Wer bezahlt die Krise?
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- Harry Fuhrmann
- vor 7 Jahren
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1 Prof. Dr. Ursula Engelen-Kefer Wer bezahlt die Krise? Über die Verteilung ökonomischer Chancen und sozialer Lasten in Europa Thesen zum Streitgespräch mit Prof. Dr. Hans-Werner Sinn am 16. Mai 2012 im Studium Generale der HWR Berlin I. Privatisierung der Gewinne Sozialisierung der Verluste Beginnen möchte ich mit einem Zitat von Daniel Gros, Direktor des Brüsseler Center for Policy Studies und Thomas Meyer, Chefvolkswirt der Deutschen Bank in ihrem Beitrag zum Policy Brief vom Mai 2010: Es ist heute ein Schlüsselthema für die EU: In der Krise werden private Schulden zu öffentlichen Schulden. Oder anders: In der Finanz- und Wirtschaftskrise der EU bestätigt sich in besonders drastischer Weise die These von der Privatisierung der Gewinne und der Sozialisierung der Verluste. Oder überspitzt: Die Finanz- und Wirtschaftskrisen in der EU sind ein wirksamer Hebel für die neoliberalen Kräfte und insbesondere die Finanzwirtschaft, den Sozialstaat weiter abzubauen. Dies ist erst kürzlich aus berufenem Munde des Präsidenten der Europäischen Zentralbank, dem Italiener Mario Draghi, in mehreren vielbeachteten Interviews besonders plastisch ausgedrückt worden: Der Sozialstaat hat keine Zukunft. II. Ursachen der Krise (1) Die Konstruktionsfehler der Europäischen Währungs- und Wirtschaftsunion Die Ursachen der größten Krisen des Euro und der EU insgesamt liegen in den Konstruktionsfehlern der Europäischen Währungs- und Wirtschaftsunion, insbesondere der fehlenden Governance in der Eurozone. Sowohl die Römischen Verträge von 1957 als auch der Lissabon Vertrag, der 2009 nach zehnjähriger Schwerstgeburt in Kraft getreten ist, bieten die Grundlage für eine unübersehbare Fülle an Regeln für den Binnenmarkt, aber wenig wirksame Instrumente für eine wirksame Koordinierung von Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik.
2 Der 2001 in Kraft getretenen Währungsunion für 17 Euro Länder fehlt eine tragfähige wirtschaftliche und finanzpolitische Fundierung. Der Stabilitätspakt mit seinem Regelwerk für Nettoneuverschuldung, Gesamtverschuldung und Inflation entbehrt des politischen Willens und somit auch ausreichender Instrumente zur praktischen Umsetzung und Überwachung (s. Italien und Griechenland). (2) Erhebliche Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung oder die Kehrseite des Deutschen Exportmodells Die immer stärker auseinanderklaffenden Wettbewerbs, Kosten- und Leistungsbilanzstrukturen wurden von den Mitgliedsregierungen und Europäischen Institutionen jahrelang in den Hintergrund gedrängt. Zu einer öffentlichen Auseinandersetzung kam es, als die ehemalige Finanzministerin Frankreichs und jetzige Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, im vergangenen Jahr die Verschärfung der Finanz- und Wirtschaftsungleichgewichte in der Währungsunion durch das Exportmodell der Bundesrepublik Deutschland thematisierte. Ausführlich dargestellt werden inzwischen die hierdurch hervorgerufenen finanz- und wirtschaftspolitischen Ungleichgewichte nicht nur in dem Memorandum 2012 der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik mit dem bezeichnenden Titel Europa am Scheideweg Solidarische Integration oder deutsches Spardiktat. Auch Prof. Dr. Peter Bofinger, Mitglied im Sachverständigenrat für die Begutachtung der Wirtschaftlichen Lage, setzt sich mit den Implikationen der deutschen Exportdominanz auseinander. Verbunden mit der gemeinsamen Währung ist eine immer stärkere Integration der Finanz- und Bankensysteme. Besonders eindrucksvoll ist hierbei die Untersuchung von Heike Joebges und Camille Logeay von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Deutlich wird der enge Zusammenhang nach Einführung des Euro zwischen den aus dem Export resultierenden erheblichen Anstieg der Leistungsbilanzüberschüssen für die Bundesrepublik einerseits und andererseits der Nettoneuverschuldung von Griechenland, Portugal und Spanien. Als Ursachen für den starken Anstieg der Leistungsbilanzüberschüsse für die BRD weisen sie auf das unterdurchschnittlich niedrige Wachstum der Lohnstückkosten hin. Während diese in den überschuldeten südeuropäischen Ländern zwischen Einführung des Euro bis zum Beginn der Finanzkrisen 2007 von 17 auf 28 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gestiegen sind, haben sie in der Bundesrepublik in dieser Zeitspanne stagniert mit der Folge einer im EU Vergleich besonders schwachen Binnenkonjunktur bei eingeschränkter Kaufkraft und relativ hohen Realzinsen.
3 Den hohen Exporten auch und insbesondere in die südeuropäischen Mitgliedsländer der EU stehen erheblich niedrigere Importe aus diesen Ländern gegenüber. Joegbes/Logeay kommen daher zu dem Schluss: Ein Teil des exportgetriebenen deutschen Wirtschaftsmodells mit seinen hohen Leistungsbilanzüberschüssen wäre ohne die Defizite schwächerer Partner in der Währungsunion nicht möglich gewesen. III. Zunehmende Spaltung der Gesellschaft (1) Folgen für die Bundesrepublik Deutschland Bei gesamtwirtschaftlich guter Entwicklung von Wachstum, Beschäftigung und in den letzten beiden Jahren auch den Tariflöhnen sowie Einnahmen aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen verschärft sich die Spaltung in der Gesellschaft. Mit annähernd 3 Millionen besteht trotz erhebliche Rückgänge immer noch Massenarbeitslosigkeit; die Langzeitarbeitslosigkeit ist im nationalen und europäischen Vergleich nach wie vor überdurchschnittlich hoch; etwa 7 Millionen Menschen müssen in prekärer Beschäftigung mit Niedriglöhnen arbeiten, auch höher und hoch Qualifizierte bis zu akademisch und wissenschaftlich Tätigen; die Anzahl der Hartz IV Empfänger ist auf über 7 Millionen angestiegen; davon 1,4 Millionen trotz Arbeit, deren Einkommen zum Leben nicht ausreicht; in den nächsten Jahren ist entsprechend ein dramatischer Zuwachs an Altersarmut zu erwarten, der durch den ständigen Sozialabbau bei den Altersrenten der Rente mit 67, der Gesundheitsversorgung sowie der Pflegesicherung weiter verstärkt wird. Zwischen 2004 und 2009 sind die Einkommen des untersten Viertels der Einkommensbezieher jahresdurchschnittlich nur um 0,9 Prozent gestiegen; hingegen sind die Einkommen des obersten Viertels der Einkommensskala im Jahresdurchschnitt um 3,7 Prozent und die Einkünfte aus Unternehmenstätigkeit und Vermögen um 2,4 Prozent gewachsen. (Die teilweise skandalösen Gehälter und Boni in den Topetagen der Wirtschaft verschärfen diese Ungleichgewichte bei Einkommen und Vermögen zusätzlich). Verschärft wird diese soziale Spirale nach unten durch die Kumulation öffentlicher Verschuldung für die Rettung der Finanzwirtschaft und der überschuldeten Euroländer auf inzwischen 2 Billionen Euro. Bereits in den Haushaltsgesetzen der Bundesregierung bis 2013 sowie den Eckwerten der Finanzplanung des Bundes bis 2016 sind die größten Kürzungsmaßnahmen für die
4 Arbeitsmarktpolitik sowie die Sozialen Sicherungssysteme bereits umgesetzt, eingeleitet und geplant. (2) Folgen in der EU Dramatisch sind die negativen Auswirkungen der Krisen sowie der politischen Ungleichgewichte in der EU sowie zwischen und innerhalb der Mitgliedsländer für die große Mehrheit der Bevölkerung. Die rigorose Kürzungspolitik Reduzierung von Löhnen, Renten, Sozialleistungen, Arbeitsund Sozialrecht sowie Erhöhung der Verbrauchssteuern- als Bedingung für die Gewährung der finanziellen Rettungsoperationen führt zu dramatischen Einbrüchen des Wirtschaftswachstums sowie der Erhöhung von Arbeitslosigkeit und Armut. Die Bekämpfung der gravierenden Strukturprobleme ist trotz bereits jahrelanger Krise nicht erkennbar - massive Steuerhinterziehung und Steuerflucht der Wohlhabenden, Ineffizienz des öffentlichen Dienstes ( vor allem in Griechenland); gravierende Defizite in den Wirtschaftsstrukturen; nicht wettbewerbsfähiges Preisniveau; mangelnde Bildung, Ausbildung und Beschäftigungschancen für junge Menschen. Der EU Fiskalpakt mit seiner einseitigen Ausrichtung auf die Verankerung einer Schuldenbremse in allen Euroländern sowie weitere Kürzungsmaßnahmen im öffentlichen und sozialen Bereich wird diese Länder noch tiefer in die Rezession treiben und damit deren Finanzierung auf den Geld und Kapitalmärkten weiter erschweren, wobei Griechenland und Portugal bereits seit mehreren Jahren abgeschnitten und damit auf die EU-Rettungsfonds angewiesen sind. Dies ist eine stetige Spirale nach unten Dabei ist es noch niemandem gelungen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. IV. Schlussfolgerungen und Handlungsperspektiven Aus dieser Analyse der Erscheinungsformen und Ursachen der Krisen ergibt sich: Bezahlen müssen die Krise - die Steuerbürger, Arbeitnehmer, Rentner und Pensionäre, Arbeitslose, Sozialleistungsempfänger in den Gläubigerländern über die gigantischen Rettungsschirme, die dadurch bedingte öffentliche Kürzungspolitik und die individuelle Betroffenheit bei Realisierung der beinahe grenzenlosen finanziellen Haftung; sowie
5 - die große Mehrheit der Menschen in den Krisenländern durch die Kürzungsauflagen, die in Rezession, Arbeitslosigkeit und Armut führen. Vordergründig sollen damit der Euro und die Krisenländer gerettet werden. In Wirklichkeit geht es um die Rettung der Banken und sonstigen Finanzanleger und ihrer Kapitaleigner. Sie sind die Gewinner der Krise, treiben die Regierungen sowie die EU Kommission vor sich her. Dieser Teufelskreis in die Desintegration von Währungsunion und EU insgesamt ist nur zu durchbrechen durch eine Reregulierung der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik auf nationaler und europäischer Ebene. - Für die Krisenländer: Marschallplan für Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, gleichgewichtige Steuerpolitik, öffentliche Governance zur Verbesserung der Effizienz öffentlicher Institutionen sowie wirksamer Bekämpfung der Korruption; - Für die Gläubigerländer - insbesondere die Bundesrepublik: Stärkung der Binnenkonjunktur durch gleichgewichtige Entwicklung der Löhne innerhalb der Bundesrepublik wie der EU durch: offensive Tarifpolitik; einheitliche gesetzliche Mindestlöhne nicht unter 8Euro50 in der Stunde; Reregulierung des Arbeits- und Sozialrechtes, insbesondere der Hartz Gesetze für den Arbeitsmarkt; Wiederherstellung und Zukunftsfähigkeit des solidarischen gesetzlichen Sozialversicherungssysteme Gerechte Steuerpolitik: Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommenssteuer; Abbau des Mittelstandsbauchs und Schließung der unübersehbaren Vielfalt der Steuerschlupflöcher; Schließung der Löcher bei der Erbschaftssteuer; Wiedereinführung der Vermögenssteuer; Einführung einer Finanztransaktionssteuer; Einführung einer zeitlich begrenzten Vermögensabgabe zum nationalen und europäischen Lastenausgleich. - Für die EU: Wirksame rechtliche Grundlagen, Institutionen und Instrumente der Governance zur Koordinierung der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik dabei insbesondere: Europäischer Währungsfonds Europäische Ratingagenturen Koordinierung der Unternehmenssteuern Einführung einer wirksamen Finanztransaktionssteuer.
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