Hingabe - 10 / 14
11 und noch einen weiteren wichtigen Unterschied hat die Passionsgeschichte Jesu bei Johannes gegenüber den anderen Evangelien: Jesus bleibt souverän. Immer. Bis zum Schluss. Sie haben aus der Passionsgeschichte einzelne Szenen vor Augen: Jesus schwitzt Blut, er verzweifelt, er ringt mit der Angst und ruft, lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Er schreit, mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Das ist alles aus den ersten drei Evangelien. Johannes beschreibt Jesus in seinem Leiden ganz anders. Da bleibt Jesus völlig aufrecht. Souverän. 11 / 14
12 Keine menschliche Angst ficht ihn an, er vollbringt, fast möchte man sagen: seelenruhig - den Plan Gottes, er ist eins mit dem Vater und gibt sein Leben aus freien Stücken - freiwillig. Jesus opfert sich freiwillig. Er behält bis zum Schluss das Heft in der Hand, hat die Handlungsautorität. Denken Sie an die Gespräche zwischen Jesus und Pilatus. Und bei Johannes stirbt Jesus nicht schreiend - sondern er sagt, es ist vollbracht. Souverän bis zum letzten Atemzug, und der ungläubige Thomas darf später auch noch den Finger in die Wunde legen. Der, der gelebt hat - und gelehrt und geheilt und gepredigt - es ist derselbe wie der, der gekreuzigt wurde und der, der später erschienen ist. 12 / 14
13 Nun ist ja der Tod des Stifters einer Religion nach einem Urteil in einem Strafverfahren eigentlich der denkbar schlechteste Zeitpunkt/Ausgangspunkt, um Gläubige zu sammeln. Fans. Followers. Jünger. Erstaunlich, dass genau das beim Christentum gelungen ist. Und sicher eben auch, weil nicht nur einer geredet hat, nicht nur eine Überlieferung da ist von Jesus - sondern weil man diese unglaubliche Figur, diesen Menschen Jesus eben von so vielen Seiten betrachten kann, und alle haben irgendwo recht. Sogar wenn sie sich mal widersprechen. Nicht nur einer, sondern immer mal ein anderer - wir lesen in der Kirche nicht nur Mt., Mk., Lk oder Johannes im Gottesdienst - wir wechseln auch die Pfarrer ab - immer mal wieder ein anderer. Die Evangelischen insbesondere dulden, fördern und wollen die Vielfalt, das Ringen um die 13 / 14
14 Wahrheit, statt dass es nur eine geben darf - nur einen Papst, nur eine Lehrmeinung für alle. Suchen Sie sich mal bewusst das Johannesevangelium raus in der Familienbibel, und lesen Sie sich mal hinein. Es geht nicht mit der krippe los, mit Weihnachten im Stall von Bethlehem; sondern es fängt an mit einem prolog: Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Lassen Sie sich einfangen und vielleicht sogar mitreissen von diesem nochmal ganz anderen Blick auf Jesus, und denken Sie nachher beim Abendmahl an das Manna in der Wüste; denn Jesus spricht: Ich bin das Brot des Lebens, und wer zu mir kommt, der wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Joh 6,35) Amen. 14 / 14
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