Beitrag: Niedrige Löhne, niedrige Renten Millionen in der Armutsfalle

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Bella Kranz
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1 Manuskript Beitrag: Niedrige Löhne, niedrige Renten Millionen in der Armutsfalle Sendung vom 8. November 2016 von Jörg Göbel, Michael Haselrieder und Felix Zimmermann Anmoderation: Die Bundesregierung warnt vor Altersarmut. Soso. Überraschend ist an dieser Nachricht nur, dass die Politik vor etwas warnt, was sie längst weiß und rechtzeitig hätte verhindern müssen. Vor allem für Geringverdiener ohne Zusatzvorsorge steige das Risiko stark an, heißt es im sogenannten Alterssicherungsbericht. Unsere Autoren haben Menschen getroffen, für die im Alter nur die Armut sicher ist - trotz Arbeit. Und jetzt? Jetzt will die Bundesarbeitsministerin noch im November eine Reform vorlegen. Soso. Text: Drei Uhr nachts. Der Berliner Stefan Potratz macht sich fertig für die Arbeit. Er ist Reinigungskraft. Frühschicht - sechs Tage die Woche. Doch das ist nur einer von zwei Jobs. Potratz ist außerdem Kartenkontrolleur in einem Theater. O-Ton Frontal 21: Wenn Sie so hart arbeiten, kommt dann auch eine gute Rente dabei raus? O-Ton Stefan Potratz, Reinigungskraft und Kartenkontrolleur: Das kann man wirklich nicht behaupten, nein. Also, einmal im Jahr, wenn ich meinen Rentenbescheid bekomme, kann ich anfangen zu heulen. Vorher hatte ich viele Aushilfsjobs und habe mich immer so von einem Job zum anderen lang gehangelt. Erst seit zehn, 15 Jahren habe ich praktisch diese beiden Jobs permanent, so dass ich einigermaßen vernünftig operieren kann. 9,80 Euro verdient er als Reinigungskraft. Nach drei Stunden geht s zum nächsten Job. Raus aus den Putzklamotten und rein in den Anzug. Einlasskontrolle im Theater, Kindervorstellung. Hier verdient er neun Euro die Stunde. Mittags fährt er nach Hause, um sich auszuruhen. Seine zwei Jobs zahlen sich fürs

2 Alter kaum aus. Arbeitet er weiter wie bisher, bekommt er gerade einmal 435 Euro Rente. O-Ton Stefan Potratz, Reinigungskraft und Kartenkontrolleur: Es ist jetzt auch nicht so, dass ich jetzt jeden Tag voller Sorgen und Kummer, mein Gott was mache ich nur in der Rente. So kann man ja kein Leben führen, so kann man auch nicht arbeiten gehen, wenn man sagt, was mache ich bloß. Letzten Endes ist mir klar, dass das hier meine Zukunft ist, wenn sich jetzt nichts ändern würde. Stefan Potratz wird auf Grundsicherung im Alter angewiesen sein so geht es aktuell Rentnern. Grundsicherung zahlt das Sozialamt nach einer Prüfung dann, wenn Rentner weniger als etwa 790 Euro monatlich zur Verfügung haben. O-Ton Dierk Hirschel, Chefvolkswirt ver.di: Drei Prozent der über 65-Jährigen gelten als arm, aber das wird sich zukünftig ändern. Zukünftig wird Altersarmut auch die Mitte der Gesellschaft betreffen und ursächlich sind die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Deutschland hat einen großen Niedriglohnsektor. Die Agenda 2010 hat Arbeitsmarktregeln gelockert, Leiharbeit begünstigt. Dadurch sind neue Jobs entstanden, aber auch viele mit geringem Lohn. 8,1 Millionen Menschen oder ein Viertel aller Beschäftigten bekommt in Deutschland einen Lohn von weniger als 9,30 Euro brutto in der Stunde. Damit gelten diese Beschäftigten als Niedriglohn-Empfänger. Der Niedriglohnsektor ist einer der zentralen Erklärungsgründe, warum ganz viele Menschen in die Altersarmut rutschen. Die Dramatik der Situation kann man beispielsweise daran erkennen, dass selbst der Mindestlohn, den wir seit 2015 haben, von noch 8,50 Euro, nicht ausreichend würde, wenn sie 45 Jahre lang immer zu diesem Mindestlohn gearbeitet hätten, eine Rente zu bekommen, die höher ist als die Grundsicherung. Und selbst wer mehr als den Mindestlohn verdient, ist oft von Altersarmut bedroht. Ein Krankenhaus im Ruhrgebiet. Petra Vogel arbeitet hier seit fast 30 Jahren als Reinigungskraft, verdient zehn Euro die Stunde. O-Ton Frontal 21: Ist das eine anstrengende Arbeit, die Sie machen?

3 O-Ton Petra Vogel, Reinigungskraft: Das ist eine sehr anstrengende Arbeit. Wischen ist sehr anstrengend, weil das geht sehr aufs Kreuz. Und auf die Knie geht natürlich, wenn man sich bücken muss unter die Toiletten, unter die Betten, unter die Waschbecken. Sieben Jahren muss Petra Vogel noch arbeiten, dann hat sie 41 Jahre ununterbrochen in die Rentenkasse eingezahlt. Sie war nie arbeitslos. Wenn sie an ihren Ruhestand denkt, macht sie sich Sorgen: O-Ton Petra Vogel, Reinigungskraft: Das wird eine harte Zeit werden. Weil ich bekomme nicht mehr als 650 Euro Rente. Das heißt, ich muss aufstocken. Wenn ich körperlich nicht fit bin, kann ich nicht mehr nebenher arbeiten, was ich dann gerne tun würde, damit ich mir in etwa einen Standard erlauben kann, weil ich kann dann an keinen kulturellen Aktivitäten mehr teilnehmen. Ich kann nicht schwimmen gehen. Ich kann nicht auf ein Konzert gehen. Wovon soll ich das bezahlen? Damit ist Petra Vogel nicht allein. Als Betriebsrätin weiß sie, dass es ihren 300 Kollegen genauso geht. Ein Jahr vor der Bundestagswahl verspricht die Regierung Besserung. In den nächsten Tagen will Sozialministerin Andrea Nahles ein Rentenkonzept vorlegen. O-Ton: Andrea Nahles, SPD, Bundessozialministerin, am : Wer Jahrzehnte lang malocht, sich reinhängt, geschuftet hat, wer Jahrzehnte lang Tag für Tag früh aufgestanden ist, seine Arbeit gemacht hat, der muss im Alter davon gut leben können. Das ist das Ziel. Ein großes Versprechen, von dem die Regierung noch weit entfernt ist. Denn sie setzt weiter darauf, dass Arbeitnehmer selbst privat vorsorgen, um das sinkende gesetzliche Rentenniveau auszugleichen. Für Sozialwissenschaftler Stefan Sell reiner Zynismus: Dass man jetzt bei der aktuellen Reformdiskussion festgestellt hat, dass die unteren Einkommen besonders belastet sind, weil sie nicht ausreichend vorsorgen privat und man ihnen empfiehlt, sie sollen doch bitteschön mehr privat vorsorgen. Das bei Leuten, die heute schon mit ihrem Geld kaum über die Runden kommen. Also, das ist schon ein starkes Stück. Petra Vogel hat sogar privat vorgesorgt. Monat für Monat zahlte

4 sie 50 Euro in eine Betriebsrente. O-Ton Petra Vogel, Reinigungskraft: Ich habe das ungefähr zwölf Jahre gemacht, mache das jetzt nicht mehr. Weil andere, die geben dieses Geld aus und werden Aufstocker. Ich spare es an und werde trotzdem Aufstocker, weil s angerechnet wird. Am Ende kommt sie so oder so nur auf die Grundsicherung im Alter bekommt genauso viel oder wenig, wie jemand der nicht privat vorgesorgt oder nie in die Rentenkasse eingezahlt hat. Dass sich das durch eine Rentenreform ändert, glaubt Petra Vogel nicht. Die Rente muss reichen fordern die Gewerkschaften in ihrer aktuellen Kampagne. Die Arbeitgeber sollen wieder mehr in die Rentenkasse zahlen. O-Ton Dierk Hirschel, Chefvolkswirt ver.di: Wir haben aktuell keine Parität mehr, was die Rentenversicherungsbeiträge anbelangt, weil die Arbeitnehmer zusätzlich privat vorsorgen müssen mit maximal vier Prozent und deswegen im Ergebnis höhere Beiträge zahlen, als das die Arbeitgeber tun. Und was wir fordern, ist eine Wiederherstellung der Parität. Die Arbeitgeber sollen die gleichen Beiträge zahlen wie die Arbeitnehmer. Die Gewerkschaften haben gute Argumente: Die Wirtschaftskraft steigt und steigt. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich seit 1991 fast verdoppelt. Die Entwicklung der Bruttolöhne ist weit dahinter zurückgeblieben. Vor allem seit 2003, dem Start der Agenda Inzwischen ist es Uhr. Für Stefan Potratz beginnt die Abendvorstellung - wieder Karten kontrollieren. Die Regierung verspricht ihm und Millionen Arbeitnehmern: Die Rente soll in Zukunft reichen, für jeden. Andrea Nahles mit einer Zauberformel: O-Ton Andrea Nahles, SPD, Bundessozialministerin, am : Statt eines stetig weiter sinkenden Rentenniveaus, muss es eine verlässliche Haltelinie geben. Gleichzeitig dürfen die Beiträge nicht in den Himmel schießen. Was Frau Nahles hier zur Zeit vorschlägt, ist eine magische Haltelinie. Dass das Rentenniveau nicht noch stärker absinken soll und gleichzeitig aber auch die Beitragssätze nicht nach oben schießen, das geht gar nicht. Das ist logisch nicht möglich. Außer sie erweitern die Finanzierungsgrundlage unseres Alterssicherungssystems und davor

5 drückt man sich halt zurzeit in der rentenpolitischen Diskussion. Für Petra Vogel eine Rente, die im Alter zum Leben reicht - nur möglich mit mehr Geld im System. Wo das herkommen soll, diese Frage beantwortet die Regierung nicht. Stefan Potratz hat Feierabend. Es ist 23 Uhr. In vier Stunden klingelt sein Wecker. Abmoderation: Zur Stunde diskutieren SPD und Union, wie sie Geringverdiener vor Altersarmut schützen wollen. Angela Merkel hat die Erwartungen bereits gedämpft. So gilt für Hundertausende weiter: Ihre Rente ist sicher auf Hartz IV-Niveau Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.

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