Evidenz für Dunkle Materie
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1 Universität Regensburg Wintersemester 2007/08 Fakultät für Physik Wolfgang Gebhardt, Andreas Schäfer Vom Urknall zu den Galaxien Ausbildungsseminar zur Kosmologie Evidenz für Dunkle Materie Benedikt Bauer Vortrag vom 13. Dezember 2007
2 Inhaltsverzeichnis 1 Was ist Dunkle Materie? Eine kurze Geschichte der Dunklen Materie Kandidaten Alternative Erklärungen Hinweise auf Dunkle Materie Rotationsgeschwindigkeit von Galaxien Geschwindigkeitsdispersion in Galaxienhaufen Gravitationslinsen Einige Eigenschaften und Parameter von Gravitationslinsen Anwendungen von Gravitationslinsen Strukturbildung Der Bullet-Cluster Der Beweis? 17 Literatur 19 2
3 1 Was ist Dunkle Materie? 1.1 Eine kurze Geschichte der Dunklen Materie Die ersten Hinweise auf Dunkle Materie tauchten in den 1930er Jahren auf, als der Schweizer Fritz Zwicky 1933 die Geschwindigkeitsverteilung der Galaxien im Coma-Haufen ermittelte und das Virialtheorem auf die Galaxien anwandte. Dabei stellte er fest, dass der Cluster ungefähr 400 mal bei einem zu dieser Zeit angenommnen Hubble-Parameter H 0 = 558 km s 1 Mpc 1, für den heute gültigen Wert ergibt sich ungefähr ein Faktor 50 mehr Masse haben muss, als auf Grundlage der Luminosität der Galaxien berechnet, um stabil zu sein. Zwicky folgerte daraus, dass die fehlende Materie in Form von dunkler (kalter) Materie vorliegen müsse, wobei er damit gewöhnliche Materie meinte, die zu kalt ist, um Licht zu emittieren. Der Begriff Cold Dark Matter im Sinne nichtrelativistischer, nichtbaryonischer Dunkler Materie, wie er heute verwendet wird, wurde von Bond u. a. (1984) eingeführt. Die Beobachtungen von Smith (1936) am Virgo-Cluster stützten Zwickys These, auch er zog eine wesentlich größere Masse in Erwägung, als aufgrund der Luminosität angenommen wurde entdeckten Kahn und Woltjer, dass sich der Andromedanebel und die Milchstraße aufeinander zu bewegen. Sie schlossen daraus, dass die beiden Galaxien seit ihrer Entstehung bereits einen Großteil eines Umlaufs umeinander absolviert haben mussten. Unter der Annahme, dass die Galaxien vor 15 Gyr begonnen hatten, sich voneinander weg zu bewegen, ermittelten sie für die Lokale Gruppe eine Masse von M, ungefähr viermal mehr, als die gemeinsame Masse von Andromeda und Milchstraße. Da diese beiden Galaxien ungefähr 95 % der sichtbaren Masse der Lokalen Gruppe enthalten, musste ein Großteil der fehlenden Masse in Form noch nicht gefundener Materie vorliegen. Babcock stellte 1939 fest, dass die Rotationsgeschwindigkeit des Andromeda-Nebels nicht mit dem Abstand von Rotationszentrum abnimmt, wie nach den Keplerschen Gesetzen zu erwarten, sondern ab einem gewissen Abstand nahezu unabhängig vom Abstand zum Zentrum ist. Nachdem weitere Messungen die Flachheit der Rotationskurve auch für noch größere Abstände bestätigt hatten, folgerten Roberts und Whitehurst (1975), dass in den Außenbereichen des Andromeda-Nebels mehr Masse vorhanden sein musste, als sichtbar war. Auch wenn Roberts und Whitehurst die fehlende Masse auf noch nicht gefundene Sterne zurückführten, wurde unter anderem durch ihren Artikel erstmals einer größeren Gemeinde von Astrophysikern der Umstand bewusst, dass im Universum wesentlich mehr Materie vorhanden sein musste, als man bisher vermutet hatte (vgl. van den Bergh, 1999, S. 5). 1.2 Kandidaten Ab Mitte der 70er Jahre war die fehlende Materie bei den meisten Astronomen anerkannt, allerdings war unklar, woraus diese Materie bestehen konnte. Als Kandidaten wurden in der Anfangszeit verschiedene Arten von schwach leuchtenden Himmelskörpern (Zwergsterne, Schwarze Löcher, Neutronensterne, Planeten), die unter dem Begriff Massive Compact Halo Objects (MACHOs) zusammengefasst werden, sowie heißes Gas in Erwägung gezogen. Seit den 80er Jahren gilt es in weiten Kreisen der Astrophysik als 3
4 erwiesen, dass 85 % der Materie im Universum aus nichtbaryonischer Dunkler Materie besteht. Diese wird in Form von bisher nicht entdeckten Elementarteilchen vermutet, die elektromagnetisch nicht mit gewöhnlicher Materie wechselwirken. Insgesamt geht man derzeit davon aus, dass das Universum aus Ω Λ 73 % Dunkler Energie, Ω CDM 23 % nichtbaryonischer Dunkler Materie und Ω b 4 % baryonischer Materie besteht. Nur ein Zehntel der baryonischen Materie ist leuchtend, so dass die sichtbare Materie nur rund 1 % der gesamten Materie im Universum ausmacht (vgl. Zacek, 2007). 1.3 Alternative Erklärungen Um die unerwarteten Rotationsgeschwindigkeiten von Galaxien ohne Dunkle Materie zu erklären, schlug Milgrom 1983 eine Modified Newtonian Dynamics (MOND) genannte Hypothese vor, die das Newtonsche Gravitationsgesetz für extrem kleine Beschleunigungen modifiziert, wie sie zwischen den Sternen von Galaxien auftreten. Das bekannte Newtonsche Kraftgesetz F = ma wird in MOND zu ( ) a F = m µ a mit µ(x) = a 0 { 1 für x 1 x für x 1, (1) was dazu führt, dass die Gravitationskraft in MOND für kleine Beschleunigungen größer ist als in der reinen Newtonschen Dynamik. Mit der Hypothese führte Milgrom die Naturkonstante a 0 ein, für die er den Wert a m s 2 bestimmte. Die MOND-Hypothese erfüllt das, wozu sie erdacht wurde, nämlich die Rotationsgeschwindigkeiten von Galaxien zu erklären, sehr gut, ist jedoch nicht mit der Relativitätstheorie vereinbar. Verschiedene Beobachtungen haben außerdem gezeigt, dass MOND bei anderen kosmologischen Problemen nicht ohne Dunkle Materie auskommt (vgl. z. B. Ferreras u. a., 2007). Aus diesem Grund wurden verschiedene relativistische Erweiterungen entwickelt (u. a. Bekenstein, 2004; Moffat, 2005), die die Relativitätstheorie um zusätzliche vektorielle und SKalare Terme erweitern. Diese zusätzlichen Terme verkomplizieren jedoch die ansonsten sehr gut belegte Einsteinsche Relativitätstheorie und können trotzdem manche Phänomene nicht oder nur schwer erklären, was dazu geführt hat, dass diese Theorien eher ein Nischendasein fristen. 2 Hinweise auf Dunkle Materie 2.1 Rotationsgeschwindigkeit von Galaxien Betrachtet man Spiralgalaxien als rotationssymmetrische Scheiben, die um ihren Mittelpunkt rotieren, so kann man eine Beziehung zwischen Masse und Rotationsgeschwindigkeit der Sterne um das Galaxiezentrum herstellen, indem man Zentripetal- und Gravitationskraft gleichsetzt m v2 (R) R = GM(R) m R 2 (2) 4
5 Abbildung 1: Die Rotationsgeschwindigkeit der Sterne in der Galaxie NGC 3198 um das Galaxiezentrum in Abhängigkeit von ihrem Abstand zum Zentrum. Die obere mit Messpunkten unterlegte Kurve zeigt den tatsächlichen Verlauf der Rotationskurve, die mit disk beschriftete Kurve zeigt den zu erwartenden Verlauf, wenn die Galaxie nur aus leuchtender Materie bestehen würde. Die mit halo bezeichnete Kurve zeigt den aus der Differenz der beiden Kurven ermittelten Beitrag eines intergalaktischen Halos aus dunkler Materie. (Quelle: J. Binney and S. Tremaine: Galactic Dynamics. Princeton University Press 1987) und nach v 2 (R) auflöst: v 2 (R) = GM(R) R. (3) Nimmt man einen konstanten Zusammenhang zwischen der Masse und der Luminosität leuchtender Materie an, so erhält man für die Rotationsgeschwindigkeit v lum (R) in Abhängigkeit von der Masse M lum (R) der leuchtenden Materie vlum 2 (R) = GM lum(r). (4) R Nahe dem Zentrum der Galaxie stimmt dieser Wert sehr gut mit der tatsächlich beobachteten Rotationsgeschwindigkeit überein. Bei größeren Radien findet man jedoch nicht die zu erwartende 1 R-Abhängigkeit, stattdessen bleibt die Rotationsgeschwindigkeit, wie in Abb. 1 dargestellt, für große Radien nahezu konstant. Diese Diskrepanz erklärt man in der Theorie der Dunklen Materie durch einen sogenannten Halo, einen Ring aus Dunkler Materie im Außenbereich der Galaxie. Nimmt 5
6 man wiederum an, dass M L für alle Bereiche der Galaxie konstant ist, kann man aus der Differenz zwischen der gemessenen und der aus dem Keplerschen Gesetz berechneten Rotationsgeschwindigkeit den Beitrag v 2 dark = v2 v 2 lum = GM dark(r) R (5) der Dunklen Materie an der Rotationsgeschwindigkeit bestimmen. Daraus lässt sich die Verteilung der Dunklen Materie innerhalb der Galaxie berechnen: M dark (R) = R G ( v 2 (R) v 2 lum (R)). (6) Unklar ist aber das Dichteprofil und die radiale Ausdehnung des Halos und damit auch die Gesamtmasse der Galaxie, da im Messbereich der bisherigen Messmethoden noch kein Ende der abgeflachten Rotationskurve festgestellt werden konnte. Aus diesem Grund ist mit dieser Methode wie bereits Zwicky (1937) festgestellt hatte nur eine Abschätzung der unteren Grenze der Ausdehung der Galaxie und insbesondere des Halos möglich. Die derzeitigen Messungen der Rotationsgeschwindigkeiten anhand der HI-Linie (λ = 21 cm) des Wasserstoffs haben für den Radius R 30h 1 kpc ergeben. Wertet man zusätzlich die Bewegung von Satellitengalaxien um ihre Muttergalaxie statistisch aus, erhält man R 100h 1 kpc, ohne dass ein äußerer Rand des Halos erkennbar wäre. 2.2 Geschwindigkeitsdispersion in Galaxienhaufen Auch in Galaxienhaufen finden sich Hinweise auf Dunkle Materie: Nimmt man für die Galaxien im Haufen eine Geschwindigkeitsdispersion σ v 1000 km/s an, so erhält man als sogenannte dynamische Zeitskala t cross R A σ v 1.5h yr (7) die Zeit, die eine Galaxie durchschnittlich benötigt, um den Haufen einmal zu durchqueren. Da diese Zeit deutlich kleiner ist als das Weltalter t 0, kann man davon ausgehen, dass Galaxienhaufen gravitativ gebundene Systeme sind, andernfalls hätten sie sich innerhalb t cross aufgelöst, was offensichtlich nicht der Fall ist. Deshalb geht man davon aus, dass die Haufen sich im virialen Gleichgewicht befinden, dass also im zeitlichen Mittel das Virialtheorem angewendet werden kann, wobei 2E kin + E pot = 0 (8) E kin = 1 m i vi 2 und E pot = i i j Gm i m j r ij (9) 6
7 die kinetische und potentielle Energie der Galaxien sind. Hierbei sind m i die Masse und und v i die dreidimensionalen Geschwindigkeiten der einzelnen Galaxien und r ij die dreidimensionalen Abstände von jeweils zwei Galaxien. Weiterhin kann man mit der Gesamtmasse des Haufens M := i m i (10) eine massengewichtete Geschwindigkeitsverteilung v 2 := 1 m i vi 2 (11) M i und den gravitativen Radius r G := 2M 2 i j m i m j r ij 1 (12) einführen. Zusammengefasst erhält man damit für die Energien E kin = M 2 v2 und E pot = GM 2 und eingesetzt in Gl. 8 schließlich für die Masse des Clusters r G (13) M = r G v 2 G. (14) Weder die Abstände noch die Geschwindigkeit der Galaxien sind jedoch in drei Dimensionen messbar, so dass eine Massenbestimmung auf Grundlage von Gl. 14 nicht möglich ist. Nimmt man jedoch an, dass die Galaxien in Abstand und Bewegung unkorreliert sind, so kann man v 2 durch die eindimensionale Geschwindigskeitsdispersion v 2 = 3σ 2 v (15) und r G durch den projizierten gravitativen Radius r G = π 2 R G mit R G = 2M 2 i j m i m j R ij 1 (16) ausdrücken, wobei R ij der projizierte Abstand zwischen den Galaxien ist. Da die Größen σ v und R ij direkt beobachtbar sind, kann man damit die Gesamtmasse des Haufens zu M = 3πR Gσv 2 2G ( = M σ v 1000 km/s ) 2 ( ) RG 1 Mpc (17) (18) 7
8 bestimmen. Aus der Gesamtmasse M und der Anzahl N der Galaxien des Haufens kann man eine charakteristische Masse m = M/N der leuchtenden Galaxien berechnen, die mit m M unerwartet groß ist. Außerdem kann man aus M und der Gesamtleuchtkraft L tot L des Clusters das Masse-zu-Leuchtkraft-Verhältnis berechnen, das typischerweise im Bereich ( ) ( ) M M 300h (19) L tot Cluster liegt, was etwa um einen Faktor 10 größer ist als das M/L-Verhältnis typischer Galaxien. Beide Methoden legen den Schluss nahe, den schon Zwicky (1933) gezogen hatte, nämlich dass Galaxienhaufen deutlich mehr Masse enthalten müssen, als in Form von leuchtender Materie sichtbar ist. 2.3 Gravitationslinsen Albert Einstein hatte 1911 vorhergesagt, daß Lichtstrahlen, die in der Nähe der Sonne vorbeigehen, durch das Gravitationsfeld derselben [...] eine Ablenkung erfahren, so daß eine scheinbare Vergrößerung des Winkelabstandes eines nahe an der Sonne erscheinenden Fixsternes von dieser [...] eintritt. Nach Einstein erfährt ein Lichtstrahl, der im Abstand ξ an einer Masse M vorbeigeht, eine Ablenkung um den Winkel α, wobei für α 1 die Näherung L α = 4GM c 2 ξ, (20) gilt. Im Fall eines Lichtstrahls, der an der Oberfläche der Sonne vorbei läuft, ist diese Ablenkung mit α = 1.74 arcsec wesentlich kleiner als die Winkelausdehnung der Sonne, so dass man nur eine Ablenkung des Lichtstrahls feststellt. Betrachtet man anstatt der Sonne eine weiter entfernte und/oder massereichere Masseansammlung als Linse, so lassen sich Strahlen einer hinter dieser Masse liegenden Lichtquelle beobachten, die auf beiden Seiten der Masseansammlung zur Masse hin gebeugt wurden. Eine solche Konfiguration führt zu einer mehrfachen Abbildung der Lichtquelle und ist in Abb. 2 zu sehen. Viele der durch gravitative Ablenkung hervorgerufenen Effekte sind so schwach, dass sie unterhalb des Auflösungsvermögens herkömmlicher Teleskope liegen. Sie können deshalb erst seit der Einführung atmosphärenkorrigierter Teleskope und des Hubble Space Telescope in den 90er Jahren erforscht werden. Seit dieser Zeit haben sich Gravitationslinsen jedoch zu einem der derzeit wichtigsten Forschungsobjekte und gleichzeitig Hilfsmittel der Astrophysik entwickelt, mit deren Hilfe sich die verschiedensten kosmologischen Objekte und Zusammenhänge untersuchen lassen. 8
9 Abbildung 2: Typische Konfiguration einer Gravitationslinse: Der Beobachter sieht mehrere Bilder einer Quelle, die eigentlich hinter der Linse liegt. (Wucknitz, 2007) Abbildung 3: Wichtige Größen eines Gravitationslinsensystems. S 1 und S 2 sind zwei vom Beobachter O wahrgenommene Bilder der Lichtquelle S. (Wambsganss, 1998) 9
10 2.3.1 Einige Eigenschaften und Parameter von Gravitationslinsen Ein Gravitationslinsensystem besteht wie ein gewöhnliches optische Linsensystem aus einer Lichtquelle S (Source), einer Linse L und einem Beobachter O (Observer). Für gewöhnliche Gravitationslinsen kann man annehmen, dass die Abstände D L und D LS zwischen Linse und Beobachter sowie zwischen Linse und Quelle groß gegen die Ausdehnung der Linse entlang der Sichtlinie sind. Im Rahmen dieser Thin-Lens-Approximation kann man die eigentlich hyperbolisch gekrümmten Strahlengänge durch ihre Asymptoten annähern (siehe Abb. 3). Linsengleichung den Ablenkwinkel Für eine Radialsymmetrische Massenverteilung erhält man damit für α(ξ) = 4GM(ξ) c 2 1 ξ, (21) wobei M(ξ) die Masse der Linse innerhalb des Radius ξ ist. Weiterhin kann man aus der Skizze ersehen, dass für θ, β, α 1 die direkten Verbindungen vom Beobachter zum Linsenzentrum und zur Lichtquelle den Winkel θd S = βd S + αd LS (22) einschließen, wobei die Bedingung kleiner Winkel für nahezu alle astrophysikalischen Anwendungen erfüllt ist. Definiert man weiterhin den reduzierten Ablenkwinkel α(θ) = (D LS /D S ) α erhält man die Linsengleichung β = θ α(θ). (23) Die Linsengleichung gilt auch für asymmetrische Masseverteilungen, in diesem Fall sind aber alle Winkel vektorielle Größen. Einsteinradius Setzt man den in Gl. 20 erhaltenen Ablenkwinkel für eine Punktmasse M in Gl. 23 ein und nutzt außerdem aus, dass ξ = D L θ ist, so erhält man für die Position der Quelle relativ zur Linse β(θ) = θ D LS 4GM D L D S c 2 θ. (24) Wenn Quelle, Linse und Beobachter genau auf einer Linie liegen (β = 0), wird die Lichtquelle auf einen Ring mit dem Radius θ E = 4GM c 2 D LS D L D S (25) abgebildet (siehe Abb. 4). Eine solche Ringförmige Abbildung wird als Einsteinring (vgl. Abb. 4) bezeichnet, sein Radius θ E als Einsteinradius oder Einsteinwinkel. 10
11 Abbildung 4: Die Form der Linsenabbildung in Abhängigkeit von der Massenverteilung der Gravitationslinse: Liegen Quelle, Linse und Beobachter in einer Linie und ist die Massenverteilung radialsymmetrisch, ergibt sich ein Einsteinring (oben), für eine elliptische Massenverteilung ein Einsteinkreuz (Mitte). Eine unregelmäßige Massenverteilung führt zu mehrfachen Abbildungen sowie Verzerrung zu sogenannten Arcs (unten). (Quelle: sci.esa.int, Id: 34660) 11
12 Abbildungsfunktion Mit dem Einsteinradius θ E kann die Linsengleichung (Gl. 23) für eine Linse außerhalb der direkten Sichtlinie zwischen Quelle und Beobachter zu β = θ θ2 E θ umformuliert werden. Aus der Lösung θ 1,2 = 1 2 ( ) β ± β 2 + 4θE 2 (26) (27) dieser quadratischen Gleichung geht hervor, dass eine einzelne Punktmasse immer zwei Bilder einer hinter ihr liegenden Lichtquelle an den Orten θ 1 und θ 2 erzeugt, von denen eines innerhalb und eines außerhalb des Einsteinradius um die Punktmasse liegt. Geht man zu nicht-radialsymmetrischen Masseverteilungen über, so sind je nach Konfiguration auch mehr Bilder möglich, die bei inhomogener Verteilung der Masse zusätzlich bogenförmig zu sogenannten Arcs verzerrt sind (vgl. Abb. 4). Vergrößerung Ein weiterer Parameter einer Gravitationslinse ist ihre Vergrößerung µ = θ β dθ dβ (28) als Verhältnis zwischen den Winkeln Linse-Beobachter-Bild und Linse-Beobachter-Quelle. Im symmetrischen Fall kann sie mit der Lösung der Linsengleichung als µ 1,2 = ( 1 ( θe θ 1,2 ) 4 ) 1 = u u u ± 1 2 geschrieben werden, wobei u = β/θ E die Winkeltrennung zwischen Bild und Quelle in Einheiten des Einsteinradius ist Anwendungen von Gravitationslinsen Auch wenn in der Praxis die Verhältnisse deutlich komplizierter sind, da auf dem Weg eines Lichtstrahls von seiner Quelle zum Betrachter nicht nur eine einzelne punktförmige, sondern diverse unregelmäßig geformte Masseverteilungen liegen, lassen sich mit Gravitationslinsen zahlreiche Aspekte der Kosmologie untersuchen, von denen hier nur einige Beispiele genannt werden sollen (vgl. Wucknitz, 2007; Schneider, 2006, S. 130f): Massenbestimmung Die Masse einer Gravitationslinse kann bestimmt werden, indem man zunächst für die Linse und die Lichtquelle einfache Geometrien annimmt und diese dann so manipuliert, dass die resultierende Abbildung der Quelle mit dem beobachteten Bild übereinstimmt. Auf diese Weise kann man die Masse von Galaxien oder Galaxienclustern abschätzen, die als Gravitationslinsen wirken, wobei die Abschätzung vergleichsweise wenig durch andere kosmologische Parameter beeinflusst wird. (29) 12
13 Teleskope Gravitationslinsen können als natürliche Teleskope benutzt werden, um die Empfindlichkeit der Instrumente zu erhöhen. Auf Grund der Vergrößerung können Galaxien bei Rotverschiebungen bis zu z 10 (z. B. Kneib u. a., 2004; Pelló u. a., 2004) identifiziert werden oder es können durch die Verstärkung schwach leuchtende Galaxien gefunden werden, deren Emission ohne Gravitationslinse nicht die nötige Intensität hätte, um von den Teleskopen aufgelöst zu werden. Umgekehrt können anhand ihrer von gelinsten Abbildungen Galaxiencluster identifiziert werden, die mit optischen Methoden nicht sichtbar sind. Vermessung des Universums Gravitationslinsensysteme sind relativ einfache geometrische Systeme, in denen alle Strecken und Winkel durch dimensionslose Größen wie Rotverschiebungen und Winkelabstände zueinander in festen Verhältnissen stehen. Kennt man eine absolute Länge in diesem System, dann kann man daraus alle anderen Längen bestimmen. Dies ist möglich, wenn die Lichtquelle ihre Helligkeit mit der Zeit ändert: indem man die zeitliche Verschiebung der Helligkeitsänderung zwischen den gelinsten Bildern misst, kann man den Laufzeitunterschied und damit den Wegunterschied der Lichtstrahlen bestimmen. Auf diese Weise ist es möglich, die Entfernung von Objekten oder den Hubble-Parameter H 0 ohne die kosmologische Leiter zu bestimmen. Die so gemessenen Werte für H 0 sind im Wesentlichen konsistent mit den Ergebnissen anderer Messmethoden, liegen aber systematisch eher niedriger als diese (vgl. Schneider, 2006, S. 130f). Messung des Cosmic Shear Als Cosmic-Shear bezeichnet man die Verzerrung von Bildern weit entfernter Galaxien durch das auf ihrem Weg zum Beobachter liegende Gravitationsfeld inhomogener Masseverteilungen(Abb. 5), der Effekt hat also nur im weitesten Sinne mit Gravitationslinsen zu tun. Die durch den Cosmic Shear verursachte Verzerrung liegt im Bereich der Auflösungsgrenze moderner Teleskope, so dass der Effekt für einzelne Galaxien nicht messbar ist. Die Bilder von in der Bildebene nah beieinander liegenden Galxien sind jedoch korreliert, da das Gravitationsfeld, das die Bilder durchlaufen haben, sich nicht abrupt ändert. Indem man diese Korrelationen statistisch auswertet, kann man Aussagen über Dichteinhomogenitäten im Universum treffen und damit kosmologische Parameter überprüfen oder einschränken. Ein Vorteil dieser Methode ist, dass man dafür anfangs keine Annahmen über den Zusammenhang zwischen Dunkler und leuchtender Materie machen muss (vgl. Schneider, 2006, S ). 2.4 Strukturbildung Ein weiterer Bereich, in dem die Kosmologie ohne Dunkler Materie nicht funktioniert, ist die Strukturbildung im Universum. Untersuchungen wie die 2dF Galaxy Redshift Survey zeigen, dass Galaxien nicht zufällig im Universum verteilt sind, sondern schwammähnliche Strukturen bilden, in denen es große Häufungen von Materie, aber auch leere Bereiche gibt (Abb. 6). Außerdem sind diese Strukturen bei kleinen Rotverschiebungen, d. h. in der jüngeren Vergangenheit, ausgeprägter als für frühere Zeiten, die Materie muss sich 13
14 Abbildung 5: Cosmic Shear: Die türkisen Ellipsen stellen die Urbilder (links) und Abbildungen (rechts) entfernter Galaxien dar, die auf ihrem Weg zum Beobachter durch Materieansammlungen verzerrt werden. (Quelle: Canada- France-Hawaii Telescope Corporation News/Lensing/Images/Sideshear.jpg) Abbildung 6: Das Ergebnis der 2dF Galaxy Redshift Survey: die Materie ist im Universum nicht zufällig verteilt, sondern bildet Strukturen, die denen eines Schwamms ähneln. Bei kleinen Rotverschiebungen sind diese Strukturen ausgeprägter als bei großen z. (Quelle: 14
15 Abbildung 7: Die von Massey u. a. (2007) ermittelten Strukturen baryonischer (links) und Dunkler Materie (rechts). Die Stellen hoher baryonischer Materiekonzentration sind deckungsgleich mit hohen Konzentrationen an Dunkler Materie. (Quelle: Spacetelescope.org News Release heic0701) also im Lauf der Zeit zu immer größeren Klumpen verbinden. Die vorhandene baryonische Materie allein hätte sich erst nach der primodialen Nukleosynthese zusammenballen können, was zeitlich nicht ausgereicht hätte, um Strukturen zu bilden, die nicht durch die Expansion des Universums verwaschen worden wären. Die nicht-baryonische Dunkle Materie wäre hingegen schon wesentlich früher aus dem thermischen Gleichgewicht ausgekoppelt worden und außerdem in ausreichender Menge vorhanden gewesen. Sie hätte damit Strukturen bilden können, die auch nach der Expansion noch zu signifikanten Dichteunterschieden geführt hätte. Nach der Ära der Rekombination hätte die baryonische Materie in die Potentialtöpfe, die von hohen Konzentrationen hoher Dichte gebildet wurden, fallen und sich dort ebenfalls zusammenklumpen können. Nach diesem Modell müssten Bereiche hoher baryonischer Materie-Konzentrationen innerhalb größerer Konzentrationen Dunkler Materie liegen. Dies wurde im Rahmen der COSMOS Survey von Massey u. a. (2007) untersucht. Dabei wurde ein großer Bereich in verschiedenen Spektralbereichen aufgenommen. Zusätzlich wurde nach Gravitationslinsen als Ansammlungen von Dunkler Materie gesucht und ihre Rotverschiebung gemessen. Die Resultate bestätigen die obigen Vermutungen, dass die sichtbare Materie in wesentlich größere Strukturen aus Dunkler Materie eingebettet ist, wie in Abb. 7 zu sehen ist. Außerdem konnten anhand der gemessenen Rotverschiebungen die Verteilung der Dunklen Materie für verschiedene Entfernungen und damit für verschiedene Zeiten im Universum gemessen und so eine dreidimensionale Verteilung der Dunklen Materie bestimmt werden (Abb. 8). Diese zeigt, wie schon die Bilder der 2dF Galaxy Redshift Survey, ein Verklumpen der Materie im Lauf der Zeit. 15
16 Abbildung 8: Die zeitliche Veränderung der Konzentrationen Dunkler Materie. Oben: Schnitt durch drei Zeitebenen, unten: die dreidimensionale Modellierung der Dunklen Materie im von COSMOS untersuchten Gebiet. Die Abbildung ist in Wirklichkeit konisch: das erste Bild hat eine Kantenlänge von 60 MLy, das letzte von 100 MLy (Massey u. a., 2007, Quelle: Spacetelescope.org News Release heic0701) 16
17 Abbildung 9: Kollision zweier Galaxiencluster: Die eigentlichen Cluster (blau) druchdringen einander nahezu kollisionsfrei, während die Plasmawolken (rot) kollidieren und sich von ihren Clustern ablösen. (Quelle: chandra.harvard.org NASA Release ) Einen weiteren Hinweis, dass Dunkle Materie für den Prozess der Strukturbildung wichtig ist, liefern Simulationen, die die Entwicklung des Kosmos berechnen. Diese liefern für den heutigen Zustand des Universums Strukturen, die mit den tatsächlichen Strukturen vergleichbar sind, wenn sie mit den derzeit bekannten Dichteanteilen für Dunkle Energie, Dunkle und baryonische Materie durchgeführt werden. 3 Der Bullet-Cluster Der Beweis? Im August 2006 verkündeten Clowe u. a., sie hätten im Bullet-Cluster (1E ) den Beweis für die Existenz Dunkler Materie gefunden. Der Bullet-Cluster ist ein Cluster- Merger, d. h. es sind zwei Galaxien-Haufen kollidiert, wobei der kleinere sich durch den größeren Cluster hindurch bewegt hat. Dabei gingen die Galaxien der beiden Haufen wie kollisionsfreie Teilchen aneinander vorbei, während die intergalaktischen Plasmawolken der beiden Haufen miteinander kollidierten, sich von ihren Clustern lösten und dabei durch die bei der Kollision entstandene Erwärmung im Röntgenbereich zu leuchten begannen (Abb. 9). Clowe u. a. ermittelten aus Gravitationslinseneffekten die Massenverteilung der beiden Cluster und verglichen sie mit der Verteilung der sichtbaren Materie. Dabei stellten sie fest, dass die beiden Verteilungen signifikant voneinander abweichen (vgl. Abb. 10), obwohl ein Großteil der sichtbaren Materie eines Clusters aus Plasma besteht und errechneten davon ausgehend, dass in diesem System mindestens sieben mal mehr nicht sichtbare als sichtbare Materie vorhanden sein muss. Vor diesem Hintergrund testeten sie verschiedene kosmologische Modelle daraufhin, ob sie diese Situation erklären können und 17
18 Abbildung 10: Der Bullet-Cluster: die Röntgenemission der Plasmawolken ist pink, die Massenverteilung der Cluster blau dargestellt. In der Plasmawolke des kleineren Clusters (rechts) ist außerdem die bei der Kollision im Plasma entstandene Schockfront als scharfe Kante der Wolke erkennbar. (Clowe u. a., 2006, Quelle: chandra.harvard.org NASA Release ) stellten fest, dass theoretisch insgesamt drei Modelle eine Erklärung liefern könnten. Davon sind im Fall des Bullet-Clusters jedoch zwei kaum haltbar, weil sie jeweils eine sehr genau definierte Konstellation nicht nur der beiden Cluster zueinander, sondern auch des Beobachters zu den Clustern, erfordern. Da sie solche Konstallationen für äußerst unwahrscheinlich hielten, schlossen sie daraus, dass Dunkle Materie, die sehr schwach wechselwirkt und deshalb bei der Kollision der Cluster kaum keine Änderung erfahren hat, die mit Abstand wahrscheinlichste Erklärung für die Situation im Bullet-Cluster ist. Dies sehen sie als Beweis für die Existenz Dunkler Materie an. 18
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