Hannah Arendt interkulturell gelesen Interkulturelle Bibliothek

Transkript

1 Karl-Heinz Breier Hannah Arendt interkulturell gelesen Interkulturelle Bibliothek

2 INTERKULTURELLE BIBLIOTHEK Herausgegeben von Hamid Reza Yousefi, Klaus Fischer, Ram Adhar Mall, Georg Stenger und Ina Braun Band 75 Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Constantin von Barloewen Prof. Dr. Claudia Bickmann Prof. Dr. Horst Dräger Prof. Dr. Hans-Jürgen Findeis Prof. Dr. Richard Friedli Prof. Dr. Raúl Fornet-Betancourt Prof. Dr. Wolfgang Gantke Prof. Dipl.-Ing. Peter Gerdsen Prof. Dr. Katsutoshi Kawamura Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Kimmerle Prof. Dr. Peter Kühn Prof. Dr. María Xesús Vázquez Lobeiras Prof. Dr. Karl-Wilhelm Merks Prof. Dr. Jürgen Mohn Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Senghaas Prof. Dr. Alois Wierlacher

3 Hannah Arendt interkulturell gelesen von Karl-Heinz Breier Traugott Bautz Nordhausen 2007

4 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in Der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Zeichnung von Birgit Hill Umschlagsentwurf von Susanne Nakaten und Ina Braun Verlag Traugott Bautz GmbH Nordhausen 2007 Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany ISBN

5 Hannah Arendt

6

7 Inhaltsübersicht 1. Zuhause sein in der Welt Hannah Arendt ohne Ort in der Welt Die Weltlosigkeit des archimedischen Punktes Der Sinn von Selbstinterpretation Kultur als Weltphänomen Arendts Bürgerwissenschaft In Sorge um die Welt Ohne doppelten Boden Gegen die Tradition gedacht Vita activa oder Amor mundi? Die Fremdheit der randständigen Existenz Zur Krise des Politischen Die existentielle Krisenerfahrung Terror als das Wesen der totalen Herrschaft Das Todesurteil:»Objektiver Gegner« Das Faszinosum der Ideologie Die Vergötterung des Gattungslebens Die Verwüstung der gemeinsamen Welt Zur interkulturellen Verankerung des Politischen Gegen die Dominanz der Herrschaftskategorie Machtbildung und politische Freiheit Politische Bildung und interkulturelle Verständigung Mundiale Öffentlichkeit und politische Urteilskraft Der Autor und das Buch

8

9 »Der Ursprung des Menschseins, in dem wir unser Selbstsein erkennen, wurzelt in der politischen Welt.«1 1. Zuhause sein in der Welt Hannah Arendt ohne Ort in der Welt Als deutsche Jüdin hat Hannah Arendt erfahren, was es bedeutet, ohne Ort in der Welt zu sein. Sie ist 1933 aus Deutschland emigriert, war 18 Jahre lang staatenlos und erst mit Annahme der amerikanischen Staatsbürgerschaft, d. h. mit ihrer Einbürgerung hörte sie auf, gleichsam Mensch zweiter Klasse zu sein. Vor diesem Hintergrund erfahrener Unfreiheit kreist Hannah Arendts Denken um die Lebensweise der Freiheit. Wie können weltbezogene und solchermaßen verantwortungsbewußte Bürger unter den Bedingungen der sich weltweit ausbreitenden Moderne einen Ort in der Welt finden? Wie können Menschen sich wechselseitig ihrer Realität versichern und wie können sie sich zu politischem Handeln zusammenschließen? Die fortgeschrittene Art und Weise technischer Naturbeherrschung gewöhnt moderne Menschen daran, allenfalls gegenüber der Welt Stand zu nehmen. Ein Standnehmen in der Welt ist vielfach gegen die wissenschaftliche Methode. Doch wie fremd bleibt uns die Welt, wenn wir nicht handelnd und sprechend in ihr tätig sind und wenn wir nicht in einer politischen Ordnung leben, in der die handelnde Teil- 1 Jürgen Gebhardt: Die Rehabilitierung der Politik. Anmerkungen zu Hannah Arendt, in: Greithlein, T./Leitner, H. (Hrsg.): Inmitten der Zeit. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie. Festschrift für Manfred Riedel, Würzburg 1996, S. 72.

10 Hannah Arendt interkulturell gelesen nahme an den öffentlichen Angelegenheiten zu unserem Alltag gehört? Hannah Arendt begreift uns Menschen in der uns eigenen Qualität als handelnde Wesen in der Welt. Von daher hält sie es für wichtig, über das»nachzudenken, was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind.«2 Unser Leben ist begrenzt, und da wäre es fatal, wenn wir für die Dauer unserer Anwesenheit auf der Erde Fremde in der Welt blieben. Um die ursprüngliche Fremdheit zur Welt zu überwinden, ist es unerläßlich, daß wir versuchen, in der Welt heimisch zu werden, und um in der Welt heimisch zu werden, müssen wir versuchen zu verstehen, denn:»verstehen heißt einer Sache gewachsen sein, etwas können, mit etwas fertig werden können.«3»das Verstehen nämlich ist im Unterschied zur fehlerfreien Information und dem wissenschaftlichen Wissen ein komplizierter Prozeß, der niemals zu eindeutigen Ergebnissen führt. Es ist eine nicht endende Tätigkeit, durch die wir Wirklichkeit, in ständigem Abwandeln und Verändern, begreifen und uns mit ihr versöhnen, das heißt, durch die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein.«4 Wer in der Welt zu Hause sein will, muß sich mit der Welt anfreunden, d. h. er sollte sich darum bemühen, die jeweilige Welt, in die er hineingeboren wurde, zu verstehen.»heidegger hat unrecht: In die Welt ist der Mensch nicht geworfen ; wenn wir geworfen sind, so nicht anders als die Tiere auf die Erde. In die Welt gerade wird der Mensch 2 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Aufl. München 1981, S Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, Darmstadt 2001, S Hannah Arendt: Verstehen und Politik, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hrsg. von Ursula Ludz, München 1994, S

11 Zuhause sein in der Welt geleitet, nicht geworfen, da gerade stellt sich seine Kontinuität her und offenbart sich seine Zugehörigkeit. Wehe uns, wenn wir in die Welt geworfen werden!«5 In dem Maße, in dem wir kontinuierlich mit der Welt vertraut werden, in dem wir von der Welt verstehen, werden wir nach Arendt erst zu Zeitgenossen, und allein über unsere»tätigkeit des Verstehen«6 vollzieht sich unsere zweite, d. h. unsere kulturelle Geburt. Zu leben bedeutet mehr als»vivere«, zu leben bedeutet mehr als bloß organisch existent zu sein.»für Menschen heißt Leben [...] soviel wie unter Menschen weilen (inter homines esse) und Sterben so viel wie aufhören unter Menschen zu weilen (desinere inter homines esse).«7. Das inter ist für Arendt entscheidend. Wer am inter teilhat, lebt. Von daher ist es leicht einsehbar, daß dieses inter der von handelnden und sprechenden Wesen konstituierte Zwischenraum im Denken von Hannah Arendt die entscheidende Pointe in der Wahrnehmung des Interkulturellen ausmacht.»wo immer Menschen zusammenkommen, schiebt sich die Welt zwischen sie, und es ist in diesem Zwischen-Raum, daß alle menschlichen Angelegenheiten sich abspielen.«8 Das inter, das»zwischen-den-menschen«9, konstituiert das Politische, weswegen das Interkulturelle in Arendts Denken allein über ihr Verständnis des Politischen erschlossen werden kann. 5 Hannah Arendt: Denktagebuch 1950 bis Erster Band, hrsg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, München 2002, S. 549 f. 6 Hannah Arendt: Verstehen und Politik, S Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hrsg. von Ursula Ludz, München 1993, S Ebd., S

12 Hannah Arendt interkulturell gelesen Die Weltlosigkeit des archimedischen Punktes 10 In ihrem Aufsatz Die Eroberung des Weltraums und die Statur des Menschen 11 geht Hannah Arendt der auf einem Symposion on Space gestellten Frage nach, wie sich»die Erforschung des Weltraums auf die Sicht des Menschen von sich [ ] auswirkt.«12 Die Kongreßfrage lautet:»hat die Eroberung des Weltraums des Menschen Statur vergrößert oder verkleinert?«13 Nachdem Arendt zentrale Entwicklungen im Fortschritt der Naturwissenschaften nachgezeichnet hat, macht sie darauf aufmerksam, daß die so genannte Eroberung des Weltraums, also die Suche nach einem außerhalb der Erde gelegenen Punkt,»von dem aus es möglich sein würde, den Planeten selbst zu bewegen, ihn sozusagen aus den Angeln zu heben [ ] nicht das zufällige Ergebnis der neuzeitlichen Naturwissenschaft [war]. Diese war von ihren Anfängen an nicht eine Natur -, sondern eine Universums- Wissenschaft; es war nicht eine Physik, sondern eine Astrophysik, die von einem Punkt im Universum auf die Erde schaute.«14 Im Sinne dieses Vorhabens, nämlich den Weltraum zu erobern, hofft der Mensch, sich an jenen mit seiner Vorstellungskraft antizipierten Punkt begeben zu können, von dem aus er den Hebel ansetzen kann. Doch so Arendt würde uns Menschen dies gelingen, so hätte dies weitreichende Folgen.»Alles, was er finden kann, ist der archimedische Punkt im Hinblick auf die Erde, aber wenn er erst einmal 10 Vgl. Hannah Arendt: Der archimedische Punkt, in: dies.: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, hrsg. von Ursula Ludz, München 2000, S. 389 ff. 11 Hannah Arendt: Die Eroberung des Weltraums und die Statur des Menschen, in: dies.: In der Gegenwart, S. 373 ff. 12 Ebd., S Ebd., S Ebd., S

13 Zuhause sein in der Welt dort angelangt ist und diese absolute Macht über seine irdische Wohnstatt erhalten hat, bräuchte er einen neuen archimedischen Punkt, und so ad infinitum. Mit anderen Worten: Der Mensch kann in der Weite des Universums nur verlorengehen, denn der einzig wahre archimedische Punkt wäre die absolute Leere hinter dem Universum.«15 Und Arendt argumentiert weiter: Selbst wenn der Mensch erkennen sollte, daß es eine absolute Grenze für seinen Wissensdrang gibt, und wenn er sich»vergegenwärtigt, daß er den Weltraum nicht erobern, sondern bestenfalls ein paar Entdekkungen in unserem Sonnensystem machen kann, selbst dann ist die Reise in den Weltraum und zu dem archimedischen Punkt hinsichtlich der Erde weit davon entfernt, ein harmloses und uneingeschränkt triumphales Unternehmen zu sein.«16 Sicherlich, unter dieser Perspektive betrachtet so sieht es auch Arendt hat der Mensch an Statur gewonnen. Im Unterschied zu allen anderen irdischen Lebewesen kann er sein»territorium«, in dem er zu Hause zu sein beansprucht, vergrößern. Er kann auf dem Mond eine Flagge hissen, er kann ihn in Besitz nehmen und er kann diesen Besitz sein Eigentum nennen. Des Weiteren sind wir Menschen in der Lage, Energieprozesse freizusetzen, die sich gewöhnlich nur in der Sonne abspielen. Das bedeutet:»ohne daß wir tatsächlich schon den Punkt, wo Archimedes gerne gestanden hätte, einnähmen, haben wir doch einen Weg gefunden, auf der Erde so zu handeln, als ob wir über die terrestrische Natur von außen verfügten, vom Punkt des Einsteinschen frei fallenden Beobachters.«17 15 Ebd., S Ebd., S Ebd., S

14 Hannah Arendt interkulturell gelesen Was den Fortschritt technischer Sachbemeisterung 18 anbelangt, so fügt dieses der Erforschung des Weltraums zugrundeliegende Vermögen, sprich jene extraterristrische Sichtweise nämlich»mit den Augen des Universums [ ] auf die Erdnatur blickend«19 sicherlich etwas der Statur des Menschen hinzu. Als Homo faber gewinnen wir an Statur; denn unsere im Universum existierende Erdnatur ist vom Standort des Universums aus gesehen»gemacht«. Wir selbst können von außen in unsere Erdnatur eingreifen, und als kosmisches Tier 20 wird der aus dem Universum blickende Mensch in der Tat wie Descartes formuliert zum maitre et possesseur de la nature. Der neuzeitliche Mensch wird vollends zum Subjekt, denn»das, was der Subjektivität des Menschen entgegensteht, und woran sie sich mißt, ist die Objektivität, die Gegenständlichkeit der von ihm selbst hergestellten Welt.«21 Dieses neuzeitliche Subjektdenken, das auf Machbarkeit 22 abzielt, gipfelt im Souveränitätsanspruch des Homo faber, der Gegenstände, also Objekte, herstellt und der sich dabei der Natur als dem Material seiner Herstellung bedient. In aller Klarheit hat Hannah Arendt diesen Grundzug menschlicher Existenz in ihrer Vita activa 23 nachgezeichnet. Aus der Perspektive des Homo faber, der neuzeitlich eine fulminante 18 Vgl. Detlev Langenegger: Gesamtdeutungen moderner Technik. Moscovici, Ropohl, Ellul, Heidegger. Eine interdiskursive Problemsicht, Würzburg 1990, S. 185 ff. 19 Hannah Arendt: Denktagebuch 1950 bis Erster Band, S Vgl. Detlev Langenegger: Gesamtdeutungen moderner Technik, S. 24 ff. 21 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S Vgl. Arno Baruzzi: Machbarkeit. Perspektiven unseres Lebens, Freiburg/München Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 124 ff. 14