Der treue Menschenhüter

Transkript

1 Predigt Silvester 2016 Stiftspfarrer Matthias Vosseler Psalm 121 Der treue Menschenhüter 1211 Ein Wallfahrtslied. Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? 2 Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. 3 Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht. 4 Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht. 5 Der Herr behütet dich; der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand,

2 6 dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts. 7 Der Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele. 8 Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit! 1. Ich hebe meine Augen auf? Wohin gehen sie, unsere Gedanken am letzten Tag des Jahres. Stehen wir wie der Beter von Psalm 121 mit dem Blick zu den Bergen, vielleicht zu den Bergen, die vor ihm standen bei der Wallfahrt hinauf nach Jerusalem Der Beter hält sehnsuchtsvoll Ausschau. Irgendwo dort kommt Hilfe, kommt Richtungsweisung, kommt ein Zeichen, kommt ein Wunder

3 Am Ende des Jahres Bilanz ziehen wir Bilanz, ich auch, in den letzten Tagen und in den kommenden dann weiter. Wo stehen wir mit unserem Leben, dem einzigen, das wir haben? Auch der Pfarrer geht die vielen Dinge eines Jahres durch, die Begegnungen, die Gespräche, die eigenen Erfahrungen. Und als Innenstadtpfarrer mit so vielen Begegnungen und Geschichten könnte man Bücher darüber schreiben, von Jahr zu Jahr mehr. Am Ende des Jahres sehe ich diese vielen Menschen nebeneinander stehen. Dort in der Ebene mit Blick auf die Berge: Da sind, die sagen, wir sind glücklich und zufrieden, passt alles soweit. Da sehe ich die, die sagen: Das Jahr hat gepasst. Megaumsatz oder zumindest so, dass man sich keine Gedanken mehr machen muss. Das sehe ich aber auch die, die wirtschaftlich abgestürzt sind, von der Luxus-Wohnung zum Pfandflaschen sammeln, innerhalb kurzer Zeit. Ja, das gibt es bei uns. Wie oft finden sie den Weg leichter hierher. Da ist die Familie, die sich mit der Kinderziehung so viel Mühe gibt, und wo es doch alles braucht, dass es einigermaßen gelingt und viele

4 Enttäuschungen da sind, weil die Wege nicht so sind, wie die Eltern es sich wünschen Da sehe ich die Familien, die kämpfen und mit sich ringen, ob und wie es gemeinsam weitergehen könnte. Wenn das Feuer der ersten Liebe vom Alltag zu erlöschen droht. Und Ehe Arbeit ist und nicht nur ein schönes Gefühl. Da sehe ich die Paare, wo klar ist, dass es nicht mehr gemeinsam weiter gehen wird. Dass bei aller Arbeit und bei allem Gebet kein weiterer gemeinsamer Weg mehr möglich ist und man jetzt schaut, wie man das mit möglichst wenig Verletzungen schafft. Und ich sehe die, die bereit sind, sich auf Neues einzulassen, und doch wissen, dass das Neue immer ein unsicheres Wagnis ist, das Mut erfodert und Kraft kostet. Da sehe ich diejenigen unter uns, die krank waren und wissen: So gut wie es vorher war, wird es einfach nie mehr werden. Und damit muss ich jetzt leben und umgehen. Da sehe ich diejenigen, die Abschied nehmen mussten von einem geliebten Menschen, manchmal plötzlich und überraschend von einer Sekunde auf die andere.

5 Und uns im Alltag unseres Lebens auf die Kostbarkeit hinweisen wollen, die uns jede Sekunde schenkt. Und die wir so selten würdigen und wahrnehmen. Und ich sehe die vielen, die zu uns gekommen sind aus vielen Elendsgebieten dieser Erde und um die sich viele rührend kümmern. 95% von ihnen kamen, weil ihnen nichts anderes mehr übrig blieb im Elend ihrer Heimat. Und ich sehe die große Bereitschaft der Bevölkerung, sich dafür einzusetzen. Ich sehe unter den Flüchtlingen vor allem auch, die zu uns gekommen sind, weil sie sich für den christlichen Glauben interessieren. Taufunterricht an den Samstagabenden, eine ganz neue und wertvolle Erfahrung. Auch welche Benachteiligungen sie dafür in Kauf nehmen müssen, und das in einem Land, in dem Religionsfreiheit im Grundgesetz festgeschrieben ist. Der Taufunterricht: In einfachster Klarheit das zu erzählen vom Glauben, was einem wichtig ist. Fast 30 Taufen von Flüchtlingen in diesem Jahr und für Januar/Februar sind schon wieder 20 im Blick. Eine ganz neue und besondere Erfahrung hier in diesem Jahr. Ich hebe meine Augen, das darf jeder, jeder von uns.

6 Wer seine Augen aufhebt, der will leben, der erwartet etwas vom Leben, der sagt: mit dem Blick auf den Boden soll es nicht getan sein. Das kann nicht alles gewesen sein. Ich hebe meine Augen auf das darf heute Abend jeder und jede persönlich sagen. Wo darf ich jemand Dank sagen für das, was geglückt ist, im letzten Jahr? Wo habe ich Glück gespürt und Nähe und Liebe? Wo darf ich Dank sagen, für Gutes und unkompliziertes Miteinander Wo sind wir bewahrt geblieben auch in dieser Kirche bis heute? nicht selbstverständlich. Auch die Frage: Wo habe ich mich in meiner Arbeit verzehrt, alle Kraft und Nerven dafür verwendet und das Private ist fast ganz auf der Strecke geblieben? Und wie reichen die Kräfte, wenn man älter wird? Kann man das Tempo noch durchhalten, braucht es nicht immer wieder Pausen, oder gibt es die erst, wenn sich Leib und Seele sie sich selbst nehmen? Die alle stehen nebeneinander, mit Lachen und Weinen, mit ganz unterschiedlichen Jahren. Aber mit einer Blickrichtung, und auf die kommt es an, liebe Gemeinde. Mit Blick dahin, wo Hilfe kommt.

7 Und das zweite: Woher kommt mir Hilfe? 2. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat Woher kommt Hilfe im Leben? Dort wo wir Liebe erfahren, dort wo wir sein können wie wir sind Dort wo wir uns geborgen wissen und fallen lassen können. Der Beter, der aufblicken kann, erwartet Hilfe. Erwartet Hilfe in einer Beziehung Der Beter weiß sich an den gebunden, der Himmel und Erde gemacht hat. Mit weniger gibt er sich nicht zufrieden. Wenn er diesen Gott anruft, ruft er den an, der diese Welt nicht nur geschaffen hat. Wir beten nicht zu einem Gott, der diese Welt geschaffen hat und sich dann ins Nirgendwo zurückgezogen hat und diese Welt sich selbst überlässt. Nein wir beten zu einem Gott, mit dem rechnen, auch heute, auch in unserem Leben, auch in unserer Welt und Gesellschaft, auch wenn es uns oft schwer fällt. Aber mit dem wir rechnen, dem creator und dem conservator, wie es in der Dogmatik heißt. Schöpfer und Erhalter

8 Alle die aufblicken, bekommen eine Zusage. Nicht die Zusage, Ich sage dir genau den Weg, der vor dir liegt. Nicht die Zusage: das wird alles ganz easy Sondern eine ganz andere Zusage: 3. Die Zusage: Der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand Gott der Schattenspender an heißen Tagen Gott der Schattenspender, wenn man es kaum mehr aushält Im Schatten des allmächtigen Gottes zu stehen, heißt Anteil haben an dem, was dieser Gott gibt. Gottes Schatten schützt und belebt zugleich Schattenspender und Seelenbehüter Der Herr behüte deine Seele. Das ist der Wunsch. Er behüte all das, was dich als Mensch ausmacht, das heißt auch: er erhalte dir all das, was dich als Mensch ausmacht

9 Schutz und Schirm vor allem Bösen wie es im alten Konfirmationssegen heißt. Er behüte die Seele, die Hoffnungen und Sehnsüchte, die Seele, die Kehle, die Hunger und Durst hat und so wie wir natürlich essen und trinken, so bitten wir Gott, dass er auch unsere Seele versorgt. Dieses Psalmgebet: Wenn Juden das Haus verlassen, sprechen sie es oft, wenn sie die Mesusa am Hauseingang berühren. Wenn Christen jemanden beerdigen, sprechen sie oft diesen Satz. Und Juden wie Christen verwenden ihn als Reisesegen. Deshalb auch an Silvester. Am Beginn der Reise in ein neues Jahr. Wo wir am Ende dieses Jahres genau sein werden, weiß Gott allein. Die Bibel zeigt nicht gläubige Menschen als unverletzliche Wesen, aber als solche, die an einen Gott glauben, der in einem kleinen, verletzlichen Kind Mensch wurde und sich uns so gezeigt hat. Aber die Wege, die wir bis dahin zurücklegen, die will er begleiten. Der Herr behüte dich, der Herr behüte deine Seele von nun an bis in Ewigkeit. Amen