Dr. Thilo Sarrazin Politischer Aschermittwoch der SPD Mitte am 25. Februar 2004

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1 Dr. Thilo Sarrazin Politischer Aschermittwoch der SPD Mitte am 25. Februar 2004 Es gilt das gesprochene Wort! 1

2 In Zeiten, in denen die SPD zwischen 20 und 25 % pendelt, macht sich leicht Katerstimmung breit und wer ist nicht frustriert über aktuelle Meinungsumfragen. Wichtiger aber ist, sich zu überlegen, ob man das Richtige tut, und ob man es richtig vermittelt. Da kann man gar nicht selbstkritisch genug sein. Das bekanntlich eher der CDU zugeneigte Allensbach-Institut hat vor zwei Wochen in der FAZ eine Analyse veröffentlicht, die vereinfacht zu dem Ergebnis kommt, nicht einzelne Reformfehler hätten die SPD ins Umfragetief gebracht, sondern der Reformkurs überhaupt, weil die Bevölkerung zumindest der Teil, der potentielle SPD-Wähler darstellt einfach nicht akzeptiere, dass sich etwas ändern müsse jedenfalls dann nicht, wenn es das eigene Portemonnaie oder die eigene Lebenslage betreffe. Ich glaube, da ist etwas dran, aber man darf nicht die falsche Lehre daraus ziehen. Nachdem 20 Jahre lang wichtige Reformen des Sozialstaats und des Arbeitsmarktes verschleppt wurden, muten wir jetzt der Bevölkerung etwas zu, auf das viele von ihrem Lebensgefühl und ihren Emotionen her nicht vorbereitet sind. Aber was folgt daraus? Die SPD hat einen Ruf als Reformpartei. Damit haben wir in der Vergangenheit mal Wahlen gewonnen. Aber Reform ist nicht gleich Reform: Die Reformen der sechziger und siebziger Jahre, mit denen die SPD Wahlen gewann, waren fast durchweg Reformen, die unseren Wählern einen unmittelbaren Gewinn an Einkommen, an Sozialer Sicherheit oder an Lebenschancen brachten. Die heutigen Reformen sind fast durchweg Reformen, die von einzelnen oder von Gruppen Verzichte und Opfer bedeuten, um unsere eigene Zukunft und die unserer Kinder zu sichern. Das ist schwer vermittelbar in einer Gesellschaft, in der jeder zunächst ins eigene Portemonnaie schaut. Da ist vielmehr Geschick gefragt, und kleine Fehler im Handwerklichen oder in der öffentlichen Darstellung haben große negative Wirkungen. Das erleben wir gegenwärtig. Die Antwort kann aber nicht sein, so zu tun, als ob wir das Jahr 1970 noch hätten. Damit würden wir den Belangen derer, denen wir uns besonders verbunden fühlen, den größten Schaden zufügen. Mit drei Dingen müssen wir uns auseinandersetzen, um unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinder zu sichern: 1. Jede neugeborene Generation ist um ein Drittel kleiner als die vorhergehende. 2. Wir leben immer länger. 3. China und Indien wachsen mit 5 bis 8 % pro Jahr und werden in wenigen Jahren mehr Industrieprodukte herstellen als Europa oder die USA. Das bedeutet: 1. Vom vorhandenen Wohlstand müssen die jungen und mittleren Jahrgänge mehr abgeben an die Alten, trotzdem wird das Rentenniveau sinken. 2

3 2. Die Wachstumsmöglichkeit unserer Arbeitseinkommen wird begrenzt durch die Konkurrenz der neuen Wettbewerber. In wenigen Jahrzehnten wird das Arbeitseinkommen eines deutschen Facharbeiters oder Ingenieurs nicht höher sein als das seines genauso leistungsfähigen chinesischen oder indischen Kollegen. Als Sozialdemokraten sollten wir uns darüber freuen. Milliarden Menschen in Fernost werden sich schon bald unserem Lebensstandard nähern. Das faktische Industriemonopol des Westens (und später auch Japans), das 150 Jahre bestand, geht seinem Ende entgegen. Das sorgt für Wohlstand in den aufstrebenden Volkswirtschaften, aber es begrenzt auch unsere Möglichkeiten, Wirtschaftswachstum zu erzielen und künftig Arbeitskommen zu steigern. Das geht am ehesten noch mit Intelligenz und Innovation. Aber machen wir uns keine Illusionen. Inder und Chinesen sind auch nicht dümmer als wir, bestimmt nicht fauler und auf die Dauer keineswegs schlechter ausgebildet. Um die Zukunft zu meistern, brauchen wir: Eine Rentenreform, die die Last der Geburtenarmut und der wachsenden Lebenserwartung gerecht zwischen den Erwerbstätigen und den Menschen im Rentenalter verteilt. Wir brauchen eine Familienpolitik, die die Geburtenarmut bei ihren Ursachen packt und die demographisch richtigen Anreize schafft. Wir brauchen eine Gesundheitsreform, die die Auswirkungen des medizinischen Fortschritts und des wachsenden Anteils alter Menschen gerecht kanalisiert. Wir brauchen ein System von Steuern und Sozialausgaben, das den arbeitenden Menschen nicht erdrosselt, das Arbeitsanreize schafft und die Arbeitskosten eher senkt als erhöht. Wir brauchen eine Unternehmensbesteuerung, die einen gerechten Finanzierungsbeitrag der Unternehmen sichert, aber für ausländische Investitionen attraktiv ist und das Kapital im Land hält. Wir brauchen ein Bildungssystem, das die Intelligenz- und Leistungspotentiale der immer kleiner werdenden Zahl junger Menschen voll entwickelt, denn davon lebt letztlich die Volkswirtschaft und die Finanzierbarkeit des Sozialstaats. Wir brauchen ein Innovations- und Forschungsumfeld, das unsere besten Köpfe in Deutschland hält und weltweit die besten Köpfe anzieht. Wir brauchen Arbeitsmarktstrukturen, die den unterschiedlichsten Neigungen und Talenten die Möglichkeit und den Antrieb geben, einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Dazu gehört auch, dass wir Fehlanreize in unseren Sozialsystemen beseitigen. 3

4 Zuallerletzt: Wir brauchen eine Finanzpolitik, bei der wir in der Gegenwart nicht auf Kosten der Zukunft leben, aber wir brauchen eine Einbettung dieser Finanzpolitik in den großen Rahmen, den ich aufgezeigt habe. Wir Sozialdemokraten mühen uns an diesen Themen ab, beim Bund und im Land Berlin. Wir handeln nicht opportunistisch. Wir bemühen uns, unsere Politik dem Wähler zu erklären. Wir tun das Notwendige, wenn auch vielfach Unpopuläre. Wir ertragen es, in Meinungsumfragen abgestraft zu werden. Ich will nicht bestreiten, dass auch Fehler gemacht werden. Ich will nicht bestreiten, dass man sich auch in einigen CDU- und CSU-regierten Ländern bemüht. Aber ich konstatiere, dass die Opposition im Bund und in Berlin vollständig versagt, wenn es darum geht, sachliche Alternativen zu entwickeln, von konstruktiven Beiträgen ganz zu schweigen. Steuerreform, Gemeindefinanzen, Arbeitsmarktreform, Rentenreform, Gesundheitsreform - nirgendwo wird ein alternatives Konzept sichtbar, überall versucht man aus dem Unmut der Bürger über Einschnitte und Einsparungen Kapital zu schlagen. Das gilt auf Bundesebene. In Berliner Landespolitik ist es noch schlimmer. Hier herrscht die totale Gedankenarmut der Opposition: Kitas, Schulen, Sozialpolitik, Wohnungspolitik, Universitäten, Kultur. Von der CDU hört man immer nur die Aufforderung, Berlin nicht kaputt zu sparen. Von der FDP immer nur die Aufforderung, mehr Landesbeteiligungen zu verkaufen. Höchstens die Grünen haben ab und zu einmal einen originellen Einfall. Natürlich sparen wir Berlin nicht kaputt. Weit gefehlt! Aber wir betreiben einen kontinuierlichen, hartnäckigen Ausgabeabbau. Allein im letzten Jahr haben wir unsere Primärausgaben um 430 Mio. zurückgeführt, stärker als im Haushalt geplant. Und das geht in den nächsten Jahren weiter so. Bis 2007 wollen wir unser Primärdefizit in einen Primärüberschuss verwandeln, dann wollen wir nur noch für unsere Zinsen Schulden aufnehmen. Bei unseren Altschulden allerdings muss uns der Bund helfen, deshalb klagen wir in Karlsruhe. Aussichten auf Hilfe haben wir aber nur, wenn wir unsere Hausaufgaben machen und ungerechtfertigte Ausgabevorsprünge abbauen. Niemand hilft uns, wenn wir 25 % mehr einnehmen als der Bundesdurchschnitt, aber 50 % mehr ausgeben. Beim Einsparen gehen wir hart vor, aber keineswegs unsensibel, dafür zwei Beispiele: 900 Mio. geben wir in dieser Stadt für Kitas aus, 350 Mio. mehr als der Bundesdurchschnitt, Nur 11 % dieser Ausgaben werden durch Elternbeiträge abgedeckt, und die viel diskutierte Beitragserhöhung hat hier gerade einmal 10 Mio. ausgemacht. 1,4 Mrd. geben wir in dieser Stadt für Hochschulen aus. 570 Mio mehr als der Bundesdurchschnitt. 5 % - 75 Mio - sollen davon langfristig eingespart werden. Das ist natürlich möglich, wenn man bedenkt, dass die Hälfte der Studenten an FU, HU, und TU offenbar niemals Examen macht, und der durchschnittliche Lehramtskandidat in Berlin 17 Semester bis zum ersten Examen braucht. Das 4

5 muss nicht sein auf Kosten des Steuerzahlers. Künftig werden deshalb Langzeitstudenten ab dem 15. Semester Studiengebühren zahlen müssen. Wir sparen nicht nur ein, wir modernisieren auch. Wir machen die Verwaltungen in den nächsten 10 Jahren um 30 % kleiner und schlanker. Und wir setzen überschüssige Kräfte künftig sinnvoll ein, dafür haben wir den Stellenpool geschaffen. Berlin soll als Stadt für alle die attraktiv bleiben und noch attraktiver werden, die etwas tun wollen. Nur das schafft auf die Dauer auch Arbeitsplätze. Wenn die Innovativen und Aktiven sich durch Berlin besonders angezogen fühlen, dann können hier auch wieder neue Arbeitsplätze entstehen. Dabei müssen Politik und Verwaltung unbürokratisch helfen: Klare Ansprechpartner, schnelle und eindeutige Entscheidungen, kurze Wege, Dienstleistungsorientierung und Freundlichkeit. Hier können wir noch besser werden. Mit Geld wird uns künftig niemand mehr überschütten. Das Gute kommt nicht einfach von außen, und es wird uns auch nicht nachgetragen. Diese goldenen Zeiten sind vorbei und kommen auch nicht wieder. Deshalb lasst uns alles setzen auf eine Kultur der Aktivität und der Selbsthilfe, übrigens auch in der Sozialpolitik. Wer sich nicht helfen kann und bedürftig ist, soll würdig versorgt werden, aber soziale Unterstützung darf nicht den Weg in die Passivität erleichtern. Das ist eine der großen Umbauaufgaben in unserem Sozialstaat, die wir gerade erst angegangen haben. Und die SPD hat als besondere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es dabei sozial gerecht zugeht. Bei uns wird besonders heftig gelitten, bei uns wird besonders heftig diskutiert, und das ist gut so. Um soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit auch in Zukunft zu erhalten, müssen wir sie fortentwickeln. Ja, der Staat muss allen Bürgern eine würdige Existenz auch bei Not und im Alter sichern, er muss allen Bürgern eine angemessene Krankenversorgung sichern. Aber er darf auch die Aktiven nicht im Übermaß belasten, und das bedeutet, dass staatliche Sozialleistungen ganz unvermeidlich immer mehr in Richtung Grundsicherung gehen, alles Weitere aber Sache der Bürger ist. Und was tun wir, befassen wir uns mit diesen großen Fragen? Viele tun es. Viele aber reden lieber über Details, mit der die wichtigen Themen vermieden werden: Ob Reiterstaffel, ob Initiative Bankenskandal, ob Tempodrom - es gibt viele Zornobjekte, mit denen man vor der Wirklichkeit dieser Stadt flüchten kann. Das hilft aber nichts, denn die Wirklichkeit holt uns immer ein - und um so unerwünschter, je mehr wir sie verdrängen. Zu viel ist schon zu lange verdrängt worden in Deutschland und in Berlin. Lasst uns unseren Verstand benutzen, aber auf unsere Herzen hören. Lasst uns ohne den Nebel lieber Gewohnheiten und bequemer Vorurteile klar auf die Wirklichkeit schauen. Lasst uns handeln, unideologisch und sozial sensibel, aber konsequent und mit langfristiger Perspektive. Die Zeit des Aussitzens ist vorbei in Deutschland und in Berlin. 5