Glaubt man seinen Eltern, fing
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- Stanislaus Schneider
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1 IRNFORSCHUNG HIRNFORSCHUNG STOTTERN Wortstau im Gehirn Locker drauflosplaudern für Stotterer ein Ding der Unmöglichkeit. Doch inzwischen haben Forscher wichtige neurologische Ursachen ausgemacht, und neue Therapien lassen Betroffene hoffen. Von Katrin Neumann Glaubt man seinen Eltern, fing das Stottern im Alter von drei Jahren und mit einem brennenden Auto an. Damals fuhr die Familie auf dem Weg in den Urlaub an einem schweren Unfall vorbei zwei Wagen standen quer auf der Fahrbahn und lichterloh in Flammen. Auch wenn man heute nicht mehr davon ausgeht, dass das Unglück der Auslöser war: Seit dieser Zeit sind Worte Gerd K.s Handikap. Im Restaurant weicht der heute 40- Jährige auf»spagetti«aus, statt die Lieblingspizza»Capricciosa«zu bestellen. Weil besonders Worte, die mit einem explosiven Laut wie K beginnen, einfach nicht aus ihm herauswollen. Sprechen ist Präzisionsarbeit. Innerhalb von Millisekunden steuert unser Gehirn den Sprechapparat an, damit dieser alle notwendigen Laute hervorbringt. Präzise arbeiten die Muskeln von Kehlkopf, Zunge oder Lippen, während der Atem dosiert aus unseren Lungen entweicht. Die meisten Menschen müssen einfach den Mund öffnen, und schon ergießt sich ein wohlgeordneter Redestrom aus ihrem Mund. Für Deutsche hingegen ist Sprechen ein Kraftakt. Außenstehende erachten das Stottern oft als Persönlichkeitsstörung oder gar Zeichen mangelnder Intelligenz. Dabei sind normalerweise nicht die sprachlichen Anforderungen (Language) das Problem von Stotterern: Es ist das Sprechen selbst (Speech). Die meisten können Gedichte aufsagen oder singen wie Normalsprechende auch Gesprächen aber sind sie kaum gewachsen. In den letzten Jahren entdeckten Forscher nun wichtige neurophysiologische Ursachen des Phänomens: Bei Stotterern funktionieren die Sprachzentren in der linken Hemisphäre nicht richtig. Ein Mangel, den das Gehirn über einen raffinierten Mechanismus in der rechten Hemisphäre zu kompensieren versucht. Böses Zungenspiel Schon in der Antike stritt man über das Phänomen des Stotterns. Aristoteles ( v. Chr.) erklärte die Zunge zum Hauptübeltäter. Er meinte, sie sei schlicht zu träge, um mit der menschlichen Vorstellungskraft Schritt zu halten ein Irrglaube, der sich lange hielt. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts versuchten Chirurgen, das fleischige Sprechorgan mit brachialen Mitteln zu korrigieren. Der Arzt Johann Friedrich Dieffenbach etwa durchtrennte Patienten die Zungenwurzel oder schnitt keilförmige Stücke aus dem scheinbar störrischen Organ. Sein englischer Kollege James Earsly dagegen empfahl, die Luftwege der Geplagten zu weiten, und operierte Zäpfchen und Mandeln heraus. Und ein gewisser R. Bates überzeugte mit seinen abstrusen Mundprothesen und Zungenbeschwerern selbst das Committee of Science and Arts am Franklin Institute im amerikanischen Philadelphia und wurde damit im Handumdrehen steinreich. Ein Jahrhundert später deutete man gestammelte Worte dank Freud und Co. verstärkt als Nervenkrise und Zeichen eines tief sitzenden psychischen Konflikts: Unterdrückte Wünsche suchten angeblich ihren Weg nach außen. Andere vermuteten, gestotterte Sprache stelle eine Art erlerntes Angstverhalten dar, verursacht und provoziert durch verständnislose, ungehaltene Reaktionen anderer Menschen. Typischerweise beginnt die Redeflussstörung wie bei Gerd K. im zweiten bis vierten Lebensjahr. Anfangs fällt sie aber gar nicht groß auf: Viele Kinder plappern in diesem Alter aufgeregt drauf los, verhaspeln sich und wiederholen Silben oder Worte. r 30 GEHIRN&GEIST 1-2/2005
2 Aus urheberrechtlichen Gründen können wir Ihnen die Bilder leider nicht online zeigen. Mühsames Lippenbekenntnis Stotterer sind nur selten Herr ihrer Worte, weil Sprache in ihren Hirnen Umwege geht. GEHIRN&GEIST 1-2/
3 r STOTTERN Im Lauf der Zeit verschwinden diese Symptome aber bei den meisten. Nur jedes zwanzigste Schulkind wird zum echten Stotterer. Und die Mehrzahl der Mädchen und Jungen überwinden die Sprechstörung dann bis zur Pubertät. Dabei spielt das Umfeld von Stotterern eine wichtige Rolle. Kinder, die gerade noch unbekümmert gestottert haben, werden schon im Kindergarten von ihren Altersgenossen zunehmend gehänselt. Dadurch beginnen sie den Wortstau im Mund zu fürchten und wollen ihn krampfhaft vermeiden was die sozialen Hemmungen aber noch verstärkt. Auch Gerd K. erinnert sich nur ungern an seine Pubertät. Gerade in dieser Zeit war das Stottern für ihn ein echtes Problem. Ob gegenüber den Eltern, dem anderen Geschlecht oder in der Clique: selbstsicheres Auftreten gelang ihm nur selten. Aus der Wehrdienstzeit blieb ihm ein besonderer Albtraum im Gedächtnis haften: Beim Morgenappell hatten sich alle Rekruten laut und deutlich mit Namen zu melden. Doch kein einziges Mal kam ihm das»gerd«ohne Hängenbleiben über die Lippen, und sein Nachname beginnt fatalerweise auch noch mit dem besonders kritischen K-Laut. Irritiert und schikaniert Gespräche auf Augenhöhe mit anderen bringen Stotterer regelmäßig aus dem Takt. Sprechen sie dagegen mit einem Säugling, Haustier oder im Schlaf, sprudeln die Worte meist ganz flüssig aus ihnen heraus. Steigen die kommunikativen Anforderungen aber wieder, verstärkt sich auch das Stottern. Doch der Worte nicht genug: Zusätzlich leiden viele Betroffene unter auffälligen Sekundärsymptomen, die sich in aufregenden Situationen noch verschlimmern. Stotterer ziehen Grimassen und gestikulieren, atmen tief ein und aus, werden rot im Gesicht oder fangen an zu schwitzen mit aller Macht wollen sie den schwierigen Laut endlich hinter sich bringen. Leider reagiert die Umwelt gerade auf solche»parakinesen«sehr irritiert, was die Anspannung noch verstärkt: Wenn stotternde Menschen ausgelacht, unterbrochen oder sprachlich überfahren werden, steigert sich ihre Sprechangst, und sie werden unmutig und ziehen sich zurück. Neurowissenschaftler vermuten, dass Emotionen die Sprachproduktion beeinflussen. Hierbei spielen nämlich Hirnregionen mit, die auch für Gefühle wie Lampenfieber, Begeisterung oder Furcht verantwortlich sind. Umgekehrt stabilisiert sich der Redefluss, wenn Stotterer sich nicht mit emotional belastenden Situationen herumschlagen oder wenn ein äußerer Taktgeber für Ruhe und Ordnung sorgt, wie zum Beispiel der Rhythmus eines Gedichts oder eines Lieds. Sprechtherapien: Was hilft wem? Für die Behandlung von Kommunikations- und Sprechstörungen werden zahllose Möglichkeiten angeboten. Für den wenigsten ist die Wirksamkeit allerdings wissenschaftlich erwiesen. Für erwachsene Stotterer gilt: Keine Therapie kann ihr Problem vollständig beheben. Mit vielen Methoden erreicht man nur kurzzeitige Besserung. Doch der Wert einer Stottertherapie bemisst sich vor allem an langfristigen Erfolgen. Die Behandlung von Kindern ist dagegen sehr oft erfolgreich und kann dem Stottern meist für immer den Garaus machen. Indirekte Therapieformen beschränken sich darauf, die Eltern der stotternden Sprösslinge zu schulen und ihre Kommunikation mit Sohn oder Tochter zu verändern. Sie dürfen beispielsweise selbst keine schnelle Sprechweise an den Tag legen oder komplexe Satzmuster bilden. Unter den direkten Therapieformen haben sich zwei Methoden bewährt. Bei der so genannten Stuttering Modification lernen die Betroffenen das Pseudostottern: Ganz bewusst lassen sie ihre Zunge stolpern und lösen so tief sitzende Blockaden. Gleichzeitig lernen sie, das Stottern nicht mehr zu fürchten. In Fluency-Shaping-Verfahren trainieren die Betroffenen dagegen ganz neue Sprechtechniken. Dazu gehört beispielsweise auch das australische Lidcombe-Programm, eine auf Kinder zugeschnittene Verhaltenstherapie. Nur für Erwachsene und Jugendliche ist dagegen die von den Kasseler Wissenschaftlern Harald Euler und Alexander Wolff von Gudenberg entwickelte Stottertherapie, eine modifizierte Version des von Ronald Webster entwickelten Fluency-Shaping-Programms. Diese beginnt mit einer dreiwöchigen Intensivtherapie, in der die Betroffenen ein neues Sprechmuster lernen: Sie trainieren Silbendehnungen, weiche Stimmeinsätze, glatte Lautübergänge und eine spezielle Atmung. Daran anschließend beginnt ein einjähriges Nachsorgeprogramm, während dessen das Gelernte gefestigt und verinnerlicht werden soll. Die Betroffenen üben täglich am Computer und leiten ihre Ergebnisse an die Therapeuten weiter. Dabei hilft der PC, indem er stimmliche Erfolge oder Fehlversuche sofort zurückmeldet. Ob die Stottertherapie angeschlagen hat, messen die Wissenschaftler durch den prozentualen Anteil gestotterter Silben in vier unterschiedlichen Sprechsituationen, beispielsweise bei einem Interview mit Passanten auf der Straße oder während eines Telefonats mit einem unbekannten Gesprächspartner. Bislang haben sich rund 450 Betroffene der Kasseler Therapie von Euler und Gudenberg unterzogen. Die Langzeiterfolge der Methode sind beachtlich: Über zwei Drittel der Klienten sprachen auch nach zwei Jahren noch erheblich flüssiger als zuvor sie reduzierten das Stottern dauerhaft um rund siebzig Prozent. Gleichzeitig steigerte sich ihr Sprechtempo, sie gewannen an Sprechnatürlichkeit und bauten ihre Sprechängste ab. Vor allem aber hatten die Absolventen die Kontrolle über ihre Sprache und konnten dem eigenen Sprechvermögen endlich vertrauen. 32 GEHIRN&GEIST 1-2/2005
4 Aus urheberrechtlichen Gründen können wir Ihnen die Bilder leider nicht online zeigen. Emotionale Faktoren können demnach das Stottern situativ auslösen als Ursache des Leids kommen sie jedoch nicht in Frage. Anfang des 20. Jahrhunderts suchten Forscher die Ursachen der Redeflussstörung nicht nur in den Sprechorganen oder einer kranken Psyche. Stattdessen gingen sie ersten neurologischen Ansätzen nach. Eine noch immer aktuelle These aus dieser Zeit stammt von den Amerikanern Sam Orton und Lee Travis. Die Neurologen glaubten, Stotterer litten ursprünglich unter einer gestörten Lateralisation des Gehirns das Denkorgan lege also nicht genau fest, welche Seite wofür zuständig ist. Dadurch käme es zu Fehlern in der neuronalen Verarbeitung, wovon auch die Artikulationsorgane betroffenen seien. Der Grund für diese Annahme: Die beiden Forscher beobachteten bei linkshändigen Kindern, dass ihr Sprechrhythmus immer dann durcheinander geriet, wenn sie die rechte, nichtdominante Hand zum Schreiben benutzen sollten. Moderne funktionelle Bildgebungsverfahren zeigen heute: Die Hemisphären-Dominanz-Theorie der beiden Forscher ging tatsächlich in die richtige Richtung, denn eine wichtige Ursache der Redeflussstörung hängt mit der Arbeitsteilung der beiden Hirnhälften zusammen. Anfang der 1990er Jahre beobachteten die Amerikaner Joseph Wu, Peter Fox und K. D. Pool von den Universitäten in San Antonio, Dallas und Irvine mittels Positronen-Emissionstomografie (PET), dass Stotterer in Sprachzentren der linken Hirnhälfte und in bestimmten Hörregionen eine geringere Aktivität aufweisen als Normalsprechende. Gleichzeitig schienen die jeweils rechten Hemisphären ungewöhnlich stark beschäftigt. Einige Jahre später präzisierte eine deutsch-finnische Arbeitsgruppe um die Hirnforscherin Riitta Salmelin diese Beobachtungen. Die Wissenschaftler von den Universitäten Helsinki und Düsseldorf registrierten mittels der so genannten Magnetencephalografie (MEG) die schwachen Magnetfelder, die sich im Gehirn auf Grund elektrischer neuronaler Aktivität bilden und fortlaufend wieder ändern. Daran erkannten sie, dass die Signalübertragung zwischen einzelnen Sprechzentren in der linken Hirnhälfte in falscher Reihenfolge abläuft. Die Ursache: Vermutlich fehlerhafte Nervenverbindungen zwischen verschiedenen Hirnarealen, die an der Spracherzeugung mitwirken. Voraussetzung für den Sprechvorgang (siehe Grafik A, S. 34) ist das Verstehen von Sprache. Dafür gibt uns die so genannte Wernicke-Region zusammen mit dem übrigen Hörcortex ständig Feedback: Sie kontrollieren die gehörte Sprache und vor allem den Sinn des Gesprochenen. Für den Sprechvorgang selbst werden in einer Region im linken unteren Stirnhirn, im so genannten Broca-Areal, Laute aus einem Pool zu sinnvollen Worten und Sätzen zusammengefügt und ihre richtige Artikulation wird geplant. Danach aktiviert der motorische Cortex die für unsere Sprache wichtigen Muskeln in Zunge, Kehlkopf oder Lippen. Warten auf den Durchbruch Stotterer können Sprechblockaden mit fachmännischer Hilfe überwinden. Die Kunst, Stottern zu therapieren, beherrschen aber nur wenige. Eine Frage der Wahrnehmung Doch bereits die auditive Selbstkon trolle scheint bei Stotterern ein Problem zu sein, wie Janis und Roger Ingham von der University of California in Santa Barbara sowie Peter Fox vom Health Science Center der University of Texas in San Antonio 2003 herausfanden. Laut ihren PET-Studien sind bei den Betroffenen vor allem die Wernicke-Region, aber auch weitere für das Hören zuständige Hirnareale betroffen. Stotterer, vermuteten die Forscher, können das eigene Gesprochene oft nicht richtig wahrnehmen. Außerdem weisen die Betroffenen in motorischen Sprachzentren und in Hörregionen hirnstrukturelle Schwächen auf. Darauf deutet etwa eine Entdeckung der Neuroanatomin Anne Foundas von der Tulane University in New Orleans hin, die im Jahr 2001 in diesen Arealen abnorme Furchungen und Größenverhältnisse der Hirnrinde beobachtete. Darüber hinaus fanden die Neurowissenschaftler Christian Büchel und Martin Sommer von den Universitäten Hamburg und Göttingen heraus, dass die Nervenfasern in vielen Gebieten des sprechmotorischen Cortex stark verändert sind. Die Forscher hatten 2001 stotternde Probanden in einer Diffusions-Tensor-Bildgebungsstudie (DTI) unter die Lupe genommen eine Methode, mit der sich kleinste Veränderungen in den Faserverbindungen des Gehirns aufspüren lassen. Trotz all dieser Defizite bekommen einige Betroffene ihr Handikap mit Therapien und anderen Hilfen recht gut in den Griff. Ihr Gehirn scheint Mittel und Wege zu finden, den Mangel zumindest teilweise zu kompensieren. Dies geschieht vermutlich bereits spontan durch r GEHIRN&GEIST 1-2/
5 STOTTERN Der Sprache auf der Spur A 2 1 A. Der normale Sprechvorgang im Gehirn Die einzelnen Schritte der Sprachproduktion sind zeitlich streng aufeinander abgestimmt. Die Broca-Region im linken unteren Stirnhirn (orange) setzt den Prozess in Gang und überträgt Lauteinheiten, die gesprochen werden sollen, in Bewegungsprogramme. Der motorische Cortex (grün) steuert daraufhin die Artikulationsorgane an (Pfeil 2), also beispielsweise den Kehlkopf oder die Zunge. Während des Sprechens findet über Hörregionen wie die Wernicke-Region (blau) eine ständige Selbstkontrolle statt (Pfeil 1). B Broca-Areal ([prä-]motorischer Cortex) RFO vor der Therapie motorischer Cortex Wernicke-Areal (sensorisches Sprachzentrum) RFO nach der Therapie links vorn rechts B. Was bewirkt die Kasseler Stottertherapie? Vor der Behandlung (links) zeigt sich im Gehirn von Stotterern im Vergleich eine deutliche Mehraktivierung (rot) in der rechten Hirnhälfte, besonders im rechten frontalen Operculum (RFO). In der sprachrelevanten linken Hemisphäre sehen wir hingegen eine Minderaktivierung (blau). Vor allem betroffen ist das Broca-Areal ein deutlicher Hinweis auf eine strukturelle Schwäche in dieser Region. Stotterer kompensieren demnach den linksseitigen Mangel in den Sprechzentren über das RFO. Nach einer Sprechtherapie (rechts) tritt eine verstärkte Aktivierung in der linken Hemisphäre auf. Besonders Regionen nahe dem Broca-Areal und anderen motorischen Sprechzentren sind beim Sprechen aktiv (rot). Scheinbar übernehmen sie nun wichtige Aufgaben während des Sprechens und das mit großem Erfolg: Direkt nach der Therapie können die Absolventen praktisch flüssig reden. Die Minderaktivierungen im Broca-Areal bleiben bestehen (blau). Generell ist das Gehirn der therapierten Stotterer nun beim Sprechen wesentlich mehr beschäftigt, denn die erlernten neuen Sprechmuster müssen ständig kontrolliert werden. r eine erhöhte Hirnaktivität in der rechten Hemisphäre während des Sprechens. Mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fmrt) identifizierte unsere Arbeitsgruppe, unter anderem bestehend aus der Physikerin Christine Preibisch und der Neurophysiologin Anne-Lise Giraud, diese Mehraktivität in einem bestimmten Areal: dem so genannten rechten frontalen Operculum (RFO), das als Pendant zur Broca-Region im unteren Stirnhirn der rechten Hirnhälfte liegt. Die meisten Menschen greifen auf das RFO nur zurück, wenn sie grammatikalische Fehler erkennen und korrigieren oder lückenhafte Sätze verstehen müssen. Neurowissenschaftler glauben deshalb, dass uns das Areal eine Art erweiterten Sprachmodus liefert. Das Gehirn von Stotterern nutzt offenbar diese rechtsseitige»sprachregion«, um ihren linksseitigen Mangel zu kompensieren. Anscheinend erfolgreich: Bei unseren Testpersonen feuerten die Neurone im RFO umso mehr, je weniger die Personen stotterten. Doch welcher Mechanismus schaltet sich ein, wenn Stotterer mit Hilfe einer Therapie lernen, flüssiger zu sprechen? Um diese Frage zu beantworten, schloss sich unser Frankfurter Team mit dem Psychologen Harald Euler von der Universität Kassel und dem Mediziner Alexander Wolff von Gudenberg in einer Kooperation zusammen. Diese beiden entwickelten in den 1990er Jahren die so genannte Kasseler Stottertherapie, eine modifizierte Version des amerikanischen Precision-Fluency- Shaping-Programms (siehe Kasten S. 32). Betroffene lernen hier eine neue, weiche Sprechweise und eine spezielle Atemtechnik. Die Erfolge dieser Methode bestechen durch ihre Dauerhaftigkeit: Auch zwei Jahre nach Therapieende ist das Stottern bei über zwei Dritteln der Teilnehmer um mehr als siebzig Prozent im Vergleich zum Ausgangswert reduziert. Was genau im Gehirn der Kasseler- Therapie-Absolventen passierte, zeigte unsere begleitende fmrt-studie. Sie dokumentierte die Hirnaktivität rechtshändiger, männlicher Stotterer sowie einer entsprechenden Kontrollgruppe vor und direkt nach der Behandlung (siehe Gra- SIGANIM / GEHIRN&GEIST 34 GEHIRN&GEIST 1-2/2005
6 »Ich stottere zwar, aber wenn ich euch zum Lachen bringe, merkt ihr s vielleicht nicht so.«vor den Augen von Millionen Kinozuschauern überwindet Schauspieler Bruce Willis sein Stottern am besten eine echte Ausnahme. fik B., links). Außerdem kontrollierten wir zwei Jahre später den langfristigen Erfolg. Zu Beginn der Therapie war bei den Stotterern die Hirnaktivität im Vergleich zu den Normalsprechenden etwas erhöht besonders stark natürlich in der rechten Hemisphäre und speziell im rechten frontalen Operculum. Deutlich zeigte sich zudem eine Minderaktivierung im sprechmotorischen Cotex und im Broca-Areal. Ersteres passt zu den Ergebnissen von Büchel und Sommer, die in diesen Gebieten auf gravierende Nervenfaserdefekte gestoßen waren. Nach der Therapie verschoben sich die Verhältnisse bei unseren Probanden jedoch komplett: Die Hirnaktivität verlagerte sich beim Sprechen auf die linke Seite, und zwar in die Nähe von sprechmotorischem Cortex, Broca-Areal und dem Hörcortex. Bringen also Therapieformen wie die der Universität Kassel nicht nur den Redefluss in Schwung, sondern»reparieren«sie die ursprünglichen Sprechzentren? Leider nein, denn nicht die vorher minderaktivierten Regionen feuern verstärkt, sondern umgebende Areale nehmen nun die Arbeit auf. Raffinierte Kompensation Dergleichen Therapien können Stotterer demnach zwar nicht vollständig heilen, jedoch scheint die Kasseler Methode von Euler und Gudenberg dem Gehirn der Stotterer eine Art externen Schrittmacher vorzugeben, mit dessen Hilfe Sprache wieder in die linke, sprachrelevante Hirnhälfte zurückkehrt. Das Gehirn der Betroffenen lernt einen neuen Weg, seine Defizite zu kompensieren: Regionen in unmittelbarer Umgebung der fehlerhaften linkshemisphärischen Sprachareale bauen zusammen mit rechtshemisphärischen Strukturen ein neues Netzwerk auf. So versucht das Gehirn von Stotterern also ständig, seine Schwäche in den linkshemisphärischen Sprachzentren zu kompensieren naturgemäß über das RFO oder nach einer Sprechtherapie über linksseitige Sprach- und Hörzentren. Diese Theorie ergibt sich auch aus der Beobachtung, dass schwach stotternde Menschen im RFO meist mehr Hirnaktivität zeigen als starke Stotterer. Zudem kehrte auch bei den Kasseler Klienten die Mehraktivität nach zwei Jahren zu einem gewissen Teil zurück in die rechte Hirnhälfte. Gleichzeitig nahm ihr Stottern auch wieder geringfügig zu. Mit einer Sprechtherapie trainiert das Gehirn demnach den eigentlich erfolgreicheren Kompensationsmechanismus. Die generell hohen Hirnaktivierungen deuten wir auch als Zeichen dafür, dass die neuen Sprechmuster ständig kontrolliert und geübt werden müssen und nicht völlig automatisiert ablaufen. Künftig wollen wir erfahren, wie eine wirksame und lebenslange Kompensation funktioniert. So interessiert uns beispielsweise die Frage, wie sich die Hirnaktivitätsmuster von Menschen, bei denen sich das Stottern in der Kindheit und Jugend zurückgebildet hat, von denen unterscheidet, die weiterhin stottern. Und wie steht es mit möglichen psychischen Auslösern der Redeflussstörung? Gerd K.s Eltern kommen immer wieder auf das Unfallerlebnis zurück. Heute gehen Wissenschaftler davon aus, dass das Ursachenpaket des Stotterns zu fast siebzig Prozent genetisch bedingt ist. Tatsächlich beobachtet Gerd K. als Vater eines fünfjährigen Sohns mit wachsender Sorge, wie sich bei seinem Sprößling das Stottern verfestigt und der Kleine beginnt, die ersten Worte eines Satzes mit Grimassen zu begleiten oder den Atem heftig auszuprusten. Immerhin: Je früher man weiß, dass ein Kind wahrscheinlich eine Stottertherapie benötigt, desto mehr besteht Hoffnung auf einen durchschlagenden und langfristigen Erfolg. l Katrin Neumann ist HNO-Ärztin und Fachärztin für Stimm-, Sprach- und kindliche Hörstörungen am Universitätsklinikum Frankfurt am Main. Literaturtipps Neumann, K. et al.: Cortical Plasticity Associated with Stuttering Therapy. In: Journal of Fluency Disorders. In Press. Guitar, B.: Stuttering An Integrated Approach to its Nature and Treatment. Philadelphia: Lippincott Williams & Wilkins Gutes Handbuch für Fachleute. Fiedler, P., Standop, R.: Stottern: Ätiologie, Diagnose, Behandlung. Weinheim: Beltz PVU Als Einstieg ins Thema. Weblinks Weitere Publikationen zum Thema unter GEHIRN&GEIST 1-2/
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