Beitrag: Terminstau beim Arzt Spahns Versprechen im Realitätscheck
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- Vincent Günther
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1 Manuskript Beitrag: Terminstau beim Arzt Spahns Versprechen im Realitätscheck Sendung vom 15. Mai 2018 von Ingo Dell und Klaus Wollscheid Anmoderation: Der Nächste, bitte! Tja, wenn das mal so einfach wäre. Denn bevor Patienten es ins meist übervolle Wartezimmer schaffen, müssen sie erst mal einen Termin ergattern. Und das kann dauern. Behandlung erst wieder im nächsten Quartal - hören Millionen Menschen in Deutschland allzu häufig. Dabei sind mehr als zwei, drei Wochen Wartezeit inakzeptabel, das sagte Jens Spahn bereits 2010, kurz nachdem er zum Nachwuchspolitiker des Jahres gekürt wurde. Jetzt hat sich der CDU-Nachwuchs zum Gesundheitsminister ausgewachsen und kann Worten auch Taten folgen lassen. Macht er das? Fragt Ingo Dell. Text: Janina Mikusinska kümmert sich um ihre kranke Mutter. Die 87- Jährige ist deshalb vergangenes Jahr zu ihr nach Görlitz gezogen. Wegen Demenz und Depressionen braucht sie regelmäßig einen Arzt, der nach ihr schaut. Doch in der sächsischen Kleinstadt ist das für gesetzlich Krankenversicherte keine Selbstverständlichkeit: O-Ton Janina Mikusinska: Es hat drei Monate gedauert, bis wir einen Hausarzt endlich gefunden haben - und vier Monate, bis wir bei einem Neurologen einen Termin vereinbaren konnten. Ich hatte Angst, dass die Medikamente ausgehen. Ich war extrem enttäuscht und wütend, dass man so viel Energie in die Suche reinstecken muss. 40 Kilometer fährt Janina Mikusinska mit ihrer kranken Mutter bis zum Neurologen. Auch das macht sie wütend. O-Ton Janina Mikusinska: Das ist eigentlich unzumutbar, vor allem für ältere Menschen, die selbst nicht mehr mobil sind, die alleine nicht reisen können. Also, es ist absolut ausgeschlossen, dass meine
2 Mutter alleine die Reise zum Neurologen unternimmt. Berlin, im März Antrittsrede des neuen Bundesgesundheitsministers im Bundestag. Jens Spahn verspricht eine bessere ambulante Versorgung für gesetzlich Versicherte und präsentiert eine Idee der Großen Koalition: Und im Kern geht s darum, dass bei medizinisch notwendigen Leistungen alle einen schnellen Zugang zur nötigen Versorgung haben. Das wollen wir erreichen unter anderem, indem wir die Zeit der Sprechstunden erweitern von 20 auf 25 Stunden - mindestens. Zwei Monate später beim Deutschen Ärztetag in Erfurt: Der neue Gesundheitsminister versucht, die versammelte Ärzteschaft für seine Pläne zu begeistern. Weil ich ja weiß, dass eine übergroße Zahl von Ärztinnen und Ärzten deutlich mehr macht als 20 und auch als 25 Stunden, wenn es um Sprechstunden geht und um Hausbesuche und vieles andere mehr, das nicht als Generalverdacht zu empfinden, sondern eher als eine Ermutigung für diejenigen, die es noch nicht machen. Weil es ja auch - jetzt lassen Sie mich den Gedanken mal zu Ende machen - weil es ja auch zu Lasten derjenigen geht, die mit viel Einsatz unterwegs sind. O-Ton Dr. Robin T. Maitra, Landarzt: Ich glaube, dass dieser Vorschlag vom Bundesminister wirklich gänzlich in die Leere geht. Das ist nicht das, was wir brauchen. Wir brauchen mehr Leute in der Versorgung im ländlichen Bereich. Das heißt, das Ganze muss attraktiver gestaltet werden. Und das gestalten wir nicht attraktiver dadurch, dass wir Sprechstundenzeiten-Erhöhung verlangen. O-Ton Prof. Dr. Michael Faist, Landesärztekammer Baden- Württemberg: Herr Spahn hat eine Banklehre gemacht, meine ich, oder? Also, er ist eher ein Finanzer, er war im Finanzministerium, er war lange im Gesundheitsausschuss, glaube ich, aber er hat von dem medizinischen Alltag nicht ganz so sehr viel Erfahrung, sodass ich denke, da fehlt noch so ein bisschen der praktische Teil. Nachfrage beim Minister: Na, ich find s doch normal, dass es zwischen Politik und Ärzteschaft auch Diskussionen gibt. Ich verstehe auch, dass viele sagen, da sind Regeln und Regulierungen, die greifen in meine ärztliche Tätigkeit ein. Und deswegen sage ich den
3 Ärzten ja: Lasst es uns gemeinsam gestalten. Wir haben ein Problem zu lösen in Deutschland. Zu oft warten gesetzlich Versicherte zu lange auf einen Termin. O-Ton Dr. Theodor Windhorst, Präsident Ärztekammer Westfalen-Lippe: Ich glaube, er wird sehen, dass die Realität der Versorgung nicht mit staatlichen Mitteln, nicht mit sanktionierbaren Mitteln geregelt wird. Ich nehme ihn erst mal noch mal in Schutz, Welpenschutz vielleicht auch, wenn man das mal so sagen darf mit einem freudigen Grinsen. Wir werden sehen die Realität sieht wirklich anders aus. Ärzte zu längeren Sprechstunden verpflichten Spahns Vorhaben greife zu kurz, sagen erfahrene Gesundheitsexperten. O-Ton Prof. Gerd Glaeske, Gesundheitswissenschaftler Universität Bremen: Aus meiner Sicht ist es tatsächlich eher ein Papiertiger, es ist sozusagen etwas, was politisch als Forderung natürlich gut in der Öffentlichkeit wirken kann. Es zeigt, dass Herr Spahn sozusagen aktiv wird, aber letzten Endes - aus meiner Sicht - wird es wenig Bedeutung haben, weil in der Umsetzung Probleme bestehen, in der Kontrolle Probleme bestehen. Und im Prinzip durch solche Regelungen das Problem der Terminvergabe überhaupt nicht zu regeln ist. Berlin, Stefanie Jegelski und ihr Sohn Emil. Auch in einer Großstadt ist es nicht mehr selbstverständlich, einen Arzt zu finden, zum Beispiel einen Kinderarzt. O-Ton Stefanie Jegelski: Wir sind in einer Praxis dann gewesen, die aber sehr überlaufen gewesen ist. Das hat dann dazu geführt, dass auch im Akutfall erhebliche Wartezeiten entstanden sind. Das haben wir selber mit Emil erfahren, als er einmal hochfiebrig gewesen ist und sich auch übergeben hat. Da mussten wir dann sieben Stunden warten. Daraufhin machte Stefanie Jegelski einen großen Fehler. Sie wollte den Kinderarzt wechseln. O-Ton Stefanie Jegelski: Was uns zu dem Zeitpunkt aber nicht klar war, nachdem wir die Praxis verlassen haben, dass wir dann über zwei Jahre neu suchen mussten, bis wir überhaupt einen Kinderarzt für Emil hatten. So geht es vielen Müttern in Berlin, besonders in den sozial schwächeren Stadtbezirken wie in Berlin-Lichtenberg. Dort betreibt auch der Kinderarzt Steffen Lüder seit zehn Jahren seine Praxis, seitdem hat sich seine Patientenzahl verdoppelt.
4 O-Ton Steffen Lüder, Kinderarzt Berlin-Lichtenberg: Es gab vier Montage, wo ich über 100 Patienten hatte. Der Spitzentag: 122 Patienten in 6,5 Behandlungsstunden. Da kommt man auf 3:15 Minuten pro Patientenkontakt. Das ist keine Medizin. Seine Sprechzeit liegt jetzt schon über den geplanten 25 Stunden. O-Ton Steffen Lüder, Kinderarzt Berlin-Lichtenberg: Alle Vorschläge von Herrn Spahn gehen an der Realität vorbei. Die Praxisöffnungszeiten um fünf Stunden zu erhöhen bringt nichts, wenn ich eh mein Zeitbudget überfüllt habe. Im Lichtenberger Rathaus wissen sie, dass es für die mehr als Einwohner des Stadtbezirks viel zu wenige Ärzte gibt. Eine Studie hat das im vergangenen Jahr in aller Klarheit gezeigt. O-Ton Katrin Framke, parteilos für DIE LINKE, Bezirksstadträtin für Familie, Jugend, Gesundheit und Bürgerdienste Berlin-Lichtenberg: Es hat sich rausgestellt, dass die Ärzte dahingehen, wo das Geld ist und nicht unbedingt wo die Patienten sind, die das brauchen. Und es ist keine Frage von Ost-West, sondern eine Frage von arm und reich, wohin die Ärzte gehen. Was hat sich seitdem getan? Die Situation hat sich weiter verschlechtert. Für Berlin wurden gerade acht neue Kinderarzt-Praxen ausgeschrieben. Die Selbstverwaltung der Ärzte legt dabei fest, wo sie eröffnet werden dürfen. Lichtenberg ging leer aus. O-Ton Katrin Framke, parteilos für DIE LINKE, Bezirksstadträtin für Familie, Jugend, Gesundheit und Bürgerdienste Berlin-Lichtenberg: Laut Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung ist Lichtenberg ja, was die Kinderärzte betrifft, ein überversorgter Bezirk. Das hat nur mit der Realität überhaupt nichts zu tun. Die Zahlen stammen von Anfang der 90er Jahre. Lichtenberg ist ein wachsender Bezirk. Viele Familien mit Kindern ziehen hierher. O-Ton Prof. Gerd Glaeske, Gesundheitswissenschaftler Universität Bremen: Wir können nicht auf Dauer eine Bedarfsplanung weiterführen, die schon über Jahrzehnte existiert, wenn gleichzeitig die medizinische Versorgung auch ganz andere Schwerpunkte setzt und wenn gleichzeitig der demografische Wandel ganz andere Notwendigkeiten erfordert. Und das ist ein Gesichtspunkt, der tatsächlich
5 auch erkannt werden muss, und da muss auch die Politik letzten Endes Forderungen erheben. Damit gesetzlich Versicherte besser versorgt werden, müsste der neue Gesundheitsminister veraltete Strukturen aufbrechen und sich mit den Ärzten und ihren mächtigen Verbänden anlegen. Stattdessen stellt Spahn ihnen höhere Honorare in Aussicht, wenn sie seinen Plan umsetzen, die Sprechzeiten zu verlängern. O-Ton Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister: Ich weiß natürlich auch, dass, wenn wir sagen, es sollen aber mehr Patienten und im Zweifel auch schneller zusätzlich einen Termin bekommen, dass der Arzt, der dann einen Patienten annimmt, nicht auch noch bestraft werden soll, sondern natürlich gut dafür vergütet werden soll und das natürlich außerhalb des Budgets. Das steht doch völlig außer Frage für mich jedenfalls. Dafür gibt s Beifall beim Bundesärztetag. Der neue Bundesgesundheitsminister: In seiner kurzen Amtszeit hat er schon vielen viel versprochen möglicherweise zu viel. Abmoderation: Als Jens Spahn 2010 gefragt wurde, wie schnell seine Reformvorschläge umzusetzen wären, rechnete er mit rund einem Jahr. Messen wir den Minister mal an seinen eigenen Worten, auch wenn sie lange her sind oder gerade deshalb. Dann wird s bald Zeit zu liefern. Auf unserer Internetseite frontal21.zdf.de können Sie sehen, wie die Große Koalition schon in der Vergangenheit an den Wartezeiten herumgedoktert hat. Ein entlarvendes Déjà-vu. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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