University of Groningen. Nicht für die ewigkeit Bosch-Meyer, Jennifer

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1 University of Groningen Nicht für die ewigkeit Bosch-Meyer, Jennifer IMPORTANT NOTE: You are advised to consult the publisher's version (publisher's PDF) if you wish to cite from it. Please check the document version below. Document Version Publisher's PDF, also known as Version of record Publication date: 2016 Link to publication in University of Groningen/UMCG research database Citation for published version (APA): Bosch-Meyer, J. (2016). Nicht für die ewigkeit: Der architekt Johannes Fake Berghoef ( ) zwischen kontinuität und erneuerung [Groningen]: University of Groningen Copyright Other than for strictly personal use, it is not permitted to download or to forward/distribute the text or part of it without the consent of the author(s) and/or copyright holder(s), unless the work is under an open content license (like Creative Commons). Take-down policy If you believe that this document breaches copyright please contact us providing details, and we will remove access to the work immediately and investigate your claim. Downloaded from the University of Groningen/UMCG research database (Pure): For technical reasons the number of authors shown on this cover page is limited to 10 maximum. Download date:

2 Nicht für die Ewigkeit Der Architekt Johannes Fake Berghoef ( ) zwischen Kontinuität und Erneuerung Jennifer Bosch-Meyer

3 Nicht für die Ewigkeit Der Architekt Johannes Fake Berghoef ( ) zwischen Kontinuität und Erneuerung PhD thesis to obtain the degree of PhD at the University of Groningen on the authority of the Rector Magnificus Prof. E. Sterken and in accordance with the decision by the College of Deans. This thesis will be defended in public on Monday 13 June 2016 at 12:45 hours by Jennifer Bosch-Meyer born on 21 October 1982 in Herdecke, Germany 1

4 Supervisor Prof. dr. A. van der Woud Co-supervisor Dr. C.P.J. van der Ploeg Assessment committee Prof. dr. B.J.F. Colenbrander Prof. dr. W.E. Krul Prof. dr. C. Wagenaar 2

5 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Vorwort... 7 Einleitung... 8 Moderne Architektur aus neuer Perspektive... 8 Das neue Interesse am Traditionalismus Das Fallbeispiel Johannes Fake Berghoef Der Nachlass Berghoef Teil 1 (Architekturtheorie) Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Umschwung in der Sichtweise: die 1980er Jahre Konventionelle Architekturbilder Der Traditionalismus (oder auch traditionelle Architektur) Moderne Architektur Moderne Architektur - ein Stil oder kein Stil Was ist dann modern? Zur Problematik eines Begriffs in der Architekturgeschichte `Moderne Architektur als Kulturprodukt Moderne Architekturgeschichtsschreibung - Mythologisieren und Exemplifizierung Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Der Name Delftse School als Resultat modernistischer (Anti-)Propaganda Der Schulbegriff in der Architekturgeschichte: Gruppierung und Theorie Die Delfter Architekten eine homogene Gruppe? Die Delftse School und der vermeintliche nationalsozialistische Katholizismus Eine Delfter Architekturtheorie und -praxis? Die kulturelle Bedeutung des Bauens Die Delftse School als anerkanntes Leitbild des Traditionalismus Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur ` Een echte traditionalist Die historiografische Sicht auf Berghoef Der Architekt Johannes Fake Berghoef Zusammenarbeit und Engagement Berghoef und die `Delfter Schule Granpré Molière und das Studium in Delft Der eigene Weg Berghoefs Kritik an dem Konstrukt der Delftse School Berghoef im Austausch mit Jan P. Kloos und Samuel J. van Embden Berghoefs Denkbilder über Architektur und Gesellschaft Architektur als Spiegel der Gesellschaft Über schlechtes Bauen und Selbstkritik Charakter und Bedeutung durch Formgebung Inspirationen aus dem Ausland Kontinuität: Identität und Nationalität in der Örtlichkeit und dem Material Erneuerung: Technik und Moral

6 Inhaltsverzeichnis Teil 2 (Architekturpraxis) Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Berghoef und sein Beitrag zum niederländischen Kirchenbau im 20. Jahrhundert Die Versäulung in den Niederlanden und die Bauaufträge Theorieformung zum Kirchenbau vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Die neue gesellschaftliche Rolle des Kirchenbaus nach Funktionserweiterung Multifunktionalität in der Kirchenarchitektur Der Kirchenraum eine Frage des liturgischen Programms Formgebung und Erkennbarkeit Die Rolle des Kirchenbaus im Stadtbild Kirchengerechtes Baumaterial Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Die Amsterdamer Rathauspreisfrage ( ) Der Rathausbau der Nachkriegszeit Diskussion über Monumentalität und Charakter Monumentalität als menschliches Bedürfnis Der `richtige Charakter Das Rathaus von Wieringerwerf (1955) Das Rathaus von Aalsmeer (1961) Das Rathaus von Hengelo (1963) Der Berghoefsche Rathausbautypus Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Bürobauten der 1950er und 1960er Jahre Tendenzen und Merkmale Die Verwaltungsbauten Berghoefs Die Ned. Heidemaatschappij in Arnhem ( ) Das Ziekenfondsgebouw in Alkmaar (1952) Das A.N.W.B.-Gebäude in Den Haag Das neue Verwaltungsgebäude des Koninklijke Nederlandse Toeristen Bond (1963) Das Waterstaatsgebouw in Groningen - Verwaltungsgebäude des Wasserwirtschaftsamts und der Warenprüfstelle in Groningen (1966) Bürobau nach dem Vorbild Nervis Zusammenarbeit von Architekt und Konstrukteur Der Bürobau als Nutzbau und seine künstlerische Formgebung Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Von Stillosigkeit und ländlicher Baukunst Wohnbauten in und um Aalsmeer der er Jahre Des Architekten eigene Wohnhäuser in Aalsmeer Wohnungsbau im Wieringermeerpolder Typologie und Serie Privater Wohnungsbau der Nachkriegszeit (1940er und 1950er Jahre) Die Stadterweiterung Amsterdams: Neubauviertel und Massenwohnungsbau Standardisierung und Normalisierung - Das Nemavo-Airey System Die Nemavo Airey-Wohnungen Berghoefs Die Form-Kritik Berghoefs am Systembau Die Konsequenzen des Baubooms - Eine kritische Reflexion zum Wohnungs- und Städtebau der Nachkriegszeit Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Der städtische Wiederaufbau von Middelburg ( ) und die Restauration der Abtei ( ) Der Wiederaufbau einer historischen Modellstadt Die Wiederaufbaupläne der Innenstadt Die Restaurationsprogramme der Abtei

7 Inhaltsverzeichnis Kirchen und Klostertrakt Das Provinciehuis des J. F. Berghoef Die Beurteilung des Wiederaufbauprogramms durch J. F. Berghoef Über die Zukunftsfähigkeit der historischen Modellstadt Middelburg Schlussbetrachtung Anhang Abbildungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Archive Literaturverzeichnis Curriculum Vitae Zusammenfassung Samenvatting

8 Inhaltsverzeichnis Für meinen Vater, meinen Mann und jeden, der Freude hat hierin zu blättern. 6

9 Vorwort Vorwort Als ich 2002 in Deutschland mein Abitur machte, hatte ich noch keine konkreten Vorstellungen, was ich studieren sollte. Da ich mich aber schon immer für Kunst und Architektur, Denkmalpflege und alte Kulturen interessierte, entschied ich mich kurzentschlossen mich an der Ruhr Universität Bochum für die Fächer Kunstgeschichte und Archäologische Wissenschaften einzuschreiben. Besonders habe ich die Verbindung von Theorie und Praxis geschätzt, wobei ich besondere Erinnerungen an meine Professoren Dietrich Erben und Hans Lohmann habe, die mir mit ihrer Lehrweise und der menschlichen und wissenschaftlichen Betreuung das erfolgreiche Absolvieren des Studiums ermöglicht haben. Das Arbeiten in Museen und bei archäologischen Projekten haben zweifelsohne meinen Horizont erweitert und mir auch gezeigt, was mir mehr lag und was weniger. Dass ich die Herausforderung einer Doktorarbeit angenommen habe, habe ich letztendlich meinen beiden wissenschaftlichen Betreuern meines Dissertationsprojektes zu verdanken. Nie hätte ich während des Studiums daran gedacht, dass ich promovieren würde. Doch Kees van der Ploeg habe ich zu verdanken, dass ich nach dem Abschluss meines Masters in Deutschland in die Niederlande zurückging, und Auke van der Woud, dass er mir soviel Vertrauen schenkte, dass er mich als einer seiner letzten Schützlinge annahm. Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank. Wie jede Doktorarbeit kannte auch dieses Projekt seine Höhen und Tiefen. Dank der guten Begeleitung jedoch keinen Zustand der Verzweiflung. Mein Dank gilt dabei neben dem Vertrauen von Kees und Auke meiner Familie und meinen Freunden. Auch wenn nicht jeder versteht, worüber ein Doktorand philsophiert, wenn er über eine Arbeit spricht, so haben mir meine deutsche und holländische Familie den Rücken gestärkt, um das Ding fertig zu schreiben. Das Verständnis und die Möglichkeit des Austausches über alles, was man als Doktorand so mit sich rumträgt, wurden getragen von meinen Freunden und Kollegen, von denen ich Laura, Aart, Theisje, Hanka und Klazina im besonderen Danken möchte. Mein besonderer Dank gilt auch meinem Mann, Rudolf Bosch. Es ist ein Fluch und ein Segen zugleich, wenn man gleichzeitig an einer Doktorarbeit schreibt. Letztendlich versteht man einander nur allzu gut und das schweißt zusammen. Ich danke dir von ganzem Herzen für deine Unterstützung und ich schaue mit Freude auf die letzten Jahre zurück, in denen wir so viele konstruktive Gespräche, Diskussionen, gemeinsame Lesungen und Konferenzbesuche miteinander teilen konnten. Ohne dich wäre das alles nur halb so schön gewesen, Letztendlich danke ich auch allen Mitarbeitern der verschiedenen Archive, die ich besucht habe, den Mitarbeitern des NAi, besonderen Dank an dieser Stelle gilt Hetty Berens, und den Kollegen und Mitarbeitern der RUG, die mir die Forschung ermöglicht haben. 7

10 Einleitung Einleitung Diese Untersuchung ist keine Architektenmonografie und beschäftigt sich nicht mit der Stilfrage. Die vorliegende Arbeit handelt vom Verstehen modernen Architekturschaffens. Gemeint ist hiermit das künstlerische und gesellschaftliche Schaffen des Architekten im 20. Jahrhundert. Dieses Jahrhundert gilt, mit besonderem Fokus auf die Zwischen- und Nachkriegszeit, als Höhepunkt der europäischen Moderne. Dabei weist es in vielen Bereichen der gesellschaftlichen Entwicklung Höhen und Tiefen auf, die die Baugeschichte und Baukultur der westlichen Welt geprägt haben. Besonders die erste Hälfte dieses Jahrhunderts war gekennzeichnet durch zwei Weltkriege, einen schnellen technischen Fortschritt, ein enormes Bevölkerungswachstum und wirtschaftliche Berg- und Talfahrten. Auch für die Geschichte der Niederlande gelten die Schlagwörter der Zwischenkriegszeit (Interbellum), der Kriegsjahre des Zweiten Weltkriegs, die gekennzeichnet waren von Fremdbesetzung und einer nationalen Identitätssuche, Wohnungsnot, Gesellschaftswandel, Wiederaufbau, Bauboom und der Entwicklung neuer Bautechniken (Standardisierung, Massenfabrikation) und Baumaterialien (z. B. Stahlbeton). Besonders in der Nachkriegszeit gab es in allen Bereichen des öffentlichen Lebens (Wohnungsbau, Infrastruktur u.v.m.) aktiven Handlungsbedarf seitens der Architekten zur Lösung der kontemporären architektonischen und gesellschaftlichen Probleme und Engpässe. Mit dieser Entwicklung und den Gegebenheiten ging eine neue Befindlichkeit einher, die im Kontext einer beginnenden Globalisierung eine gezielte Auseinandersetzung mit der eigenen (Bau-)Kultur beinhaltete. Sowohl die so genannten Modernisten als auch die so bezeichneten Traditionalisten beschäftigten sich mit diesen neuen Rahmenbedingungen. Dabei gab es auf alle diese Anforderungen der `Moderne seitens der tätigen Architekten und Städtebauer verschiedene Antworten. Lange herrschte in der Architekturhistoriografie die Idee vor, dass der Modernismus, die einzige richtige Lösung war. Diese Untersuchung widmet sich in erster Linie der Frage, wie sich die `andere Gruppe, die der so genannten Traditionalisten, zur die Moderne, d. h. den Modernismus und der Modernität der Gesellschaft verhält? Im Folgenden wird mit dieser Arbeit eine andere mögliche Antwort auf die Anforderungen der Moderne vorgestellt, die zu einer neuen Sichtweise auf die Entwicklung der modernen Architektur führen soll. Die vorliegende Arbeit ist eine Beschreibung der Entwicklung der niederländischen Architektur des 20. Jahrhunderts aus einem bisher noch nicht eingenommenen Blickwinkel. Im Fokus dieser Untersuchung steht dabei die Kernfrage, was modernes Architekturschaffen in der Zeit von 1920 bis 1965 beinhaltete, welchen Anforderungen es sich stellen musste und welche Ausführungsformen es finden konnte. Dies ist eine Beschreibung und Analyse moderner Architektur betrachtet aus der Perspektive eines niederländischen Architekten: Johannes Fake Berghoef ( ). Moderne Architektur aus neuer Perspektive Eine Geschichte der modernen Architektur zu schreiben ist nicht einfach und nicht neu. Schon viele haben sich an eine Darstellung der Architektur, den Architekten und dem Geschehen um das Architekturschaffen in der Zeit zwischen , eine Periode die allgemein als die Zeit der modernen Architektur gesehen wird, gewagt. Die Geschichte der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts war lange Zeit, seit der ersten Geschichtsschreibung durch Giedion im Jahr 8

11 Einleitung 1941, eine Geschichte der Avantgarde. 1 Der Grund hierfür war, dass die Avantgarde mit ihrer spektakulären Kunst und Architektur und ihren einprägsamen Manifesten, viel von sich reden machte und provozierte. Sie wollte die Spitze aller Strömungen sein. Es kristallisierten sich extremste Positionen heraus, die die Entwicklung der Architektur in diesem Jahrhundert bipolar markierten. Für die Geschichtsschreibung lag es nahe, diese gegensätzlichen Positionen am deutlichsten heraus zu arbeiten und zu charakterisieren. Manchmal geschah dies in übertriebener Weise, indem Widersprüche sowohl überhöht als auch verschwiegen wurden, wie bei Siegfried Giedion (1941) oder Jakobus J. Vriend ( er Jahre). Andere Übersichtswerke, z. B. von Johannes Pieter Mieras (1954), Umberto Barbieri (1999) oder Marieke Kuipers (2002), versuchten eine neutrale Beschreibung der Prozesse in der Bauwelt des 20. Jahrhunderts und machten dadurch auf die vorherrschenden Tendenzen und die Pluralität des Architekturschaffens und der dahinterstehenden Anforderungen aufmerksam. Ob es überhaupt möglich ist, eine objektive Architekturgeschichte zu moderner Architektur zu schreiben, ist fraglich. Das (Be-)Schreiben von Geschichte, von Prozessen, die hinter historischen Jahreszahlen und Fakten verborgen liegen, ist immer gefärbt durch die Brille, die der Beschreibende aufsetzt. Dessen ungeachtet oder eigentlich gerade deshalb können wir nur durch das Einnehmen verschiedenster Blickwinkel ein facettenreiches und damit authentisches Bild von dem Architekturgeschehen des 20. Jahrhunderts erhalten. Was diese Arbeit darum aufgreift, ist ein historiografisches Problem der Architekturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts: Die einseitige Konstruktion des Bildes und das Mythologisieren von moderner Architektur, das durch bestimmte Protagonisten der sogenannten modernistischen Architekturströmung (Siegfried Giedion, Nikolaus Pevsner, Jakobus J. Vriend etc.) geprägt und verbreitet wurde, und das noch immer in den (populärwissenschaftlichen) Handbüchern zur niederländischen Architekturmoderne seine wiederholte, teilweise unreflektierte Anwendung findet. 2 Es ist schließlich auffällig, dass in den Übersichtswerken stets eine kleine ausgewählte Gruppe von `modernen Architekten und deren Bauwerke gezeigt werden (Berlage, Oud, Rietveld, Van den Broek & Bakema u.v.m.). Daneben zeigt sich immer wieder eine schubladenartige Auffächerung und Gegenüberstellung von `moderner und `traditioneller Architektur. Spiegelt diese kontrastierende und polarisierende Darstellung moderner Architektur wirklich die Wirklichkeit des modernen Architekturschaffens wider? Eine wirkliche Definition von diesen `konträren Architekturrichtungen wird schließlich selten geliefert. In der Regel erhält die traditionelle bzw. traditionalistische Architektur eine recht stiefmütterliche Behandlung. 3 Der Grund hierfür ist naheliegend. Diese `traditionsorientierte Art des Architekturschaffens scheint weniger spektakulär, zeigt sich nicht expressiv innovativ und zieht dadurch weniger (internationale) Aufmerksamkeit auf sich. Und das, obwohl sie zahlreicher vertreten ist als die stark durch modernistische Formsprache geprägten Bauten, oder vielleicht gerade deshalb. Überdies wird in der Architekturhistoriografie zur modernen Architektur je nach gewünschtem Resultat der technische oder der formalästhetische Aspekt zur Darstellung von 1 Siehe erweiterte 5. Auflage der Erstausgabe von 1941 Giedion Vgl. u.a. Blijstra 1960; Colquhoun 2002; Van Dijk 1999; Groenendijk und Vollaart Als umfassendere Übersichtswerke zur Architekturgeschichte der Niederlande siehe u.a. Ibelings 1988, 36-37; Van Dijk 1999; Kleijn und Smit 1999; Blijdenstijn und Stenvert 2000; Bosma et al

12 Einleitung `moderner Architektur herangezogen. Dabei werden auch verschiedene Beschreibungen und Attribute wie modern, modernistisch, traditionell und traditionalistisch ohne klare Linie und Abgrenzung voneinander angewendet. Häufig handelt es sich um ein undefiniertes Wirrwarr an Begrifflichkeiten. Der Anspruch von (gesellschaftlicher) Funktionalität und Charakter moderner Architektur wird meist nur tangential gestreift. Doch was beinhalten diese Aspekte, wenn sie bei einem Blick auf das so genannte `traditionalistische Architekturgeschehen des 20. Jahrhunderts angewendet werden? Ist moderne Architektur ein Stil, d. h. eine Formgebung, die gebunden ist an das ästhetische Konzept aufbauend auf den Kernbegriffen Licht, Luft, Raum, Gesundheit und Funktionalität, die die so genannten Traditionalisten nicht handhabten, wie Giedion und viele seiner Nachfolger behaupteten. Oder ist moderne Architektur eine bestimmte Haltung zur Funktion von Architektur und der Rolle des Architekten? Die Beschreibungen moderner Architektur in den verschiedensten Formen, von Propagandaschriften über Manifesten bis hin zu möglichst objektiven Beschreibungen von Architekten und ihren Bauwerken sind sich hierüber nicht immer einig. Oftmalig wird moderne Architektur mit einer bestimmten stilistischen Formgebung gleichgesetzt. Daraus resultiert die Frage, ob sich Modernität in der Architektur ausschließlich am Gebrauch neuester Baumaterialien und Bautechniken sowie einer modernistischen Formgebung festmachen lässt. Wie soll man Architektur einordnen, die sowohl traditionell inspirierte Formgebung als auch neueste Bautechniken miteinander verbindet? Bei einer schubladenartigen Einteilung in konträre Strömungen erweist sich dies als ein unmögliches Vorhaben. Welche Sichtweise in dieser Untersuchung als Ausgangspunkt zur Betrachtung von Moderner Architektur dient, ist mit dem einführenden Satz schon deutlich gemacht. Moderne Architektur wird in diesem Kontext verstanden als eine Auffassung von Architekturschaffen und die Sichtweise auf die Rolle von Architektur für den Menschen und das Zusammenleben. In diesem Verband soll die Rolle von Erneuerung als Diskontinuität und Tradition als Kontinuität, von Kultur und technischem Fortschritt in der Historiografie und der tatsächlichen Baupraxis betrachtet werden. All diese Aspekte haben zweifelsohne eine Rolle im Kontext des modernen Architekturschaffens gespielt, sowohl für die sogenannten Modernisten als auch die Traditionalisten. Fraglich ist, ob das bewusste Auseinandersetzen mit der Tradition und der Vergangenheit als Zeichen für eine prinzipiell unmoderne Haltung zu beurteilen ist. Bei einem quantitativen Vergleich der zahlreichen Monografien und Abhandlungen über die so genannten modernen (modernistischen) Architekten im Gegensatz zu den weniger beachteten `Traditionalisten, zeigt sich ein noch großes Desiderat in der Forschung. Viele der noch unbekannten Personen aus der Architekturlandschaft des 20. Jahrhunderts haben zeitlebens große Wertschätzung erhalten und nahmen auch durch ihre anderen Tätigkeiten, wie z. B. Hochschullehrer oder Kommissionsmitglieder, Schlüsselpositionen ein. Manche publizierende traditionalistische Architekten (z. B. Marinus J. Granpré Molière) haben das Bild moderne und traditioneller Architektur selbst aktiv zu ihren Gunsten verzerrt. Doch waren viele Architekten aus dem Kreise der so bezeichneten Traditionalisten selbst meist weniger propagandistisch tätig als einige ihrer (modernistischen) Kollegen. Die Forschung schien lange Zeit zu verkennen, dass trotz formaler und stilistischer Bezüge, die Architekten der so bezeichneten traditionalistischen Strömung, Bauwerke mit einem hohen eigenschöpferischen Anteil geschaffen haben. 10

13 Einleitung Das neue Interesse am Traditionalismus Das Interesse an und die Bestrebung nach einer neuen Betrachtungsweise modernen Architekturschaffens, getestet an bisher als traditionalistisch abgestempelte Architekten, ist glücklicherweise vor einiger Zeit in der Forschung erwacht. Eine Wende in der Betrachtung der Architektur des 20. Jahrhunderts zeichnete sich in einigen wenigen Versuchen der Blickwinkelverschiebung der vergangenen drei Jahrzehnten ab. Das Interesse an den sogenannten Traditionalisten und der als traditionalistisch bezeichneten Architektur bzw. der traditionellen Bauweise, gewinnt an Boden. In Deutschland zeichneten sich die ersten Unternehmungen in diese Richtung beispielsweise in der Forschung über den deutschen Architekten Paul Schmitthenner durch Wolfgang Voigt ab. Voigt begann bereits Mitte der 1980er sich dem Werk Schmitthenners und der Sichtweise auf die Traditionalisten bzw. der traditionellen Architektur des beginnenden 20. Jahrhunderts in Deutschland zu widmen. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Architektur Schmitthenners nicht nur wie lange Zeit gebräuchlich aus ideologischer, sondern auch aus technischer Sicht betrachtet wurde. Dies lieferte letztlich neue Ergebnisse zur Sichtweise des Architekten auf die Funktion von Architektur und die Baupraxis, d. h. den Umgang mit neuen Baumaterialien und Baumethoden. 4 In der Folge sind durch verschiedene Autoren (Architekturhistoriker, Architekten u.a.) Stimmen laut geworden, die bekräftigen, dass die Charakterisierung moderner Architektur nicht so einfach und linear ist, wie sie die bisherige Architekturhistoriografie beschreibt. Ein vorangehendes Beispiel ist das Projekt Die Neue Tradition der Technischen Universität Dresden, das unter Leitung von Prof. Dr. H.-G. Lippert, Dr. K. Zaschke und Dr. K. Krauskopf 2006 ins Leben gerufen wurde. Neben der Heimatschutzarchitektur und der Stuttgarter Schule widmete sich dieses Forschungsprojekt auch nationalen Traditionen in der Modernen Architektur. Die Sichtweise auf das Baugeschehen rund um Schmitthenner und der sogenannten Stuttgarter Schule, geht von dem Standpunkt aus, dass es verschiedene Ausprägungen Moderner Architektur gegeben hat. Radikal trennt sich die Architektur des 20. Jahrhunderts vom Bauen nach festen stilhistorischen Vorgaben. Auf die neuen Bauaufgaben und die durch technische Innovation mögliche Typisierung und Massenfertigung reagieren die Architekten unterschiedlich: Hier wird durch optisch betonte Baukastensysteme oder Konstruktionstechnik das Neue gefeiert, dort wird es abgemildert durch gestalterische Ortsbezüge und Regionalismen. Die Architekten des Traditionalismus beschwören die `Idee einer Bauform, einer Konstruktion, oder eines Materials. Ihr vereinfachter Typus ist keine Wohnmaschine, es ist ihre Interpretation einer überlieferten, als moralisch unversehrt gedachten bürgerlichen Bauweise, mit der die durch die Umwälzungen der Zeit verschütteten Traditionen auferstehen, wodurch Architektur auf einfache Typen zurückgeführt und damit gesellschaftliche Zusammenhänge wiedergefunden werden sollen. Diese antimoderne Moderne entwirft ihre Manifeste im Sinne einer Vergangenheitsprojektion, die gleichzeitig Puristisches, Heimattümelndes, Nationalistisches und Poetisches zu Tage fördert. Definiert sie sich auch in scharfem Gegensatz zu Stilhistorismus und Bauhaus, so ist sie mit ihren typisierenden 4 Als aktuellste nennenswerte Publikation ist sicher die von Voigt und Frank zu nennen, Voigt und Frank Eine ältere Studie zum Traditionsverständnis in der Architektur um 1900 wurde geliefert von Kurt Frank, Frank Ferner ist auch die Publikation von Hackelsberger zur Einordnung der Architektur der 1950er Jahre zu nennen. Hackelsberger

14 Einleitung Konzepten und Systemen doch ebenso modern im Sinne einer Architektur für eine mobile, beschleunigte Gesellschaft. 5 Diese Beschreibung des Projekts Die Moderne Tradition verwendet den Begriff `antimoderne Moderne für die Haltung der dem radikalen Modernismus etwas kritischer gegenüberstehenden Architekten. Zudem finden sich in anderen Forschungsunternehmungen auch die Bezeichnungen die andere Moderne, die traditionelle Moderne oder Architektur der Mitte. 6 Von diesen Wortspielen will sich die Autorin dieser Arbeit weitgehend distanzieren. Zentral steht hier der Umgang eines Architekten mit den Anforderungen und Möglichkeiten im Architekturschaffen des 20. Jahrhunderts, d. h. im Wechselspiel von technischem Fortschritt, radikalen Gesellschaftsbrüchen und der bewussten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Parallele Forschungsunternehmungen zur Die Neue Tradition in Dresden wurden von deutscher Forschungsseite von Klaus J. Philipp (Universität Stuttgart), U. M. Schumann (Universität Karlsruhe) und Wolfgang Sonne (Universität Dortmund) unternommen erschienen gleich drei Publikationen, die eine andere Sichtweise auf die Moderne Architektur des 20. Jahrhunderts fordern. Es zeichnete sich hierbei schnell ab, dass keine konsistente Manier von Denken über moderne Architektur vorhanden war. So schrieb Werner Oechslin im letzten Jahr des auslaufenden Jahrhunderts, dass die Aufarbeitung des 20. Jahrhunderts in der Entwicklung der Architektur und der Architekturgeschichte viel Homogenität ausräumen und an Stelle davon Vielfalt und auch Widersprüchlichkeit an den Tag bringen werde. 7 Dies diene auch der Neubewertung des 19. Jahrhunderts, das immer noch als Grundlage, d. h. Vorstufe des Modernismus des 20. Jahrhunderts gedient habe und unzutreffend als zerstückeltes Jahrhundert mit vielen losen historischen Elementen charakterisiert werde. Die Rolle des 19. Jahrhunderts als kultureller Sockel und Träger der Entwicklung des 20. Jahrhunderts müsse noch weiter untersucht und herausgearbeitet werden. Darüber hinaus sei die Distanz zu den 20er Jahren inzwischen so groß, dass die Moderne in der Geschichte zu verschwinden drohe. Ferner sei die Frage, ob die Moderne ein abgeschlossenes Kapitel sei oder Grundlage dessen was der Postmodernismus hervorgebracht habe, vollkommen obsolet, so Oechslin. 8 Auf die notwendige zeitliche Distanz einer Geschichtsschreibung verwies 1912 bereits Otto Wagner mit seinem Artikel `Die Qualität des Baukünstlers. Wagner betont, dass eine Distanz von zwanzig bis vierzig Jahren notwendig sei, um ein Bauwerk endgültig zu beurteilen. 9 Die Frist zur Moderne ist zwar längst verstrichen, doch die Diskussion noch lange nicht beendet, da wir es immer noch mit einer großen Hinterlassenschaft der Moderne zu tun haben. Deshalb ist es noch zu früh um die Moderne und das historische Phänomen in die Geschichte zu entlassen. Die Ereignisse gehören immer in ihren eigenen geschichtlichen Rahmen, deshalb ist es schwer sie aus diesem herauszulösen. 10 "Der innere Widerspruch zwischen Historizität und Zeitlosigkeit, der noch heute die Diskussion bestimmt, ist in der `Moderne` selbst angelegt. Sie konnte ja den Anspruch auf das einmalig Neue und Zeitgemäße, 5 [zuletzt eingesehen am :55h] 6 Siehe Ibelings 1988; Gerster 1999; Tschanz in: Lampugnani Vgl. Oechslin Vgl. Oechslin 1999, Vgl. Wagner Zu diesem Standpunkt vergleiche besonders Oechslin 1999,

15 Einleitung wie auf das Klassische und Ewiggültige im gleichen Moment, ja im gleichen Atemzug aussprechen." 11 Viele Stimmen machten früh darauf aufmerksam, "dass die `Moderne` weiter und komplexer sei, als ihre Apologeten es sich wünschten." 12 Oechslin warnte davor, dass der Begriff Moderne nicht so wie bei Charles Jencks (Modern Movement in Architecture, 1985) in geradezu fahrlässiger Weise auf eine konventionelle Sichtweise zwischen Historikern und dem allgemeinen Leserpublikum reduziert werden darf. 13 Die diffusen Begriffe erweisen sich in den meisten der bisher genannten Publikationen als historische Unschärfe. Der Grund, warum der Traditionalismus in der niederländischen Architekturgeschichte eine so stiefmütterliche Rolle gespielt hat, sieht Ibelings, dessen Publikationen versuchen den Blick wieder stärker auf die sogenannte Traditionelle Architektur zur lenken, in zwei Aspekten. 14 Zum einen sei die traditionalistische Architektur aufgrund des Mangels an Streben nach formellen und technischen Erneuerungen schnell abgestempelt in einer Geschichtsschreibung, die den Fokus auf Innovation legt. Durch diese Betonung des Unterschieds zwischen Funktionalismus und Traditionalismus wurden die fundamentalen Übereinstimmungen und Parallelen gänzlich übersehen. Zum anderen liegt die Ursache in Ermanglung einer deutlichen Begriffsdefinition, die den Traditionalismus nicht nur als Rudiment der Architektur des 19. Jahrhunderts sieht und einen Unterschied macht zwischen traditioneller und traditionalistischer Architektur. Doch sei gerade der Unterschied zwischen unbewusst fortgesetzter traditioneller Bauweise und bewusster Handhabung und Anwendung traditioneller Baumaterialien und Formgebung von großer Bedeutung für die Beurteilung dieser Architektur. Laut Oechslin müsse deshalb das Fazit lauten, dass bei den Inhalten und den dort aufgehobenen Widersprüchen und Schwierigkeiten die Analyse beginnen muß." 15 Die äußere Kontur der Moderne wurde immer wieder holzschnittartig und propagandistisch umrissen. Doch solche reduktiven Muster taugen nicht, wenn man sie mit Interpretationsmodellen konfrontiert, die einen größeren Differenzierungsanspruch vorrausetzen." 16 Ein Vergleich der architektonischen Objekte mit den parallelen Deutungen ist deshalb die beste Methodengrundlage. "Die gleichzeitige Betrachtung des Objekts und seiner historisch gebundenen Deutungen rückt die Komplexität der Geschichte in den Vordergrund, eben das Phänomen, das es zu beschreiben gilt." 17 Im gleichen Jahr wie Oechslin beschrieb auch Panayotis Tournikiotis mit The Historiography of Modern Architecture (1999), auf welche Weise die Literatur zu moderner Architektur über Jahre hinweg einen starken Einfluss auf die Entwicklung der Architektur besaß, da diese zeitgleich war. 18 Um also ein wahrheitsgetreueres Bild vom Wesen und Charakter Moderner Architektur zu bekommen, müssen wir besonders den Einfluss der zeitgenössischen Schriften zu Moderner Architektur berücksichtigen und kritisch betrachten. Doch auch die niederländische architekturgeschichtliche Forschung widmet sich zunehmend den sogenannten traditionalistischen Architekten. So wurde bereits bei anderen 11 Vgl. Oechslin 1999, Vgl. Oechslin 1999, Vgl. Oechslin 1999, Vgl. Ibelings 1988, Vgl. Oechslin 1999, Vgl. Oechslin 1999, Vgl. Oechslin 1999, Vgl. Tournikiotis

16 Einleitung Fallbeispielen bzw. Architekten eine Kritik an dem konventionellen Bild Moderner Architektur angewandt. Zu nennen wären hier Galema und Hutjes mit ihrer BONAS-Publikation E.H. Kraaijvanger ( ). H.M. Kraaijvanger ( ). Tussen traditionalisme en modernise - op zoek naar schoonheid voor een moderne wereld (2000), M. Steenhuis Dissertation zum Städtebauer Pieter Verhagen (2007) und Mulders Abhandlung des Architekten K.P. Tholens ( ). Moderne architectuur-traditionele vormen (2011). Auch das Werk von Alphons Siebers wird auf der Internetseite des Het Nieuwe Instituut (ehemalig NAi Rotterdam) als Untersuchungsmaterial gehandelt unter dem Titel Traditionalist met moderne aanpak. 19 Ferner hat auch das Werk von Architekt Jan Stuyt seine verdiente Aufmerksamkeit erhalten. 20 Aus dem deutschsprachigen Forschungsbereich wäre Nerdingers (u.w.) Analyse des Architekten Bruno Taut unter dem Leitfaden Architekt zwischen Tradition und Avantgarde (2001) zu nennen. Es existiert demzufolge ein Desiderat in der Forschung nach sogenannter traditionalistischer Architektur und ihren Vertretern, dem durch die Untersuchung nach einem ausgewählten Niederländischen Architekten Abhilfe geschaffen werden soll. Die vorliegende Untersuchung folgt hiermit dem Forschungsbestreben in diesem Bereich der Architekturgeschichte und greift die aktuellen Forschungstendenzen und das zunehmende Interesse an den sogenannten `Traditionalisten auf widmete das Niederländische Architekturinstitut Rotterdam (Het Nieuwe Instituut) eine Reihe Lesungen und Debatten dem Thema der Tradition in der Architektur. 21 Gerade das wird in der vorliegenden Arbeit für die niederländische Konstellation vorgenommen. Es gilt also, in erster Linie Widersprüche ans Licht zu bringen und historisch aufzuarbeiten. In diesem Zusammenhang äußerte sich auch Wolfgang Voigt im Rahmen seines Vortrags im Het Nieuwe Instituut (April 2010) zur Relevanz der Debatte um Tradition und Moderne in der Architektur, und betonte, dass die Diskussion eigentlich in der Polemik der verschiedenen Vertreter hängen geblieben ist. Traditionelle Architektur hatte stetig mit ideological mishaps zu kämpfen. Die Diskussion um das Denken in schwarz-weiß wurde eigentlich in den Jahren 1980 überwunden, doch wird es immer noch nicht flächendeckend praktiziert. Immer noch werden die `alten Definition Giedions, Pevsners, J. J.P. Ouds und Vriends wiederholt. Im Zuge einer kritischen Annäherung wird diese theoretische Entwicklung der Architekturgeschichtsschreibung in zwei Abschnitten über die Moderne und den Traditionalismus in der Architektur (in den Niederlanden synonym mit `Delftse School ) in dieser Arbeit behandelt. Das Fallbeispiel Johannes Fake Berghoef Zur richtigen Unterbauung der hier vorab formulierten Kritik an der Architekturgeschichtsschreibung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, darf eine gegenständliche Untersuchung, d. h. eine Betrachtung der Baupraxis dieser Zeit nicht fehlen. Hierzu wird das Architekturgeschehen in den Niederlanden im Zeitraum der 1920er bis 1960er Jahre aus einem neuen, bisher noch unbekannten Blickwinkel betrachtet: aus der Perspektive des 19 [zuletzt eingesehen am , 13:50h]. 20 An dieser Stelle sei verweisen auf die aktuelle Publikation zu Stuyt: Jeroen Goudeau, Agnes van der Linden (Hg.), Jan Stuyt ( ): een begenadigd en dienend architect, Nijmegen 2011, sowie die Rezension: Te kosmpolitisch voor Nederland Anstoß hierfür gab das Buch von Ibelings und Van Rossem: Ibelings und Van Rossem

17 Einleitung niederländischen Architekten Johannes Fake Berghoef ( ). Berghoef war kein international bekannter Architekt, da sich sein Schaffensbereich auf die Niederlande beschränkte. Dadurch genoss und genießt Berghoef außerhalb bestimmter Fachkreise der niederländischen Architekturgeschichte einen geringeren Bekanntheitsgrad. Doch als lokaler, nationaler Architekt der Moderne realisierte er zu Lebzeiten eine Großzahl an klein- und großformatigen Bauaufträgen. Es handelt sich um eine landesspezifische Form des Architekturschaffens in Zeiten der Moderne. Der Name und das Werk dieses Architekten findet in der Historiografie rund um Moderne und Tradition in der Niederländischen Architektur regelmäßig seine Erwähnung, doch ist seine Arbeit noch unzureichend analysiert, um nicht zu sagen, in seiner Substanz eigentlich gänzlich unbekannt. Dieses Wissensdefizit über sein Werk ist sicherlich ein Argument, warum eine Betrachtung Berghoefs sinnvoll ist. Wichtigster Anreiz ist die andere Perspektive auf die moderne Architektur des 20. Jahrhunderts in den Niederlanden, die die Analyse dieses Architekten bietet. Er gehört laut bisheriger Literaturbeschreibung zur sogenannten `anderen Seite der modernen Architektur, dem Traditionalismus. Wie bei vielen anderen traditionalistischen Architekten wurde ein Großteil seiner Arbeiten noch nicht publiziert, und riefen die wenigen bekannten Werke wenig positive Resonanz hervor. Das allgemein geringe Interesse an traditionalistischen Architekten wie Berghoef geht zweifellos damit einher, dass weder Architekt noch Bauwerke internationale Bekanntheit und Würdigung erhalten haben. Besonders die quantitative Masse seiner bzw. vergleichbarer Bauten seiner traditionalistischen Kollegen (z. B. Friedhoff) macht, dass dem einzelnen `traditionalistischen/traditionellen Bauwerk ein exzeptioneller Charakter abgesprochen wird. Sein Bestehen wird nicht als Besonderheit in der architektonischen Landschaft gesehen. Die niederländische Architekturhistoriografie kategorisiert Berghoef als `Traditionalist und `Schüler des Architekten und Delfter Hochschullehrer Marinus J. Granpré Molière. Seit jeher wird Berghoef in die Schublade der `traditionalistischen Delftse School gesteckt. Doch auch Granpré Molière, dessen Architekturschaffen dem Konzept eines traditionelle Bauens für die Ewigkeit zu folgen scheint, und der so genannten `Delftse School wurde bis dato noch keine detaillierte Analyse gewidmet, so dass unser Wissensstand hierüber ebenfalls unzureichend ist. Im Rahmen der Analyse Berghoefs wurden auch in diesem Bereich, kritische bedenkenswerte Aspekte zu Tage gefördert, um aufzuzeigen, wie viel Propaganda und Imagebildung auch hinter dem bisherigen Bild der Delftse School steckt. Der Architekt Berghoef dient in dieser Untersuchung darum als Fallbeispiel, durch das auch andere Aspekte und Leerstellen der niederländischen Architekturhistoriografie analysiert oder zumindest angeschnitten werden. Da dem Werk Berghoefs noch keine breit angelegte Analyse zuteilwurde, können mit dieser Arbeit zwei parallele Forschungsziele erreicht werden. Durch die Hinzuziehung eines konkreten Architektenbeispiels kann das neu entwickelte theoretische Modell moderner Architektur an gebauter Architektur, architektonischen Zeugnissen, persönlichen Dokumenten und einem angewendetem Architekturschaffen exemplifiziert und verifiziert werden. Die gezielte Wahl eines als `Traditionalisten eingestuften Architekten bietet die Möglichkeit des anderen Blickwinkels auf das Architekturgeschehen dieser Epoche. Die Ergründung von Inhalt und Ausführung seines Werks sollen den persönlichen Anteil Berghoefs an der Architekturentwicklung und der heutigen Baulandschaft in den Niederlanden offenlegen. Es handelt sich hierbei um den ersten Versuch einer detaillierten und breiter angelegten Analyse 15

18 Einleitung Berghoefs, dem bisher wenig Aufmerksamkeit in der Forschung zur modernen niederländischen Architektur zuteil wurde und dessen Bauten in der Historiografie meist unsichtbar geblieben sind. Dadurch kann Berghoef eine eigene Identität in der niederländischen Architekturgeschichte erhalten. Aufgrund des Werkumfangs des Architekten Berghoef muss allerdings vorab eine Einschränkung gemacht werden. Wie bereits oben erwähnt, ist die vorliegende Arbeit keine bis ins Detail ausgeführte Architektenmonografie. Das Ausmaß von Berghoefs architektonischem Werk würde dies auch beinahe unmöglich machen. Berghoefs Schaffen wird mittels gezielt ausgesuchter Bauwerke als Beispiel herangezogen, um die überkuppelnde Fragestellung nach den Anforderungen modernen Architekturschaffens zu beantworten. Bauwerke aus dem privaten und öffentlichen Bereich (Wohnungsbau, Repräsentations- und Verwaltungsbau u.a.) sollen beispielhaft die Entwicklungen und praktischen Anforderungen des Architekturschaffens in der Moderne des 20. Jahrhunderts verdeutlichen. Diese Untersuchung ist keine Darstellung seiner Gesamtarbeit und auch kein Querschnitt einzeln zitierter Werke, jedoch beansprucht die Verfasserin die Repräsentativität der `Bauidee und der Auffassung zum Architekturschaffen, d. h. des Gestaltungswillen des Architekten. Es soll das Typische des architektonischen Werkes herausgearbeitet werden. 22 Dabei soll nicht der einzelne Bau in den Vordergrund gestellt werden, sondern die Konzeption und die Formgebung als dahinterstehende Vorstellung von Architektur. Der Schwerpunkt der Betrachtung von Berghoefs Werk wurde liegt hier auf dem Zeitraum von 1925 bis ca Nach der Beendigung des Studiums folgte für Berghoef die erste Etablierung als Architekt und das Herauskristallisieren, d. h. die Prägung eines eigenen Stils und einer eigenen Architekturauffassung, die sich besonders in den öffentlichen Bauten der er Jahre manifestiert. Die persönliche Entwicklung der Idee von modern nutzbarer Architektur ist für die Beantwortung unserer Fragestellung bestimmend. Die vorliegende Arbeit gewährt folglich nur einen begrenzten Einblick in das vielfältige und umfangreiche Werk des Architekten Berghoef. Doch sei hiermit ein erster Schritt zur Wahrnehmung und Würdigung dieses Architekten unternommen. Die Analyse des Architekten Berghoef orientiert sich dabei an einer Reihe von Ausgangsfragen. Begonnen wird mit der Frage, wie Berghoef und sein Werk von seinen Zeitgenossen und im Nachhinein von der Geschichtsschreibung wahrgenommen und bewertet wurde. Welche Rolle spielt hierbei die Historiografie und das hierin entwickelte Bild von Modernismus und Traditionalismus? Hieran schließt sich im Bezug zur Hauptfrage dieser Untersuchung, welche Rolle die Begriffe Moderne und Tradition in Berghoefs persönliches Werk gespielt haben. Bezüglich der Architekturpraxis Berghoefs bedeutet dies zu überprüfen, welchen Umgang der Architekt hinsichtlich Kontinuität und Erneuerung, Bauprogramm, Funktionalität, Baumaterialien, Bautechniken und Formgebung pflegte. Konkretisiert: Welche `traditionellen und `modernen Elemente weist das Werk Berghoefs auf? Für welche Form des Architekturschaffens plädierte er hinsichtlich der auch Zeit seines Lebens schon heftig geführten Diskussion rund um moderne Architektur? Welche Anforderungen und Notwendigkeiten sah er im Bezug der Baupraxis? Zur Beantwortung dieser Fragen werden 22 Ob dies hinsichtlich des äußerst geringen Anteils an eigens produziertem Text im Vergleich zu der enormen Masse an Zitaten gelungen ist, bleibt hier dahingestellt. 16

19 Einleitung seine Entwurfsprinzipien, seine künstlerischen Inspirationen, seine (gesellschaftliche) Auffassung von Architektur und die ausgeführten Werke analysiert. Diese Betrachtung bedient sich dabei des Werks des Architekten auf schriftlicher, baulicher und historiografischer Ebene. Die Bauwerke erhielten hierfür eine qualitativhermeneutische Analyse. D. h. es wurde eine gezielte Auswahl von Bauwerken aus dem Werk des Architekten getroffen, worauf eine Untersuchung dieser Bauobjekte auf drei Ebenen erfolgte: konzeptionell, formsprachlich und bautechnisch. Hierbei erhalten in der Besprechung der Baubeispiele nicht alle Aspekte an jedem Bau die gleiche Aufmerksamkeit. Je nach Bauaufgabe liefert ein Bauwerk für einen bestimmten Aspekt die brauchbaren Informationen. Der erste Untersuchungsaspekt (das Konzept bzw. Entwurfsprinzip) bezieht sich auf die Bedeutung des Baukörpers, sowohl hinsichtlich des Bauprogramms, der Sinngebung als auch der Kontextualisierung in seine Umgebung. Denn die Originalität und der Ideenreichtum eines Architekten werden erst deutlich durch den Kontext des Entwurfs. Form und Konzept verweisen auf den Inhalt und das Denken über Architektur. Die Funktion bzw. Funktionalität des Baus, das herausragende Merkmal moderner Architektur in der Literatur, steht hierbei zentral, wobei externe und interne Funktionalität einer Architektur in starker Wechselbeziehung zueinander und zur Formgebung stehen. Bezüglich der gesellschaftlichen und sozialen Bedeutung werden die kulturellen Ambitionen von Architekturschaffen betrachtet. Dies meint den Versuch des `modernen Architekten über die Architektur Kultur zu schaffen und die Entwicklung des Zusammenlebens positiv zu beeinflussen und zu fördern. Fraglich ist schließlich, ob die Ausgangspunkte und Ausführungen der gegenüber gestellten Modernisten und Traditionalisten tatsächlich so verschieden waren. Dies geht fließend über in den zweiten formalen Gesichtspunkt der Formgebung. Moderne Architektur wird in der Regel im Kontext einer Stil- bzw. Designfrage behandelt. Gerade durch die Formgebung erhält der Bau seinen Charakter, was im engen Zusammenhang mit der Expression und Repräsentation seiner (gesellschaftlichen) Funktion steht. Es interessiert deshalb die Frage, auf welchen Entwurfsprinzipen Berghoef seine Formgebung basiert. Als dritter Punkt werden anhand von Berghoefs Architektur die Einstellung und die Anwendung neuer Baumaterialien und Techniken betrachtet, die laut der historiografischen Literatur die moderne Architektur vom Traditionalismus scheiden. Die Schlagwörter Moral, Modernität und Charakter treten in diesem Kontext in den Vordergrund. Zur Durchführung dieses Vorhabens gliedert sich die vorliegende Arbeit in einen theoretischen und einen materialorientierten Abschnitt. Die Polemik, die im ersten Teil aufgeworfen wird, und die darin entwickelte Kritik, erfährt im zweiten Teil seine Beweisführung und Exemplifizierung am beispielhaften Architekturmaterial. Der erste Teil ist somit in erster Linie immateriell und dient der Entwicklung eines neuen Denkmodells und einer neuen Sichtweise auf moderner Architektur. Der zweite Teil widmet sich gezielter dem Architekten Berghoef und seinem Werk, so dass sowohl Entwürfe als auch konkrete Bauwerke in ihrer Ausführung und ihrem Kontext analysiert und gedeutet werden. Hierbei wurde mit Absicht eine gezielt enge Auswahl von Bauwerken, aus dem Werk Berghoefs getroffen, unterteilt in die Bauaufgaben Kirchenbau, Rathausbau, Bürobau, Wohnungsbau und städtischer Wiederaufbau. Nach den ersten beiden Kapiteln des zweiten Teils, nämlich die zum Kirchenbau und Rathausbau, die als Bauaufgabe beide in einer langen Traditionsgeschichte verwurzelt sind, folgt der Bürobau als ein für das 20. Jahrhundert noch recht junge und boomende Bautypologie. 17

20 Einleitung Die letzten beiden Kapitel des zweiten Teils widmen sich schließlich dem Wohnungsbau und dem städtischen Wiederaufbau nach Es mag kritisiert werden, dass neue Bauaufgaben wie soziale Einrichtungen (Schulen, Senioreneinrichtungen etc.) nicht berücksichtigt wurden, obwohl die Nachfrage nach diesen neueren infrastrukturellen Einrichtungen besonders in der Nachkriegszeit stark zunimmt. Grund für die getroffene Auswahl an Baubeispielen ist, dass diese Bauaufgaben in einer langen Bautradition stehen. In ihnen treffen vorgeprägte traditionelle Formvorstellungen und moderner Nutzungsanspruch teilweise konträr aufeinander, wodurch sie eine hervorragende Grundlage zur Untersuchung der Fragestellung bieten und beispielhaft die Arbeit des Architekten Berghoef widerspiegeln. Der Nachlass Berghoef Die Analyse der Arbeit Berghoefs basiert zuallererst auf der Möglichkeit, dass der Nachlass des Architekten von dem Het Nieuwe Instituut in Rotterdam für diese Dissertation zur Verfügung gestellt wurde. 23 Es handelt sich hierbei um das Archiv Berghoef, das sich seit 1986 in der Obhut des Het Nieuwe Instituut befindet. Dadurch greift diese Arbeit nicht nur die aktuellen Forschungstendenzen und das zunehmende Interesse an den sogenannten Traditionalisten auf. In Anlehnung an das Bestreben nach einem breiteren Bild von Moderner Architektur wird die Analyse des Architekten Berghoefs in den Dienst der Forschungsbestrebungen innerhalb der Disziplin Architekturgeschichte im Allgemeinen und des Het Nieuwe Instituut im Speziellen gestellt. Auf diese Art und Weise soll auch dem Sammel- und Forschungsauftrag des Het Nieuwe Instituut entsprochen werden. Das Het Nieuwe Instituut versammelt und verwaltet eine große Sammlung an Architektenarchiven und ist bemüht diese stetig anzufüllen mit weiteren Dokumenten und Zeugnissen, die zum breiteren Verständnis des Architekten und seines Werks beitragen. Deshalb sind in dieser Sammlung nicht nur die Archive bekannter Größen wie Berlage, Oud und Koolhaas anzutreffen, sondern auch anderer unbekannterer, aber qualitative nicht weniger bedeutsamen Architekten. Das Spektrum des gesammelten Materials auch im Archiv Berghoef ist deshalb sehr breit gefächert. Die Arbeit mit Archivstücken verläuft zweifelsohne nicht ohne Probleme. Selbst bei einem Architekten des 20. Jahrhunderts weisen viele Dokumente bereits Alterserscheinung in Form von Unleserlichkeit, Fragilität und Wasser- oder Schimmelschäden auf. Überdies ist gerade durch die Ansammlung von Dokumenten aus verschiedenen Quellen und das Umsortieren innerhalb des Architekturbüros durch verschiedene Personen, sowie die zwischenzeitliche Nutzung des Archivmaterials durch Dritte vor, als auch während des Zeitraums dieses Dissertationsprojekts nicht immer die ursprüngliche Reihenfolge der Dokumente erhalten geblieben. Trotz dieser Umstände wurde eine möglichst genaue Rekonstruktion der Chronologie und Zusammenhänge der gefundenen Dokumente verfolgt. 23 Die Leihgabe des Archiv Berghoef an das Institut für Kunst- und Architekturgeschichte der Universität Groningen geschah in zwei Abschnitten zwischen In dieser Zeit haben auch verschiedene Masterstudenten von dem Archivmaterial Gebrauch gemacht und zu verschiedenen Themen und Fragestellungen bauanalytische Essays verfasst. Den beteiligten Studenten sei an dieser Stelle für ihre Mitarbeit gedankt, da auch ihre Untersuchungen immer frische Sichtweisen auf das Archivmaterial geliefert haben, von denen auch diese Arbeit profitiert hat. 18

21 Einleitung Hinsichtlich der Materialanalyse gilt anzumerken, dass das Archiv Berghoef eine Ansammlung sowohl persönlicher als auch beruflicher Dokumente darstellt. Nicht alle Dokumente sind dabei gekennzeichnet mit Autor oder Entstehungszeit. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass in der Analyse auch Zeichnungen Berücksichtigung gefunden haben, die nicht direkt von der Hand Berghoefs stammen. Da viele der Ausarbeitungen von den verschiedenen Mitarbeitern des Architekturbüros Berghoefs gefertigt wurden, wird auf eine explizite Nennung von Namen bzw. Autorschaft abgesehen, solange dies nicht für die Beurteilung von Bedeutung ist. Selbstverständlich stehen hinter einem Bauprojekt stets mehrere Beteiligte, besonders in einem mehrköpfigen Architekturbetrieb und bei einem gelegentlichen Wechsel von Mitarbeitern. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass Berghoef als hauptverantwortlicher Architekt die Endresultate als solche guten Gewissens vertrat, solange keine gegenteiligen Hinweise vorliegen. Aus diesem Grund wird auch kein Einschnitt gemacht bei dem Wechsel der Partner Berghoefs in den 1960er, als das Architekturbüro Berghoef & Klarenbeek umbenannt wird zu Berghoef Hondius & Lamers. Das architektonische Gesamtwerk wird deshalb in erster Linie dem Architekten Berghoef und seinem Büro als Einheit zugeschrieben, denn eine Aufschlüsselung in verschiedene Autorschaften innerhalb des Architekturbüros wäre ein eigenes Forschungsvorhaben. Angereichert wurde das archivarische und literarische Material durch die Begutachtung zahlreicher Bauwerke des Architekten vor Ort, sofern diese noch bestehen und die Umstände dies zuließen. Zwar befindet sich kein Bauwerk mehr gänzlich im originalen Zustand, da seit ihrer Entstehungszeit zahlreiche Nutzungsänderungen und Renovierungen notwendig waren, doch konnten an einigen Stellen noch viele ursprüngliche Situationen des Baukörpers für das Verständnis des Originalzustands nachverfolgt werden. Der übergroße Teil des Werkes des Architekten besteht noch und dient seinem ursprünglichen Nutzen, ein etwas kleinerer Teil erfuhr eine Umnutzung oder gar Abriss. Diese Studie dient somit auch dem Ziel einen Teil der Berghoefschen Arbeit zu dokumentieren und einem Lesepublikum zugänglich zu machen bevor diese ebenfalls radikalen Umbauten oder baulichen Erneuerungen Platz machen müssen. 19

22 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Teil 1 (Architekturtheorie) Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Modernität ist nicht der Modernismus: sie ist keine stilistische Entscheidung, sondern eine Befindlichkeit. 24 Vittorio M. Lampugnani, 1995 Das 20. Jahrhundert stellte an den entwerfenden und bauenden Architekten diverse Anforderungen. Besonders die erste Hälfte des Jahrhunderts war gekennzeichnet durch zwei Weltkriege, schnellen technischen Fortschritt, enormen Bevölkerungswachstum und wirtschaftliche Berg- und Talfahrten. In den Niederlanden folgte auf die Jahre der Fremdbesetzung eine nationale Identitätssuche, die Herausforderung des Wiederaufbaus, das Problem der Wohnungsnot und die mit dem Bauboom einhergehende schnelle technische Entwicklung im Bauwesen (Standardisierung, Massenfabrikation u.a.). Mit diesen Rahmenbedingungen ging eine neue Befindlichkeit einher, die im Rahmen einer beginnenden Globalisierung eine gezielte Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur beinhaltete. Sowohl die so genannten Modernisten als auch die so genannten Traditionalisten beschäftigten sich mit diesen neuen Rahmenbedingungen. Dabei gab es auf alle diese Anforderungen der `Moderne seitens der tätigen Architekten und Städtebauer verschiedene Antworten. Der Lösungsvorschlag des Modernismus, der lange als einzig wahre Antwort dargestellt wurde, ist bereits ausführlich bekannt, die anderen Antworten hingegen weniger. Im Folgenden wird eine zweite mögliche Antwort vorgestellt, die zu einer neuen Sichtweise auf die Entwicklung der modernen Architektur führen kann. Lange herrschte in der Architekturhistoriografie das Bild vor, dass der Modernismus, die einzige Lösung, d. h. die einzige Antwort auf die Anforderungen des 20. Jahrhunderts an die Architektur war. Doch wie kam dieses Bild zustande und durch wen wurde es geprägt? Die Entstehung des Bildes `Moderner Architektur in der historiografischen Literatur Um nachzuvollziehen, wo die Wurzeln unseres heutigen Bildes von Moderner Architektur liegen, müssen wir zurückgehen in das Jahr 1926, in dem sich die sogenannten Modernisten und Traditionalisten diskutierend gegenüberstanden. Der deutsche Architekt und Publizist Adolf Behne veröffentlichte in dieser Zeit sein Buch Der moderne Zweckbau (1926), eines der ersten Bücher zur Etablierung des Verstehens einer modernen Bewegung. 25 Erstmals redete Behne hier nicht wie andere Architekten vor ihm in erster Linie über ein eigenes Werk, sondern über das anderer (z. B. Berlage, Wagner, Wright, Gropius, Le Corbusier). Laut Behne entstand um 1900 ein neues Gefühl für Ästhetik und Form. Da man der Logik folgen wollte, sollte alles Überflüssiges verschwinden, was eine grundsätzliche Änderung der Einstellung bedeutete, 24 Lampugnani 1995, Vgl. Neuerscheinung (als Faksimile) von Behne

23 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts denn man sah in der architektonischen Form eine Gefahr und in der Erfüllung des Zweckes schon fast eine Garantie für das Entstehen eines guten Baues." 26 An die Stelle einer formalen Auffassung trat somit eine funktionale. Die moderne Gesinnung zeichnete sich ab in der Raumschöpfung, in der Reduzierung, Knappheit, Präzision und technische Form die Hauptrolle hatten. Am prägnantesten für Behnes Theorie war jedoch die Bezugnahme von Architektur zur Gesellschaft. Ein Bau und seine konkrete Gestalt verstand er als Kompromiss zwischen dem Individuum (Funktion) und der Gesellschaft (Form). Behne beschrieb in seinem Werk ebenfalls eine Reihe an verschiedenen Charakteren, die unter den modernen Architekten zu unterscheiden seien: der Funktionalist, der Utilitarist und der Rationalist. 27 Der Rationalist ist laut der Definition Behnes nicht gleichgültiger gegenüber dem Zweck als der Funktionalist,[ ] aber er meidet die Tyrannei des selbstherrlich gewordenen Zwecks. Er sucht die beste Entsprechung für viele Fälle. 28 Überdies sieht der Rationalist, folgend der Definition durch Behne, die Maschine als Vertreterin und Förderin der Normung und Typisierung. 29 Nichts sei selbstverständlicher, als daß der Rationalist die Form betont. Form ist nichts anderes als Konsequenz der Inbeziehungsetzung von Mensch zu Mensch. [ ] Das Problem der Form erhebt sich dort, wo ein Zusammen gefordert wird. Form ist die Voraussetzung, unter der ein Zusammen möglich wird. Form ist eine eminent soziale Angelegenheit. Wer das Recht der Gesellschaft anerkennt, anerkennt das Recht der Form. 30 Ein Jahr nach Behne gab der Schweizer Architekt Peter Meyer sein Werk Moderne und Tradition (1927) heraus, das sich mit der neu entwickelnden Architekturform der Zeit unter den Schlagwörtern Moderne und Tradition auseinandersetzte. 31 Das schmale Büchlein Meyers ist das erste Dokument eines kritischen Verhältnisses sowohl zur lautstarken dogmatischen Avantgarde als auch der historientreuen Ausbildungsweise an den Akademien des 19. Jahrhunderts. Er kritisierte den `klassischen Stil, der nicht mehr dem `unrepräsentativen Stil der Gegenwart entspreche. Die aus England stammende Arts-and-Crafts-Bewegung hingegen wurde von Meyer positiv bewertet. Meyer positionierte sich seinerzeit demonstrativ in die Mitte der Modernisten und Traditionalisten und versuchte eine neutrale Stellung gegenüber polarisierenden Architekturtheorien einzunehmen, indem er beide Lager scharf kritisierte. Moderne und Tradition wurden von Meyer als gleichwertige und zusammenhängende Pole betrachtet. Die Positionierung zur Tradition wurde dabei von ihm als ethisches und nicht als ästhetisches Problem verstanden. 32 Modernität liegt nach Ansicht Meyers im Anspruch einer jeden Generation, anders zu sein als die vorherige Generation, indem sie das Selbstbewusstsein ihrer Zeit zum Ausdruck bringt. Demnach müssen wir im Sinne Meyers moderne Architektur als eine Abgrenzung von Bisherigem und als Ausdruck der eigenen Zeit verstehen. Für Meyer galt: "Eine einmal gewählte Formensprache - sei sie historisch oder modern - will gemäß ihrer 26 Vgl. Behne 1998, Behne 1998, Behne 1998, Behne 1998, Vgl. Behne 1998, Vgl. Meyer Vgl. Meyer 1928,

24 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts eigenen innern Logik gehandhabt werden;..." 33 Dabei sei "die Stellung zur Tradition [ist] eben kein ästhetisches, sondern ein ethisches Problem" 34, bei der sich die Frage stellt, in welcher Tiefe sich ein Architekt mit seiner Aufgabe beschäftigt. Was will er in den Bereich des Gestaltenden einbeziehen und nach welchen Seiten fühlt er sich verpflichtet? Die modernen Bestrebungen im Architekturschaffen sind besonders dort zu sehen, wo sie sich von dem traditionellen am stärksten abgrenzen. Doch auch weniger radikale Andersartigkeiten in der Architektur können moderne Bestrebungen beinhalten. Ob Architektur gut oder schlecht ist, ist nicht abhängig von der Dachform oder der Art des Fensters. Egal welche Formensprache geschoben werde zwischen Aufgabe und Lösung: "eins ist so unmodern wie das andere, wenn wir unter `modern die wirklich vorwärtsweisenden und lebendigen Leistungen verstehen wollen und nicht einfach alles, was zufälligerweise gerade in den letzten Jahren gebaut wurde." Wenn ein Architekt der Tradition im Bau aufgrund von klimatischen, finanziellen oder persönliche Beziehung des Bauherrn Rechnung trägt, dann wäre gerade die traditionsorientierte Lösung die beste moderne Befriedigung der gegeben Bedürfnisse, lautete Meyers Schlussfolgerung. 35 Diesen Aspekt wollen wir unter anderem auch als Leitfaden nehmen für die Betrachtung des Werkes Berghoefs. Denn aus dieser Stellungnahme Meyers lässt dich herauslesen, dass auch der direkte Anschluss an die Tradition eine durchaus gerechtfertigte und gleichzeitig moderne Herangehensweise an die Anforderungen des Bauens ist. Ein paar Jahre später wurde von dem amerikanischen Architekturhistoriker Henry- Russell Hitchcock mit Modern Architecture: Romanticism and Regintegration (1929) der erste Versuch unternommen, einen Stammbaum der modernen Architektur zu entwerfen. Die Linie wurde von Hitchcock, übergreifend die amerikanische und europäische Architektur, vom 18. Jahrhundert, über die Romantik, den Klassizismus, die Neugotik, bis hin zu den so genannten Pionieren der modernen Architektur (Wright, Le Corbusier, Oud u.v.m.) gezogen. Auffällig ist die starke Polarität, die Hitchcock innerhalb seines Buches aufbaut und sich für die neue moderne Bewegung stark macht. Ein paar Jahre später resultierte dies in Zusammenarbeit mit Philip Johnson in The International Style. Architecture since 1922 (1932), ebenfalls ein Manifest für das internationale dekorationslose neue Design der Moderne. Hier wurde Modernismus als ein neuer Architekturstil behandelt. Eine Weiterentwicklung in der Sichtweise und Breite des Blickfelds Hitchcocks zeigt sich schließlich in seinem Folgewerk Architecture Nineteenth & Twentieth Centuries (1958). Hitchcock legte mit diesem Buch eine sehr ausführliche und kritische Betrachtung des Baugeschehens im 19. und 20. Jahrhundert vor. Er würdigte auch die Bautätigkeit Wrights und der Vormoderne, doch wird europäische Baukunst hier nur knapp gestreift. Mit diesem Buch sei Hitchcock aber das Verdienst zugesprochen, sich erstmals mit der konservativen und traditionsorientierten Parallele zur modernistischen Architektur auseinanderzusetzen, die er als parallele Retrostränge darstellt. 36 Die Vorstellung der modernen Bewegung als 'wahrer Geist der neuen Zeit' sollte schließlich in Pevsners Pioneers of the Modern Movement (1936) ihren vorläufigen Höhepunkt 33 Meyer 1928, Meyer 1928, Vgl. Meyer 1928, Siehe hierzu auch das Vorwort von F. Werner in Frampton

25 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts feiern. 37 Inhaltlich versuchte Pevsner eine Geschichtsschreibung der Kunsttheorie von Mitte des 19. Jahrhunderts von W. Morris bis W. Gropius. Beginnend bei Morris entstand laut Pevsner die Theorie des Kunstschaffens auf der Basis des Handwerks, der Kunst und der Maschine. Ferner wurde von Pevsner die Arts-and-Crafts-Bewegung in England als Ausgangspunkt genommen. Über Wagner und Loos mit Zitaten zur modernen Formgebung, kommt er zu Van de Velde mit der Begründung, dass auch die Ingenieure zum Beginn des so genannten `Neuen Stils beigetragen haben. Sullivan und Wright wurden von Pevsner im Zusammenhang mit der Bedeutung von Material und Ornament in die Reihe der Wegbereiter des Neuen Stils eingefügt. Mit dem Architekten Hermann Muthesius war schließlich diese Art der Sachlichkeit nach Deutschland gekommen, wo sich der Neue Stil entfaltete. Schon in seinem ersten Kapitel machte Pevsner deutlich, dass der Neue Stil als echter und anerkannter Stil des 20. Jahrhunderts um 1914 erreicht war. Diese sei von Morris begonnen worden und hätte im Werk Gropius seine Vollendung gefunden. Die Moderne habe seit 1914 triumphiert, und Gropius verherrliche diese schöpferische Aktivität der Welt, d. h. der Technik und der Wissenschaft, schloss Pevsner sein Plädoyer. Die Quellen des Neuen Stils sah Pevsner also in der Arts-and-Crafts-Bewegung, dem Jugendstil und der Ingenieurskunst des 19. Jahrhunderts. Auffällig ist hierbei, dass die Niederlande hier eine sehr geringe Aufmerksamkeit erhalten und stattdessen ein starker Fokus auf den englischsprachigen Raum gelegt wird. Außerdem ist anzumerken, dass Pevsner die moderne Bewegung innerhalb der Architekturpraxis als ein Stil etablieren wollte. Er sprach also von Stil, von Formgebung, wie sich auch im später geänderten Titel des Werks Wegbereiter Moderner Formgebung deutlich herauslesen lässt. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Art von Geschichtsschreibung um eine Art `self-advertisement, d. h. eine Eigenwerbung für eine Architekturideologie. Von dieser Art der modernen Architekturgeschichtsschreibung will sich diese vorliegende Analyse distanzieren. Diese Polarisierung zwischen den so genannten Traditionalisten und Modernisten zeigt sich auch in anderen frühen Werken zur aufkommenden modernistischen Architektur. Sie erhielt eine Zuspitzung in Walter Curt Behrendts Modern Building Its Nature, Problems and Forms (1937), das die beiden Pole der rationalen und organischen Architektur scharf voneinander trennte. Weitergeführt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht, wurde dies von James Maude Richards mit An introduction to Modern Architecture (1940). Richards lieferte eine ausführliche Abfolge zur Entwicklung moderner Architektur mit den wichtigsten Protagonisten, sowie der Erfindung neuer Bautechniken und Materialien. Mit moderner Architektur wird in diesem Buch nur die zeitgenössische Baukunst im eigentlichen Sinne gemeint, wobei der Terminus jetzt auch die neue Architekturform bezeichnet, die im 20. Jahrhundert zur Ausführung kam. Dabei richtete Richards den Fokus auf eine kleine Gruppe modernistischer Architekten und deren Bauten. Die anderen zeitgleichen Strömungen erhielten keine Berücksichtigung. Nach Ansicht Richards haben die Architekten dieser modernen Baukunst diese gut durchdacht und wollen mit ihrer Baukunst die Bedürfnisse des Menschen befriedigen. Das Programm moderner Architektur sei, Bauten zu schaffen, die vollen Profit aus der modernen Wissenschaft ziehen, und eine Inspiration bedeuten. 38 Moderne Architektur ist 37 Vgl. Pevsner Vgl. Richards 1961, 9,

26 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts laut Richards das Resultat eines neuen Denkens über den Nutzen von Architektur und einer Unbefangenheit des architektonischen Äußeren. Den größten Meilenstein der frühen Geschichtsschreibung der modernen Architektur stellte schließlich Giedions Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition. 39 (1941) dar. Dieses Buch setzte sich durch zahlreiche Übersetzungen und Auflagen bald als Standardwerk zur modernen Architektur durch und fand Jahrzehntelang Anwendung in der Architektenausbildung der westlichen Welt. Auf die verschiedenen Ansichten Giedions hinsichtlich Moral, Technik und der Entwicklungslinie Moderner Architektur wird im Laufe dieser Arbeit noch eingegangen, und darum an dieser Stelle vorerst verzichtet. Auffällig und für diesen Untersuchungskontext wichtig ist die Weise wie Giedion die antagonistischen Begriff Avantgarde und Tradition miteinander verbindet, um die modernistische Bewegung durch das Versprechen einer langen Laufzeit bis hin zur Traditionsentwicklung durch den Untertitel The Growth of a New Tradition zu legitimieren. Diese propagandistische Darstellungsweise scheint ein Phänomen der damaligen Zeit. Pevsner, Giedion sowie der österreichische Kunsthistoriker Emil Kaufmann publizierten gegen Ende der Zwischenkriegszeit Texte, die auf polemische Weise die Fundamente der modernen Architekturbewegung legten und verschiedene Interpretationen ihrer Genealogie formten. Sie versuchten mittels ihrer Texte die moderne Architektur zu konstruieren, doch war dies nicht immer kohäsiv. Während Kaufmanns Buch Von Ledoux bis Le Corbusier (1933) eher als Manifest und kunsthistorische Strategie funktioniert, um Ledoux via Le Corbusier bekannt zu machen, und dabei ohne Architekturbeschreibungen auskommt, ist Pevsners Buch erfolgreicher, da es die Bauten beschreibt. Sowohl bei Giedion als auch bei Pevsner werden einige Namen und Personen, die die impliziten Thesen der Homogenität der modernen Periode bzw. Bewegung, die Linearität der ablaufenden Prozesse sowie die Einzigartigkeit der Leistungen dieser Pioniere in Frage stellen könnte, verschwiegen oder bagatellisiert. Es kommt deshalb zu Vereinfachungen, Verzerrungen und Übertreibungen, die einer beabsichtigten Architekturdarstellung dienen, so der italienische Architekt und Architekturtheoretiker Vittorio Lampugnanis. 40 Die historischen Verzerrungen, die Giedion [vornehme] um die Baugeschichte im Hinblick auf die Gegenwart zu aktualisieren 41, wurden von Manfredo Tafuri ebenfalls italienischer Architekt und Architekturhistoriker in den 1960er und 1970er weiter erörtert. 42 Hiermit sei jedoch nicht die Bedeutung von Giedions oder Pevsner Werk geschmälert. Es handelt sich hierbei schlichtweg um ein allgemeines Problem von Geschichtsschreibung. Diese frühe Geschichtsschreibung ist ohne Zweifel eine Historiografie der Ausschließung: Giedion wählte aus, was in die Linearität passte; traditionalistische Tendenzen, 39 Vgl. Giedion Vgl. Lampugnani 1994, Vgl. Lampugnani 1994, Anm Tafuri bearbeitete in zwei Bänden in chronologischer Weise und kategorisch in Kapitel getrennt die Architektur vom 19. Jh. bis in die 1970er. Die stilistische Aspekte von Architektur werden hier von Tafuri und Dal Co in negativer Konnotation an den Anfang gestellt, um sich in der Folge darauf auf das Soziale der Architekturen zu konzentrieren. Es mag sich hierbei, auch gesehen der Vorstudien von Tafuri in den 1960er Jahren (z. B. Teorie e storia dell architettura, 1968), vielleicht um eine etwas linkslastige Analyse von Architektur handeln, doch legten sie einen wichtigen Schwerpunkt auf die gesellschaftliche Bedeutung von Architektur und weniger auf deren Formalästhetik. Tafuri 1973, 180ff; Tafuri

27 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts die das Bild störten, ließ er gänzlich unerwähnt. Denn die von ihm gezeichnete Entwicklungslinie mit bestimmten Figuren als Angelpunkte sollte nicht verunklärt werden. Dies erklärt sich daraus, dass Giedions Space, Time and Architecture keine Architekturgeschichte darstellt, sondern ein geschichtlich aufgebautes Manifest für die moderne Bewegung. Deshalb ist diese Darstellung moderner Architektur unvollständig und nicht als historisch exakt zu verstehen. Dass im Titel seiner Publikation auch nicht behauptet wird, dass eine Historie der Architektur der Moderne gezeichnet wird, hat Giedion mit Behrendt, Hitchcock und Pevsner gemeinsam. Diese Autoren schrieben zeitgleich über das Architekturgeschehen. Sie konnten selbstverständlich noch keine historische Distanz aufbauen. Dies macht ihre zeitgenössischen Beobachtungen für uns jedoch umso bedeutungsvoller, denn sie vergegenwärtigen eine persönliche Einschätzung der aktuellen Situation. Des Weiteren ist auch die Geschichtsschreibung aus historischer Perspektive nicht vor Unvollständigkeit und Subjektivität nicht gefeit. Es zeigt sich an all diesen Abhandlungen zu Moderner Architektur, dass die Autoren zwar verschiedene Strategien verwendeten, dabei jedoch das gleiche Ziel vor Augen hatten, nämlich die Etablierung der modernen Architektur und die Darstellung bestimmter Architekten und ausgewählter Bauten als Revolution bekannt zu machen. Die Geschichtsschreibung von Moderner Architektur und damit auch die Architekturkritik verändern sich Mitte des 20. Jahrhunderts. Architekturkritische Beschreibungen werden nun nicht mehr nur von und für Architekten geschrieben, sondern zunehmend auch für ein breites Publikum. 43 Damit geht die Geschichte zur Geschichtsschreibung moderner Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg in die nächste Runde. In diesem Zusammenhang sind Bruno Zevis Storia dell architettura moderna (1950) 44 und Jürgen Joedickes Geschichte der Modernen Architektur (1958) und Moderne Architektur: Strömungen und Tendenzen (1969) zu erwähnen. In vielen Fällen wird nun eine objektivere Darstellung der modernen Architektur angestrebt, u.a. auch durch eine stärkere Differenzierung innerhalb der modernen Bewegung, als auch der Unterscheidung in eine erste und zweite Generation moderner Architekten. Reyner Banham z. B. beschreibt 1960 die Architekten Le Corbusier, Gropius, Van der Rohe und Wright als Vaterfiguren der modernen Architektur, wobei modern als not old definiert wird, denn die Moderne Architektur sei inzwischen erwachsen geworden. 45 Die neue, moderne Architektur wird häufig erklärt mit der Behauptung, dass die Form moderner Architektur sich aus der Funktion des Gebäudes ableite. `Form follows function vielfach als `neues Credo dem amerikanischen Architekten Louis Sullivan zugeschrieben wird zum Leitspruch der modernen Architektur erkoren. Die Begründung einer neuen Architektur war das Aufkommen neuer Funktionen und die damit einhergehenden Bauaufgaben. Im Zentrum der Erneuerung standen demnach die Bedürfnisse der Menschen und ihre sich verändernde Lebensweise. Darauf musste die Architektur eine Antwort bieten. Die unter dem Titel Storia dell architettura moderna (1960) erschienene Abhandlung über moderne Architektur von Architekturhistoriker Leonardo Benevolo adressierte den sozialen Anspruch als Leitmotiv (moderner) Architektur. 46 Auch bei Jencks Modern 43 Vgl. auch Sleeboom Zevi 1975; Joedicke 1958; Joedicke Banham 1975, 10, Benevolo

28 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Movements in Architecture (1977), das sich hauptsächlich auf die modernistische Architektur bezog, wurden soziale Ideale als gemeinsame Basis bei den Architekten Gropius, Le Corbusier und Mies van Rohe gesehen. 47 Ein weiteres Werk, bei dem der so genannte Traditionalismus aufgrund einer einseitigen Betrachtung der modernistischen Architektur nicht auf seine Kosten kommt, ist William Curtis Modern Architecture since 1900 (1982). 48 Zumindest sprach Architekturhistoriker Curtis sich gegen das hegelianische Prinzip aus, dass Geschichte sich nur in einer Linie entwickelt und damit der Modernismus ein monolithisches Ganzes darstelle. Seine Lösung bzw. eher Überblendung des Begriffsdilemmas lautete `Moderne Tradition, mit der er die Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts beschrieb. Umschwung in der Sichtweise: die 1980er Jahre Die langjährig gepflegte und ideologisch genährte Bildformung moderner Architektur blieb jedoch auf Dauer nicht ohne Kritik. In der Architekturgeschichtsschreibung setzte ab 1980 ein neues Denken ein, das Kritik auf die bisherige Sichtweise ausübte. Exemplarisch für diesen Umschwung in der Sichtweise, hervorgerufen und möglich durch den inzwischen größeren zeitlichen Abstand zu den Entstehungsjahren der modernen Architektur, ist die Publikation Die Revision der Moderne. Postmoderne Architektur von 1984 von Kunst- und Architekturtheoretiker Heinrich Klotz. Der Titel verrät, dass es sich um eine Analyse der zeitgenössischen, jüngeren Baukunst handelt. In der Einleitung macht Klotz seine Sichtweise und Definition von moderner Architektur deutlich. Als Mitbegründer des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt a. M. entfachte Klotz mit der programmatischen Eröffnungsausstellung im Jahr 1984 die Diskussion um eine `Revision der Moderne durch das neue Phänomen der Postmoderne. Glaubenssatz der Gegenwart (1980er Jahre) sie, dass die Moderne ein epochal gültiges Programm der Gegenwart sei, die Moderne ist das 20. Jahrhundert. Dabei kannte die Modernität viele Ausführungen, konnten aber noch als modern gelten, so lange Bezüge zum Ursprung der Moderne nachzuvollziehen seien. Tatsächlich hatte der kubische Baukörper der Moderne aufgrund tausendfacher Wiederholung seine "Aura der Aufgeklärtheit eingebüßt". 49 An sich wollte die strenge, abstrakte Moderne keine lokale oder regionale Identität. Wenn ein Bezug auf die Geschichte verdeutlicht werden sollte, dann mit einem demonstrativen Gestus. Die Postmoderne hingegen ließ wieder mehr zu und erschien weniger strikt. Ebenfalls im Kontrast zur vorrangegangenen Betrachtungsweise moderner Architektur erschien mit Kenneth Framptons Modern architecture - A critical history (1980) eine andere Herangehensweise. 50 Er widmet sich u.a. gezielt der Frage, wann beginnt die Moderne und wo hört sie auf? Die Moderne wird somit als eine zeitlich einzugrenzende Epoche in der Architekturgeschichte gesehen. Den Beginn setzt er schließlich auf die kulturellen und technischen Entwicklungen seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Framptons Buch war über viele Jahre hinweg sehr erfolgreich wegen seiner anregenden Deskription und dezidierten Bewertung. Seine Erzählung über moderne Architektur umfasst zwei Jahrhunderte, die mittels 47 Jencks Curtis Klotz 1984, Frampton

29 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts historischen Episoden und in kleinen Kapiteln orientiert nach Architekten gegliedert ist. Inhaltlich lässt Frampton auf chronologische Weise die Architekten selbst über ihr Werk sprechen. Der Topos der Nachhaltigkeit in der Architekturpraxis spielt ferner eine wichtige Rolle in Framptons Sichtweise auf moderne Architektur. 51 In den beiden vergleichbaren Publikationen von Architekturhistorikerin Kristiana Hartmann: trotzdem modern (1994) und Architekturtheoretikerin Hilde Heynen: Dat is architectuur (2001), die sich mittels Textanthologien den Streitschriften zur modernen Architektur widmen, erhält Frampton eine lobende Erwähnung hinsichtlich seiner kritischen Betrachtung Moderner Architektur. 52 Ein weiteres Kennzeichen für die Übersichtswerke zur Architekturgeschichte und der Geschichte der modernen Architektur, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend für eine breite Leserschaft geschrieben wurden, ist die anhaltende polemische Darstellungsweise anhand wiederkehrender Protagonisten des Architekturgeschehens. Hierbei zeigt sich bei den Handbüchern zur Architekturgeschichte eine wiederkehrende Herausforderung, vor der jeder Autor von Übersichtswerken zur Architekturgeschichte der Moderne oder eines noch größeren Zeitfensters steht. Soll die Darstellung chronologisch, thematisch, typologisch oder stilistisch geschehen? Ein Standardrezept hierfür gibt es nicht, denn jede Herangehensweisen hat ihre Vor- und Nachteile. Auf die Auswirkung des Schreibens für eine breite Masse, sowohl von Architekten als auch von Laien, auf das Niveau der Geschichtsschreibung und die Darstellung von moderner Architektur machte 1974 auch schon Architekturkritiker F.J. Sleeboom aufmerksam. 53 Trotz eines neutralen Anspruchs seien auch diese Beschreibungen moderner Architekturgeschichte von persönlichen Interessen und Vorlieben gefärbt und das Niveau habe davon nicht profitiert. 54 In diesem Zusammenhang ist letztendlich auch David Watkin zu erwähnen, der mit seinem Übersichtswerk A History of Western Architecture (1986) die Moderne Architektur innerhalb eines Kapitels über das 20. Jahrhundert bespricht. 55 Auf diese Weise spricht er zwar noch von polemischen Gegenüberstellungen wie International Modern Style und Traditional Style, doch werden diese zumindest als parallele, gleichwertige Stilrichtungen dargestellt. Auch L.M. Roths Understanding Architecture (1994), ein durchaus gutes Übersichtswerk zur Architekturgeschichte, gehört in diese Reihe der einseitigen Geschichtsschreibung, denn die Entwicklung der so genannten traditionellen Architektur wird auch hier leider außen vor gelassen. 56 Zwischenresümee für unsere Fragestellung ist somit das Folgende: Die bis dato unumstößlichen Epochen und Zeiteinteilungen der Moderne, wird ab den 1980ern schließlich zunehmend in Frage gestellt wurde. Die Forschung bejaht jetzt das Nebeneinander von Stilrichtungen. Doch das, was Hartmann beklagt, nämlich dass die Vielschichtigkeit der 51 Vgl. Vorwort von F. Werner in der Neuauflage von Frampton Frampton Hartmann 1994; Heynen et al Sleeboom Sleeboom betont in diesem Zusammenhang auch, dass die Ursache häufig in der knappen finanziellen Möglichkeit der Untersuchung und der Kenntnisgewinnung für die meisten Autoren zu suchen ist. Sleeboom 1974, 9. Dies kann tatsächlich teilweise ein beeinflussender Faktor für den Umfang von paar Studien zur Architekturgeschichte sein, wird aber keinen prägenden Einfluss auf die Fragestellung und das Resultat von architekturhistoriografischen Analysen haben. 55 Watkin Roth

30 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Moderne, d. h. die verschiedenen Denkprozesse, Denkbereiche mit anderen Disziplinen, als architektonische Entwicklungen des gesamtkulturellen Prozesses selten Gegenstand der Untersuchungen werden, ist zweifellos der Fall. Die Moderne wird selten aus ihren Manifesten gelöst. 57 Auch der niederländische Architekturhistoriker Hans Ibelings, der eine andere Herangehensweise versucht, weil er durch den Fokus auf die Kontinuität der niederländischen Architektur eine neue Sichtweise etablieren will, bleibt trotz aller Bemühungen noch im Muster einer polarisierenden Betrachtung des Architekturgeschehens, indem er zum Beispiel die Titel seiner Bücher häufig provokant mit den Begriff der Modernität versieht. 58 Ohne Zweifel sind seit jeher polemische Darstellungen in den Publikationen über moderne Architektur beibehalten, wie auch noch in den rezenteren Werken wie H. van Dijks Twentieth-Century Architecture in the Netherlands (1999) und A. Colquhouns Modern Architecture (2002) zu sehen. Hierdurch herrscht noch immer ein bipolares und damit konventionelles Bild von Modernismus und Traditionalismus in der niederländischen Architekturgeschichtsschreibung vor. Konventionelle Architekturbilder Das konventionelle Bild von moderner und traditioneller niederländischer Architektur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weist zweifelsohne, je nach Quelle und Autor, divergierende Charakterisierungen auf. Dabei zeigen sich sowohl Parallelen als auch Unterschiede in den länderspezifischen Beschreibungen Moderner Architektur. Im Folgenden wird zuerst die internationale Bildformung Traditioneller und Moderner Architektur mittels der internationalen Architekturhistoriografie untersucht. Im Anschluss hieran soll dies jedoch, hinführend auf das konkrete Architektenbeispiel Berghoef, die Diskussion und Charakterisierung der niederländischen Architekturentwicklung in den Fokus genommen werden, um eine bessere Kontextualisierung der Debatte um die Kernfrage `Was ist Moderne Architektur? zu ermöglichen. An dieser Stelle muss bereits darauf aufmerksam gemacht werden, dass in der Architekturhistoriografie wiederholt nicht nachvollziehbare und vage Überschriften für die häufig als gegensätzlich behandelten Architekturströmungen verwendet werden. So findet sich beinahe durchgängig die Bezeichnung `Moderne Architektur versus `Traditionalismus. Jedoch sehr selten die Bezeichnung `Traditionelle Architektur und noch weniger `Traditionalistische Architektur. Noch seltener erscheint der Begriff `Modernismus als Betitelung Moderner Architektur. Auf diese Begriffsproblematik wird im Zuge dieses Kapitels noch genauer eingegangen. Entgegen der gängigen Vorgehensweise der Literatur, die die Behandlung moderner Architektur meist voranstellt, wird hier mit einer Beschreibung der konventionellen Vorstellung des so genannten Traditionalismus im 20. Jahrhundert begonnen, wie es als eine der wenigen Ausnahmen auch Umberto Barbieri und Leen van Duin in Honderd jaar Nederlandse architectuur, tendenzen, hoogtepunten (1999) unternahmen. Dieses Übersichtswerk bietet unter dem Anspruch Tendenzen in der Architekturentwicklung des 20. Jahrhunderts darzustellen, ein breites Bild der niederländischen Baugeschichte dieser Zeit. 57 Vgl. Hartmann Vgl beispielhaft Ibelings 1988 und Ibelings

31 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Der Traditionalismus (oder auch traditionelle Architektur) Als so genannte traditionalistische bzw. traditionelle Architektur häufig unter dem Überbegriff Traditionalismus eingeordnet wird in der Literatur besonders die Architektur des 20. Jahrhunderts bezeichnet, die ein Formenvokabular verwendet, das seinen Ursprung in der historischen Architektur hat. In den Niederlanden wird diese Architekturrichtung häufig unter dem Begriff Delfter Schule (Delftse School) zusammengefasst und mit Granpré Molière, der als Hochschullehrer an der technischen Hochschule Delft tätig war, und mit Alexander Kropholler verbunden. Granpré Molière, gemeinsam mit Verhagen Erbauer den grünen Stadtteil Vreewijk in Rotterdam, gilt als Protagonist dieser so bezeichneten `Reaktion auf den Funktionalismus. 59 Seine Schüler sollen ab den 1920ern die traditionelle Bauweise verbreitet haben, während zeitgleich in Deutschland und Skandinavien ähnliche Strömungen entstehen. 60 Der Traditionalismus wird vielfach mit dem katholischen Glauben verbunden und das Rooms Katholiek Bouwblad als Sprachrohr dieser traditionalistischen Architekturströmung angeführt. 61 Zu den zugehörigen Architekten gelten neben Berghoef u.a. A. Kropholler, S. van Embden, A. Siebers, F. Eschauzier, A. van der Steur, F. P. J. Peutz, C. M. van Moorsel, A. van Kranendonk, H. van der Laan, J. J. Vegter, B. J. Koldewey, E. H. und H. M. Kraayvanger. Als Kennzeichen der traditionalistischen Architektur werden die Verwendung von Backstein und Holz, hohe Satteldächer, geschlossene Formen mit kleinen Fenstern, sowie eine traditionelle Formgebung angeführt. Eine genaue Definition, was traditionelle Formgebung eigentlich ausmachte, bleibt in den meisten Fällen jedoch aus. Im Allgemeinen ist hiermit das Vorhandensein von verzierenden Ornamenten gemeint. In erster Linie, so heißt es, wollten die Traditionalisten handwerkliche Traditionen an unregelmäßigen Fassadenaufbauten anschaulich machen. Dabei verhüllen die Backsteinfassaden die innenliegende Eisen- und Stahlkonstruktion, weil nicht die Konstruktion im Vordergrund stand, sondern der Charakter, im Sinne einer wahrheitsgetreuen Expression des Gebäudes in seiner Bedeutung und Funktion, sowie das ausgewählt sichtbare Material. Als Vorbilder traditionellen Bauens innerhalb der Niederlande gelten das Museum Boijmans Van Beuningen (1935) von A. van der Steur, die Onze-Lieve-Vrouwenkerk in Breda von Granpré Molière, die Rathausbauten von Kropholler sowie diverse Entwürfe der Amsterdamer Rathauspreisfrage aus den 1930er Jahren. Aufgrund von Konvention hofften die Traditionalisten Gebäude zu entwerfen, die nicht nur ihre Bestimmung zum Ausdruck brachten, sondern auch als typisch niederländisch erkennbar waren, im Gegensatz zu den Modernisten, die einem `International Style nachstrebten. 62 Eine recht negativ gefärbte Beschreibung der Delfter Schule und des Traditionalismus wird noch 1981 durch Fanelli in Delftse School, reactie op het zakelijke bouwen gegeben. 63 Fanelli bezeichnet den Traditionalismus als Gegenreaktion, als der Funktionalismus um 1930 auf seinem Höhepunkt war. Diejenigen, die nicht dem Funktionalismus anhingen, verfielen seiner Ansicht nach wieder `uninspiriert der Formensprache der Amsterdamer Schule und des 59 Vgl. De Haan 1981; Fanelli 1981; Vriend Neben F.L. Wright stellt sich auch der Finne Alvar Aalto der Aufgabe den Bau ortsverbundener und -bestimmter zu gestalten. kulturelle und traditionelle Bezüge, Architektur im Wechselbezug von gestellter Aufgabe und Umfeld des Bauplatzes. 61 Dieses Blatt wurde 1929 eingerichtet und bis zum Zweiten Weltkrieg verlegt. 62 Vgl. Bosma 1995, Vgl. Fanelli 1981,

32 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts De Stijl. Die anhaltende Wohnungsnachfrage führte zur schnelleren Produktion, sodass sich die Architekten in ihrer Baugestaltung teils wiederholten. Die Kluft zwischen der Architektur und der Gemeinschaft wurde immer größer. Nach Ableben der Vertreter der Amsterdamer Schule, wie beispielsweise Michel de Klerk als Vaterfigur dieser Architekturströmung, kommt es laut Fanelli auch durch die ökonomische Krise zu einem Pessimismus. Die Folge ist die Suche nach Sicherheit in der Tradition. Manche fanden diese in den Formen der klassischen Antike, andere idealisierten die Architektur des niederländischen Flachlands. Deshalb sei in den 1930ern eine Rückbesinnung `auf frühere Zeiten wahrzunehmen. Als Vorreiter gilt hier unter anderem Skandinavien, wo sich diese Entwicklung früher einstellte und wo die Architekten Ragnar Östberg, Gunnar Asplund und Ivar Tengbom als Vorbilder fungierten. 64 Moderne Architektur In der gängigen Vorstellung bezeichnet Moderne Architektur einen Stilkomplex rund um die Architekten Frank Lloyd Wright, Le Corbusier, Mies van der Rohe, Walter Gropius, Oscar Niemeyer u.v.m. Während sich in Deutschland das Bauhaus als Zentrum der modernen Architektur profilierte, entsteht in den Niederlanden das Nieuwe Bouwen als Synonym für neue, moderne Architektur. Es handelt sich hierbei um einen Sammelbegriff verschiedenster Baustile und städtebaulicher Entwicklungen aus der Zeit von 1915 bis in die 1960er Jahre, die als Reaktion auf den Eklektizismus und Historismus des 19. Jahrhundert interpretiert werden. Der Begriff Nieuwe Bouwen kommt in den 1920er Jahren auf und wird auch mittels Synonymen wie Funktionalismus, Neue Sachlichkeit oder später International Style verwendet zur Andeutung für neu gebaute Architektur, die sich zu diesem Zeitpunkt in Amerika und Europa vollzog. Während frühe Bauten wie die Fagusfabrik (1911) von Gropius und Meyer in Alfeld und das Rietveld-Schröderhaus (1924) in Utrecht den Beginn der modernen Architektur markieren, erhielt diese neue Architekturströmung ihren internationalen Durchbruch nach dem Zweiten Weltkrieg. Als architektonische Exponenten des Nieuwe Bouwen in den Niederlanden bzw. von niederländischen Architekten entworfene Bauten haben die Openluchtschool (1930) in Amsterdam von J. Duiker, die Van Nelle Fabrik (1931) in Rotterdam von Brinkman & Van der Vlugt, sowie die Villa Allegonda (1917) in Katwijk und die Wohnhäuser der Siedlung Kiefhoek (1930) in Rotterdam von J. J. P. Oud schon früh Berühmtheit erlangt. Durch die Modernisten wird ab dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert der Unterschied zwischen Bauen und Architektur aufgehoben. Der Baukörper wird ab jetzt nicht mehr komponiert, sondern konstruiert, d. h. das Primat der Komposition wird ersetzt durch das Primat der Konstruktion und Funktion, so dass sich eine ingenieursartige Herangehensweise an die Materialität der Architektur herausbildet. Moderne Architektur wird aufgrund der neuen, offenen Formgebung und der neuen Materialien Beton und Stahl idealiter `a-tektonisch und `immateriell. Inhaltlich und Formell kennzeichnete sich das Nieuwe Bouwen durch die radikale Abkehr von nationalen und regionalen Traditionen, sowohl auf formsprachlicher als auch materieller Ebene. Es wurden schlichte, einfache Formen, sowie unverzierte Baukörper und Baumasse nachgestrebt, die als stereogeometrische Formen frei im Raum angeordnet werden 64 So ist das Rathaus in Enschede (1933) von Architekt G. Friedhoff deutlich von Östbergs Rathausbau in Stockholm inspiriert. 30

33 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts konnten. Eines der antihandwerklichen Prinzipien des Nieuwe Bouwen war, den Backstein als konstruktives Element zugunsten einer industriellen Bauproduktion auszuschalten. Darum wurde mit dem Prinzip des Skelettbaus in Stahl und Beton experimentiert als Alternative für die (außenliegende) Wand als tragendes Element. Die Behandlung der Wandfläche war (um 1950) noch immer in der Experimentalphase. Zumeist wird der Backstein zurückgebracht in seiner Funktion als Verkleidungsmaterial des eigentlichen Bauskeletts. Die Außenmauer diente nur noch als Trennung zwischen dem Inneren des Gebäudes und der Außenwelt. Glaswände erlauben dann den maximalen Lichteinfall. Funktionalität und Funktionstrennung standen im Vordergrund der Architekturkonzeption. Diesbezüglich publizierte die CIAM (Congrès Internationaux d Architecture Moderne), eine Gruppierung von 28 internationalen Architekten und Stadtplanern unter Anstoß von Le Corbusier und Giedion, 1933 die Charta von Athen, in der die neuen Theorien bezüglich Architektur und Städtebau festgehalten wurden. Als markante Neuerung wurde die Funktionstrennung auf architektonischer und städtebaulicher Ebene in Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr betont. Dieses konventionelle Bild Moderner Architektur wurde in diversen Übersichtswerken zur Architektur des 20. Jahrhunderts gezeichnet und hat durch stetige Wiederholung seine allgemeine Akzeptanz gefunden. Als Problematik zeigt sich, dass durch die stetige Zuspitzung der Beschreibung von Architektur auf bestimmte Protagonisten und exemplarische Bauwerke und Manifeste, egal welche Periode, Strömung oder Stilform, das breite Bild der Architekturentwicklung verloren geht. So auch im Zuge des medialen Zeitalters und durch den zunehmenden Gebrauchs des Internets. In der wohl bekanntesten Internetenzyklopädie Wikipedia finden wir folgenden deutschsprachigen Beitrag zu Moderner Architektur: Moderne bezeichnet in der Geschichte der Architektur eine nicht allgemein abzugrenzende Architekturepoche. In der Regel meint man damit die international verwendete Formensprache, die sich innerhalb des heute klassische Moderne genannten Kunstkomplexes zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt und bis heute verwendet wird.[ ] Die technische, damals neue, Grundlage für die Architektur der klassischen Moderne ist die Verwendung der Baumaterialien Stahl, Glas und bewehrtem Beton. Die ästhetischen Prinzipien der Klassischen Moderne sind als Reaktion auf die historisierenden Neo-Stile zu verstehen. Das Programm der umfangreichen Architekturtheorie lässt sich (verkürzt) in drei pointierten Leitsätzen zusammenfassen: Form follows function (Louis Sullivan), Less is more (Ludwig Mies van der Rohe) und die Aussage einer schon 1908 von Adolf Loos verfassten Polemik Ornament und Verbrechen. Zum einen soll sich die Gestaltung also von der architektonischen Funktion ableiten. Dies äußert sich häufig in der Sichtbarkeit des Bauskeletts eines Gebäudes und der Versorgungsleitungen. Zum anderen ist die Ausgestaltung oft von asketischer Schlichtheit. 65 Was sich in diesem von der breiten Öffentlichkeit vielfach verwendeten und sicherlich auch meinungsformenden Lexikon niederschlägt, ist das Schwarz-weiß-Denken und das oberflächliche Ordnen in simple abstrakte Kategorien. Doch dieses bipolare Geschichtsbild ist kein Spiegel der wahren, viel nuancierteren historischen Prozesse. Bipolarität ist folglich schlecht gewesen für die Wahrnehmung der Pluralität, die u.a. mit dieser Arbeit wieder in den 65 [zuletzt eingesehen am , 14:02h] 31

34 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Vordergrund gerückt werden soll. Das Bild der vielschichtigen Wirklichkeit soll mit der Analyse eines noch `unbekannten Architekten wie Berghoef wiedergewonnen werden. Moderne Architektur - ein Stil oder kein Stil Ein Architekt kann Stil nicht entkommen, denn jede Architektur ist auch ein Versuch, mehr zu sein als nur ein Dach und Wände. Dabei sucht der Architekt seine Zuflucht in einer Reihe ästhetischer Regeln. Diese Regeln erhalten dabei ihre kulturelle Bedeutung, wenn sie nicht nur die alltägliche Wirklichkeit übertreffen wie Finanzierung, Material und Funktion, sondern auch über die Einschränkungen des individuellen Architekten hinausgehen. Im Gegensatz zu einem spezifischen Bauwerk, das eine wortwörtliche Übersetzung eines bestimmten Bauprogramms ist, ist die Baukunst das Suchen nach einem delikaten Gleichgewicht zwischen Ideal und Wirklichkeit. So in etwa beschreibt der amerikanische Architekt Robert Stern 1984 die Situation des Architekturgeschehens in seinem Artikel After the modern period. 66 Die Stilfrage ist in der Diskussion um die Architektur des 20. Jahrhunderts stets lebendig geblieben. Dabei hat die Entstehung des facettenreichen Bilds der modernen Architektur letztlich nicht wenig mit der Anwendung oder Ablehnung des Stilbegriffs zu tun. Stil bedeutet die durch Besonderheiten geprägte Art und Weise etwas auszudrücken. In der bildenden Kunst bezeichnet Stil damit das, was im Hinblick auf Ausdruckform, formalen und inhaltlichen Tendenzen typisch ist. 67 Bauten bekommen in der Architekturhistoriografie häufig einen bezeichnenden Baustil etikettiert, in vielen Fällen auch mit negativer Assoziation. Dabei ist die Diskussion um die Bezeichnung von Baustilen stets schwierig und ungeklärt, denn z.t. entstanden sie durch spätere negative Assoziationen (Gotik und Barock), durch Orte des Entstehens (Amsterdamer und Delfter Schule), Personenbezeichnungen (Lodewijkstijl), oder sogar Zeitschriften (Jugendstil, De Stijl). 68 Auf der formalen Ebene bezeichnet ein Baustil eine Zeitperiode und einen bestimmten Inhalt. Dadurch dienen sie ohne Zweifel als räumliche und zeitliche Orientierungsgrundlage zur Einordnung von Architektur. Doch wird ein Stilbegriff auch häufig zur Vereinfachung und simplen Abgrenzung verwendet. Der Architekturpublizist Johannes Pieter Mieras sagte hierzu treffenderweise, dass die Bauwerke meist nur aus ihren Baustilen heraus erkannt würden, während über die Bauten selbst meist wenig bekannt sei. 69 Der Stilbegriff ist ein lang bewährtes, beliebtes und erprobtes kunsthistorisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts. "Geht man vom minimalen Konsens, der Übereinstimmung verschiedener Werke bezüglich ihrer Erscheinungsform, aus, so drängt sich eine solche Kategorie auffälliger oder gar dominierender formaler Einheitlichkeit geradezu auf, beschreibt Oechslin den Stilbegriff. 70 Der Stilbegriff ist demzufolge nicht einfach zu handhaben in der Betrachtung und Einordnung von Architektur. Zum einen ist es ein einfacher Klassifikationsbegriff, die Architekten und Bauten unter einen gemeinsamen Nenner bringen. 71 Zum anderen entstehen die als Stilmerkmale erscheinenden Zusammenhänge, die in der Rückschau so 66 Stern Siehe die Definition `Stil in: New Dictionary of the History of Ideas. Edited by Mryanne Clkine Horowitz. New York : Charles Scribner's Sons, Vgl. Blijdenstijn 2000, Vgl. Mieras in: Eibink 1937, Vgl. W. Oechslin in: Lampugnani 2000, Vgl. Colenbrander 1993,

35 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts selbstverständlich scheinen, beim Entwerfen nicht von selbst, sondern müssen als bewusste Entscheidungen gesehen werden. 72 Auch wenn technische, finanzielle und materielle als auch lokale Gegebenheiten den Architekten stets beschränken in seiner künstlerischen Freiheit des Entwerfens, so darf ihm seine künstlerische Entscheidungsfreiheit nicht abgesprochen werden. Die zentrale Frage ist deshalb, ob die Entwürfe einer Formendose entspringen, entsprechend einer festgelegten Methode, oder ob sie an ein individuelles Bauprogramm geknüpft sind. Parallele Merkmale in der Formgebung werden in der Diskussion um Moderne Architektur gerne herangezogen, um Verwandtschaften und Parallelen aufzuzeigen. Dabei handelt es sich häufig um Zuschreibungen von Architekten und deren Bauten in eine bestimmte Richtung oder Gruppe, wie die bereits erwähnte Delftse School. Die Autoren und Theoretiker der modernen Architektur wie z. B. Giedion versuchten zu propagieren, dass man den Begriff Stil nicht verwenden möge, da es eine zu formalistische Annäherung an Architektur introduziere. Der Stilbegriff, wie ihn auch Giedion verwendet, kommt im 19. Jahrhundert auf, um einzelne Perioden voneinander zu trennen. In der Architektur ging dies vielfach in einer naturalistischen Beschreibung von Formeinzelheiten vor sich." 73 Dies berge jedoch, laut Giedion, die Gefahr von formalistischen Konzeptionen in sich. In der Folge wurde der Stilbegriff in der Architekturtheorie wieder zum Singular nach dem Pluralismus des verpönten 19. Jahrhunderts und bezeichnete ein als dominant zu sehendes Weltbild. So beschreibt beispielsweise Pevsner die moderne Bewegung in der Architektur nur als `ein Stil, trotzdem aber den einen wahren Stil. 74 Im Kontrast dazu wird durch Manfred Bock darauf verwiesen, dass das Nieuwe Bouwen kein Stil sein könne, da Schlichtheit und Funktionalität keine Merkmale eines Stils seien. 75 An diesem Punkt müssen wir ihm zustimmen. Da den Modernisten bzw. Funktionalisten aber nicht abgesprochen werden kann, dass sie eine bestimmte stilistische Formensprache verwenden, eignet sich hierfür der Begriff Design am besten. Die Publikationen der oben angeführten Autoren versuchten in der Geschichte einen Beweis dafür zur finden, dass ihre Art des Bauens, ihr Design, eine unvermeidliche und absolut logische Konsequenz sei. Doch auch über die genaue Ausführung dieses Designs gingen die Meinungen und Interpretationen auseinander. Dies hatte unvermeidlich einen Pluralismus in der gebauten Landschaft zur Folge, mit dem sich unser Fach auseinanderzusetzen hat und mit dem sich diese Arbeit beschäftigen möchte. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass sich die Architekturgeschichte in den Niederlanden als wissenschaftliches Fach parallel zur modernen Architektur entwickelte. So beginnt die Architekturgeschichte als selbstständige Wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Einsatz des ersten Lehrstuhls 1947 in Delft: besetzt mit E. H. ter Kuile. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Architekturgeschichte gekoppelt an die Ausbildung der Architekten von Entwurfslehre. Die erste Generation von Architekturhistorikern waren E. H. ter Kuile (Delft), M. D. Ozinga (Utrecht) und F. A. J. Vermeulen (Staatliche Denkmalpflege). Die ersten Publikationen zur niederländischen Baukunst und ihrer Geschichte wurden durch A. W. Weissmann 1912 und C. H. Peters Vgl. hierzu Colenbrander 1993, Giedion 1956, Pevsner Siehe M. Bock in: Bless 1982,

36 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben, gefolgt durch Vermeulens dreiteilige Reihe Handboek tot de geschiedenis der Nederlandsche Bouwkunst, erschienen zwischen 1928 und Hier wurde in der Regel versucht die Baukunst vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert anhand von stilistischen Merkmalen chronologisch zu sortieren und zu strukturieren. Die ersten Autoren, die jedoch Interesse für die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts zeigten, waren wiederum Architekten. So publizierte J. G. Wattjes 1924 schon eine fotografische Übersicht Nieuw-Nederlandsche Bouwkunst. Nach ihm kamen Publikationen von J. Gratama und J. J. Vriend, die viel über die Baukunst des 20. Jahrhunderts zu berichten wussten. Vriend, der sich als linksorientierter und äußerst kritischer Schreiber entpuppte, betonte häufig die Rolle des Architekten in der Gesellschaft. Er veröffentlichte schließlich auch die dreiteilige Reihe De bouwkunst van ons land ( ) und Architectuur van deze eeuw in der Reihe De schoonheid van ons land (1959), die eine sehr breite Leserschaft fanden. 77 Bis in die 1970er Jahre war die Architekturgeschichte, die damals an drei Einrichtungen in den Niederlanden gelehrt wurde (Kunstgeschichtliche Institute der Universitäten, die Baukunde Abteilungen der Technischen Hochschulen Delft und Eindhoven und der Rijksdienst voor de Monumentenzorg), in der Regel eine reine Stilgeschichte. Davor wurde im Zeitalter der historischen Stile bis in die 1920er Jahre die Architektur häufig im Zusammenhang mit den visuellen Künsten betrachtet. Stilbegriffe werden dabei Gattungsübergreifend angewendet und zugeordnet. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Architektur viel häufiger mit Technik und Soziologie in Verbindung gebracht. Man beginnt Architektur nicht zu analysieren mittels Technik, Funktion und Material, sondern man versteht die architektonische Form als Verbildlichung historischer Prozesse. 78 Hierdurch erfolgte mit dem aufkommenden Bewusstsein, dass Architektur nicht losgelöst von den gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten und Prozessen gesehen werden konnte, eine Veränderung in der Diskussion. 79 Das bedeutet, Architektur konnte nun nicht mehr als rein autonomes Phänomen mit eigener Geschichte gesehen werden. Einen Überblick über die Problematik diverser Stilauffassungen und dem Aspekt, dass Architektur in diesem Zusammenhang eine autonome Dimension besitzt, die zweifelsohne Formauffassungen widerspiegelt, gab die erste Ausstellung 1993 im Het Nieuwe Instituut in Rotterdam, aus der auch Colenbranders Publikation De Stijl entstand. 80 Wie stark Gesellschaftsvisionen und Formauffassungen miteinander verbunden waren, zeige das Schisma Funktionalismus und Traditionalismus, konstatierte Colenbrander. 81 Doch gingen die Gesellschaftauffassungen innerhalb des Architekturschaffens wirklich so weit auseinander? Die Historiografie hat (teilweise) bereits Abstand von dieser konventionellen Sichtweise genommen. In der sozialen und gesellschaftlichen Komponente der Architekturauffassung und 76 Vermeulen , Kurzbeschauung vgl. Vermeulen 1941a und Vermeulen 1941b. 77 Vriend ; Vriend 1959a. 78 Ein Beispiel für diese Herangehensweise stellt die Publikation von Brand und Janselijn 1989 dar. 79 Vgl. hierzu Boasson und Van Giersbergen Vgl. Colenbrander Vgl. Colenbrander 1993, 7. 34

37 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts des Architekturschaffens zeigen das Nieuwe Bouwen und die `Delftse School einige Übereinstimmungen. 82 Die Stilfrage, basierend auf individuellen und kulturellen Sichtweisen, kann darum nicht analog gestellt werden an modernistische versus traditionalistische Auffassungen. Im Widerwillen des Mythos eines Internationalen Stils ist kein Stil geeignet für jedes Gebäude und jeden Ort. Die Kontinuität der Tradition ist unausweichlich im Architekturschaffen. Äußere Zeichen von Veränderung beginnen stets einen Dialog mit der Vergangenheit respektive der Tradition. Der Tiefgang dieses Dialogs ist die `Essenz von Architektur, um auf Stern zurückzukommen. 83 In diesem Sinne ist die Frage um Moderne Architektur nicht nur eine Definitionsfrage um den Stilbegriff an sich, sondern auch um die Verwendung der Begriffe modern und traditionell respektive modernistisch und traditionalistisch, Moderne und Tradition. Es muss also in erster Linie eine Basis gefunden werden, für die Anwendung dieser Begriffe. Was ist dann modern? Zur Problematik eines Begriffs in der Architekturgeschichte Die Architekturgeschichte hat als kunsthistorisch geprägte Wissenschaft stets mit dem Problem der Begrifflichkeiten hinsichtlich Epocheneinteilungen und Stilbegriffen zu kämpfen. Häufig wird in den Publikationen noch an einer Aneinanderreihung von Stiltraditionen festgehalten, die zwar anfänglich Übersicht versprechen, jedoch häufig Verwirrung zur Folge haben und ein Denken in Schubladen provozieren. In vielen Fällen gibt es auch für ein und dieselbe Strömung verschiedene Namen, wie z. B. die bereits erwähnte `Neue Sachlichkeit, `Funktionalismus, Nieuwe Bouwen. Jedoch können auch Elemente verschiedener Strömungen in einem Gebäude überlappen wie bei der Amsterdamer Schule und dem Expressionismus. Die Erfindung neuer Namen und Komposita wie `Protomodernismus, `Postmodernismus und `Neomodernismus machen die Diskussion um die Moderne Architektur nur noch komplizierter, als dass sie diese erleichtern. Die Problematik dieser Begriffe und des verworrenen, undefinierten Fachjargons machen sowohl Architekt Leon Krier mit Architektur und Pluralismus (1987) als auch Architektkritiker Hans Ibelings in seinem Beitrag Tradities, stromingen in de Nederlandse architectuur (1993) deutlich. 84 Ein klares Bild über das Architekturgeschehen wurde dadurch unmöglich gemacht. So hat sich der unreflektierte Gebrauch des Wortes `Moderne ebenfalls als äußerst problematisch erwiesen, denn der orthodoxe Begriff der `Moderne, wie er in der architektonischen Kultur der er Jahre umstandslos in die Nachkriegszeit transportiert wurde, sei seit einigen Jahren in eine tiefe Krise geraten, so Lampugnani. 85 Ein wesentlicher Anteil in dem ungenauen und unzutreffenden Bild über die niederländische Architektur des Interbellum und der Nachkriegszeit liegt in dem unzureichenden und größtenteils auch unreflektierten Gebrauch der Begriffe `modern, `modernistisch, `traditionell und `traditionalistisch. Eine eindeutigere Definition und ein treffender Umgang mit den 82 Vgl. u.a. Wagenaar 2011, 258; ferner den Beitrag von Leen van Duin in Barbieri und van Duin 1999, und von Ed Taverne. `Towards an open aesthetics. Ambities in de Nederlandse architectuur , in: Leupen et al. 1990, 23 sowie Ibelings 1988, 36f; 83 Vgl. Stern Krier 1987; Ibelings in: Brouwers Vgl. Lampugnani

38 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts verschiedenen Begriffen sind unumgänglich zur Beschreibung des Konzepts moderner Architektur. Beginnen wir mit der etymologischen Bedeutung der Begriffe Tradition und Moderne, denn als Begriffspaar bezeichnen Tradition und Moderne eine Entwicklung im Spannungsfeld von Wandel, d. h. Erneuerung und Kontinuität, und deuten auf ein Wechselverhältnis hin. Tradition (lat. traditio) bedeutet die Überlieferung von Wissen, Normen und Fertigkeiten und bezeichnet ein kulturelles Erbe. 86 Dabei ist der Grundfaktor jeder künstlerischen Entwicklung, dass ein künstlerisches Erbe Verarbeitung findet in der gegenwärtigen Kunst bzw. Architektur. Als passendes Zitat lässt sich hier der Historiker Siegfried Weigenhofer anführen, der treffend formuliert: Tradition bilde die Basis einer jeden Neuerung, die ihrerseits aus dem potentiellen oder vollzogenen Wandel heraus Tradition erst zum Gegenstand der Reflexion macht. Dadurch werde in der Moderne eine Kultur überhaupt erst in ihrer Geschichtlichkeit konkretisiert. 87 Wenn sich in der künstlerischen Aneignung dauerhaft Traditionen herausbilden, spricht man von einem Moment der Kontinuität. Dann haben wir es unter dem Oberbegriff Traditionalismus mit historischer Kontinuität zu tun. Tradition in der Architektur wird in der Literatur häufig mit zwei Begriffen angemerkt: traditionell und traditionalistisch. Während sich erster Begriff auf das Gewohnte und Übliche bezieht, und durch das Synonym konventionell ersetzt werden kann, bedeutet traditionalistisch den Traditionalismus auf übertriebene Weise vertretend und darstellend. Traditionelle Architektur ist somit keine Anpassung, sondern eine zeitgenössische Annäherung, die auf Kenntnis der Überlieferung basiert. 88 In der Baupraxis bedeutet dies, dass traditionelle Formen nur durch den Betrachter als solche zu erkennen sind, solange diese bekannt sind bzw. Vergleiche existieren. Traditionelles Bauen ist somit eine Baupraxis, die überlieferte Elemente, auch in veränderter Form weiterführt. Traditionalistische Architektur hingegen stellt diesen Rückgriff auf die Tradition explizit zur Schau. Die Attribute traditionell und traditionalistisch müssen demnach in ihrer Bedeutung voneinander differenziert werden. Traditionell bezieht sich auf das direkt Überlieferte, deshalb kann ein Architekturelement, z. B. eine bestimmte Fensterform traditionell sein. Traditionalistisch ist dagegen ein bildungssprachlicher, stilgeschichtlicher Begriff, der sich auf kulturelle Inhalte im Ganzen bezieht. Der traditionalistische Charakter einer Architektur verdeutlicht den kulturellen Standpunkt und die in der Regel positive Bewertung und Wertschätzung traditioneller Formen. Tradition äußert sich in der Architektur folglich als materielle Form mit einem symbolischen Vermittlungs- und Erkennungswert. (Architektur- )Historiker Arthur Hall betont diesbezüglich, dass Tradition im Kontrast zur Kreativität eines Künstlers stehe. 89 Nur eine `radical position führe zu einem `fundamental change. Dem muss zum Teil widersprochen werden. Tradition mag zu einem gewissen Maße die künstlerische Freiheit und Formgebung einschränken, sie schließt diese jedoch nicht aus. Die 86 Vgl. die Ausführung von Magass Weigenhofer Vgl. C. Dam in: Koning 1996, Vgl. Hall 1980, 3. 36

39 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Zusammenführung neuer und moderner Elemente in der Baukunst lässt sich aber unter Halls Begriff der `hybrid attitudes gut vereinen. Eine recht aktuelle Auseinandersetzung mit der Problematik der Verwendung von Begrifflichkeiten stammt von Kunst- und Architekturhistoriker Ulrich M. Schumann. 90 Schumann betont, dass Traditionalismus sich aus der Tradition herauslöst und sich in ihr spiegelt. "Zwar bezieht er sich auf sie und wünscht sich deren Selbstverständlichkeit zurück. Doch macht die Distanz eben diesen reflexiven und symbolischen Moment aus." Traditionalismus setzt eine bewusste Wahl voraus und macht die Tradierbarkeit von Wissen sichtbar. Laut Schumann ist Traditionalismus ein Teil der Moderne und steht im Kontrast "zum Modernismus, der Modernität als Lösung von Traditionen deutet". 91 Auf diese Weise bringt Traditionalismus eine verständlichere Form der Modernisierung zustande, die anders als der Historismus und Eklektizismus den Weg an der Stilgeschichte vorbeigehen. 92 Auf den problematischen Umgang mit dem Begriff Tradition in der niederländischen Architektur verweist auch der Schweizer Architekt Denis Honegger mit seinem Artikel De traditie in de architectuur (1947). 93 Während die einen unter Tradition das Nacheifern historischer Stile und früherer Lebensweisen bedeutet, verstehen die anderen darunter die unveränderlichen Prinzipien der architektonischen Wahrheit. Darum wird Auguste Perret, von Le Corbusier nicht als Revolutionär sondern als Fortsetzer architektonischer Wahrheiten bezeichnet, von Honegger gelobt als ein Architekt, der sowohl traditionell als auch modern arbeitete. Gemeint ist hiermit Perrets Arbeitsweise. Neue Mittel der Zeit werden von ihm angewendet um die zeitgenössischen Anforderungen zu erfüllen. Gleichzeitig werden unveränderliche Wesenszüge als Gesetzmäßigkeiten von Architektur verarbeitet, wie Solidität, Harmonie und Zweckmäßigkeit. Die wahre Tradition in der Baukunst liegt in diesen essentiellen Architekturgesetzen, die überliefert und weiterentwickelt werden. 94 Denn wenn es eine Kunstgattung gibt, die sich stetig anpassen muss, dann ist es die Baukunst. Für den modernen Architekten bedeutet dies Kenntnis zu erarbeiten, die ihn möglichst vielseitig machen. Dies bedeutet eine Auseinandersetzung mit der Moderne. Doch was beinhaltet dieser Begriff? Der Begriff Moderne wird entgegen dem Begriff Tradition in erster Linie übersetzt mit der `neuen Zeit und ihrem Geist, d. h. eine neue Richtung in der Kunst, Architektur oder Gesellschaft. Es leitet sich ab von dem lateinischen Wort modernus = neu, gegenwärtig bzw. modo = eben, erst. Wortgeschichtlich tritt Moderne (Modernité) erstmals 1849 bei dem französischen Politiker François-René de Chateaubriand in dessen Mémoires d'outre-tombe (publiziert in 12 Bänden in ) auf und wird hier in mehr negativer Bedeutung verwendet. Kurze Zeit später, nämlich 1863, greift der französische Dichter und Kunstkritiker Charles Baudelaire den Terminus auf, doch wird er erst 1886 von Eugen Wolff auf die Kunst und Literatur bezogen. 95 In der Folge bezeichnet die Moderne jede neu aufkommende Stilrichtung oder Kunstgattung, die Fortschritt oder Aktualität propagiert. Die Moderne 90 Vgl. U. M. Schumann in: Krauskopf 2009, Vgl. U. M. Schumann in: Krauskopf 2009, Vgl. U. M. Schumann in: Krauskopf 2009, Vgl. Honegger Vgl. Honegger 1947, Zu den vollständigen Titeln dieser Quelle vgl. Wolff 1886 und Baudelaire 1995 [1863]. 37

40 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet ferner in der europäischen Geschichte einen Umbruch in allen Lebensbereichen mit der Tradition und wurde im 19. Jahrhundert verwendet um die Gegenwart von der Vergangenheit abzugrenzen. So schrieb Hermann Bahr 1890 in seiner Abhandlung Die Moderne: Wir wollen die Gegenwart sein. 96 Mit verschiedenen Zeitpunkten für den Beginn der Moderne (Französische Revolution, Industrialisierung, Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts etc.) endet die Moderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und geht über in die `Postmoderne und `Neopostmoderne. Andere Ansätze hantieren mit den Bezeichnungen Erste und Zweite Moderne oder auch Gegenmoderne. In der Regel wird die Moderne als eine Entwicklung der Gesellschaft zur Massengesellschaft gesehen, die sich im 19. Jahrhundert etabliert. Lampugnani konstatierte als neue Dimension der architektonischen Moderne, dass die Moderne ebenfalls eine soziale wenn nicht sogar sozialistische Ideologie sei. Politische und technische Problematiken der Ökologie, die Wohnung für das Existenzminimum, der Umgang mit schwindenden Ressourcen und wenig Mittel hätten diese Architekturform eingeleitet. Das künstlerische Prinzip der Einfachheit habe sich aber schon vor den Architekten der selbsternannten offiziellen neuen Sachlichkeit entwickelt, nämlich in Zeiten der Avantgarde. 97 Stilkundlich wird die Zeit der Avantgarde ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die 1920er als die Klassische Moderne bezeichnet. Dabei zeigt sich in der Kunst- und Architekturpraxis schnell eine Schwierigkeit, wie Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1977) konstatiert. "Die Reproduktionstechnik [...] löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab." 98 Dies führt zur Erschütterung des Tradierten und der Tradition. Denn die Einzigartigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition. Diese Tradition selber ist freilich etwas durchaus Lebendiges, etwas außerordentlich Wandelbares." 99 Und während Architektur seit jeher den Prototyp eines Kunstwerks bot, dessen Rezeption in der Zerstreuung und durch das Kollektivum erfolgte, führte die Wohnungsknappheit der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts auch zur Reproduzierbarkeit der Architektur. 100 Architektur verliert damit seine Einzigartigkeit und den direkten Bezug auf eine Tradition. Das Adjektiv modern verbindet demnach Aspekte des Neuen, des Zeitgemäßen, Ansprüche des Gültigen, Klassischen und Zeitlosen, und demzufolge auch eine Legitimierung im gesellschaftlichen und weltanschaulichen Bereich. Der Bezeichnung `modern ist das Adjektiv `modernistisch abgeleitet. Es bedeutet den Modernismus (Bejahung des Modernen und ein Streben nach Modernität) betreffend und ihm zugehörig, sich häufig übertrieben modern gebend. Wir können also konstatieren, dass `modern in erster Linie ein Periode meint, wohingegen `modernistisch zweifellos ideologische und künstlerische Prinzipien umfasst. 101 Die Begriffspaare traditionell - modern, traditionalistisch - modernistisch sind somit als 96 Vgl. Bahr Vgl. zum Aspekt der Vereinfachung in der Kunst und Architekt: Lampugnani 1992, Benjamin 1977, Benjamin 1977, Benjamin 1977, 40. In seiner Theorie der Avantgarde (1982) beschreibt Literaturwissenschaftler Peter Bürger ebenfalls die Problematik der Autonomie der Kunst und des avantgardistischen Kunstwerks. Siehe Bürger Vgl. Krier

41 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts untrennbare Gegensatzpaare zu verstehen. Doch sind Tradition und Modernität traditionell und modern keine einander widersprechende Begriffe. 102 Die in sich selbst bedingte Dialektik von Tradition und Innovation, d. h. alt und neu, wird diesbezüglich auch von Architekt und Theoretiker Robert Maxwell eindringlicher beleuchtet. 103 Innovation kann nur auf der Grundlage von Tradition geschehen, so dass eine absolute Abkehr von der Tradition nicht möglich ist. Dem Wort modern hängt in der ganzen Diskussion um die neue Architektur des 20. Jahrhunderts ein positiver Wert an. Das will meinen, dass modern nicht nur `von heute bedeutete, sondern vielmehr auf einen Fortschritt und ein Weiterkommen ausgerichtet war. 104 Die in der Architekturhistoriografie kategorisch angewendete Plakatierungen `modern und `traditionell fußen folglich in der Regel auf der stilistischen Ebene der Architektur, und müssten durchgängig überprüft werden. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass der Begriff modernistisch in erster Linie eine stilistische Formgebung kennzeichnet, und eine modernistische Stilsprache stellt den modernen Gehalt von Architektur explizit zur Schau. Der Begriff modern hingegen ist nicht auf einen Stil gemünzt. Doch Historiker, Theoretiker, Künstler und Architekten werfen diese Begrifflichkeiten häufig durcheinander. 105 Ein Gebäude kann sowohl moderne als auch traditionelle Elemente enthalten, und das in einer modernistischen oder traditionalistischen Formgebung ausdrücken. An sich ist dieser terminologische Unterschied zwar bekannt, wird jedoch häufig vergessen bzw. bei der Beurteilung und Kategorisierung von Architektur nicht berücksichtigt. Die Art der Formgebung wird häufig unreflektiert auf den Gehalt, d. h. das Konzept der Architektur zurückgeführt. Für den Zweck der Modernisten reichte die Bedeutung von `modern = das, was von jetzt ist völlig aus, um sich von der Architektur der Vergangenheit abzugrenzen und einen klaren Schnitt zu ziehen. Doch ein Wechselverhältnis von Tradition und Moderne ist immer anwesend und trägt immer den eigenen Charakter des betreffenden Moments. Die Moderne, als einziges Absolutum, können wir deshalb schwerlich definieren. Für unsere Analyse ist dieser Begriff außerdem mit zu viel Ballast behaftet, weshalb wir ihn im Kontext der Betrachtung Berghoefs vermeiden werden. Bezüglich der Analyse Berghoef erweist sich der Begriff Erneuerung als Pendant zur Kontinuität in der Baukunst besser. Ableitend von dieser Standpunkt müssen wir folglich auch Lampugnanis Sichtweise auf die moderne Architektur des 20. Jahrhunderts verstehen, nämlich dass die Moderne nicht einzig und allein der Modernismus ist. Sie ist keine stilistische Wahl, sondern eine Bedingung der Zeit, wie Lampugnani treffend formuliert. 106 Und diese Bedingung(en) der Zeit machte Architekturschaffen zum Aktionsfeld der jeweiligen, zeitgenössischen Kulturproduktion. `Moderne Architektur als Kulturprodukt Wenn man sich mit der Charakterisierung moderner Architektur befasst, zeigt sich schnell, dass sich die Diskussion in der Geschichtsschreibung bzw. Rechtfertigung der verschiedenen 102 Vgl. Krier 1987, Vgl. Maxwell Vgl. Gregotti Vgl. Krier Vgl. Lampugnani 1992,

42 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Autoren bezüglich moderner Architektur auch um die Schlagwörter Funktionalität, Technik, Moralität, Modernität und Charakter dreht. Diese begrifflichen Zusammenhänge bedingen sich in der Auffassung von Architektur als kulturelle Aktivität. in diesem Sinne müssen wir Moderner Architektur, wenn sie kulturschaffend sein will, ihre autonome Dimension absprechen. Architektur ist nur von Bedeutung, wenn sie den Dialog mit ihrer Umgebung eingeht. Mittels Gestalt und Funktion bezieht sie Stellung zum Mensch und der Gesellschaft. Dadurch erhält sie ihre kulturelle Dimension. 107 Der moderne Architekt ist demzufolge Kulturproduzent. Dabei muss berücksichtigt werden, dass Kulturelle Identität durch die Interpretation des Ortes entsteht. Erst danach kann sich eine soziale Identität aus der kulturellen Identität entwickeln, die in der lokalen, städtischen Baukunst begründet liegt. Einzig der Regionalismus nimmt sich den einzelnen Menschen als auch den spezifischen gesellschaftlichen Rahmen als Ausgangspunkt. 108 Die internationale Moderne, beschrieben als International Style, basiert auf einem allgemeingültigen Menschen- und Gesellschaftsbild. Wie verhält sich jedoch die regionale Moderne bezüglich ihres Architekturschaffens? Hierzu kann in den folgenden Kapiteln das Architektenbeispiel Berghoef wichtige Hinweise liefern. Die gängige Kontroverse in Bezug auf moderne Architektur liegt ferner in der Rolle, die der Architekt in seinem Berufsstand und innerhalb der Gesellschaft einnimmt. Besonders bei den Modernisten kommt die zwiespältige Rolle des Architekten als Künstler und Unternehmer, Architekt und Ingenieur zu tage. In seiner Untersuchung zur Entstehung der modernen Baukunst in Mitteleuropa erläutert Architekturtheoretiker Ákos Moravánszky, dass der Konflikt Architekt-Ingenieur in den zeitgenössischen Schriften nicht als Abbild des Widerspruchs von Kunst und Technik verstanden wird, sondern dass dieser Widerspruch eine Folge der Arbeitsteilung sei und somit keinen absoluten Status beinhalte. 109 Architekten wie Wagner, Loos und Muthesius sahen die»entartung der Baukunst«als Entfremdung vom Menschen, und dass obwohl sie sich mehr Aktivität auf sozialem Gebiet wünschten. Dadurch unterscheide sich die Tätigkeit des Architekten von der des Ingenieurs, weil er zur Ausführung von Architektur als kulturelle Aufgabe ein Traditionsbewusstsein aufrechterhalten muss. Die Rolle des modernen Architekten hat somit ein anderes Anforderungsprofil als die des Ingenieurs. (Bei der Betrachtung Berghoefs gilt es, diese Auffassung zur Rolle von Architekt und Ingenieur zu untersuchen, Teil 1 Kapitel 3. Welche Rolle Moral, Modernität und Charakter bezüglich des Konzepts Moderner Architektur schlussendlich spielen, soll im Folgenden untersucht werden. Modernität Streben nach Authentizität und Erneuerung In der Architekturgeschichte ist der Begriff Modernität mit zahlreichen Vorstellungen und Bildern behaftet. Die Idee von Authentizität auf der Gestaltungsebene von Architektur erweist sich in der Literatur zu moderner Architektur dabei nicht nur als ein Schlüsselbegriff von Moralität, sondern auch von Modernität. 110 In der Architektur des 20. Jahrhunderts wird dies meist verstanden als Abweisung von Schein, verbunden mit einer moralischen Abweisung von 107 Vgl. Van Dijks Besprechung der Legitimation Moderner Architektur. Van Dijk Vgl. Blomeyer und Tietze 1980, 17, Vgl. Moravánszky 1988, Vgl. Heynen et al. 2001, 674ff. 40

43 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts allem Luxus und Überfluss (mit deutlicher Ausnahme der Architektur von Mies van der Rohe). In der Praxis bedeutete dies eine Ablehnung des Ornaments in der Architekturund dass alle Formen auf rein funktionalistische Weise auf einem Authentizitätsdenken basieren. 111 Dieser Anspruch von Authentizität besonders ausgedrückt in der Materialehrlichkeit und der Sichtbarmachung der Konstruktion, wurde in der Architektur des 20. Jahrhunderts als maßgeblich für moderne Architektur gesehen. Zum Thema Architektur und Modernität erschien 2001 von Architekturhistorikerin Hilde Heynen die umfangreiche Analyse Architectuur en kritiek van de moderniteit. 112 Heynen macht deutlich, dass es im gleichen Zeitraum von verschiedenen Vertretern (Giedion, Ernst May, Theodor Adorno und Walter Benjamin) sehr unterschiedliche Auffassungen von Modernität gab. Die bedingten sich durch den ambivalenten Gehalt von Modernität, die einerseits ein Verlangen nach Fortschritt, andererseits eine Melancholie nach Vergangenem beinhaltete. Enthusiasmus für Modernität ist ein Kennzeichen für Modernismus in der Architektur, jedoch nicht für Modernität an sich. 113 Die unterschiedlichen Auffassungen von Modernität sind sowohl programmatisch als auch transitorisch, woraus sich ergibt dass Modernität kein monolithisch Ganzes darstellt. Auf diese komplexe Bedeutung von Modernität hat u.a. Literaturtheoretiker Matei Calinsescu in den 1970er Jahren bereits mit seiner Publikation Faces of Modernity aufmerksam gemacht. 114 "Modernity, then, appears as the history of the battle to give value to the present." Dies ist der Leitfaden von Modernität als Streben nach Veränderung in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Für Modernisten wie J. J. P. Oud bedeutete dies in den 1920er Jahren, dass das Moderne, das Zeitgemäße und auch das Zeitbedingte den Künstler in Zeiten des Aufschwungs immer stark bewegt hätten. 115 Das Moderne ist das sich Wechselnde, im Sinne eines Sich-Entwickelns. Dabei braucht das Moderne nicht zu gleicher Zeit auch das `Neue zu sein. Das "Moderne" ist das Individuell-Werdende, das "Neue" ist das Kollektiv-Werdende, ein Unterschied von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung der Kunst, laut Oud. 116 In den 1920er Jahren hielt man sich mit den neuen technischen Errungenschaften sehr beschäftigt, doch da man diese noch kaum anwendete, wurden die meisten Häuser in Ziegelmauerwerk hochgezogen. Nur die weiß verputzte Fassade mit Flachdach und Bandfenstern attestierte die Modernität am Bau. Ein Beispiel hierfür ist das iconische Rietveld-Schröder Haus (1924) in Utrecht. Diesem Kapitel wurde ein Zitat Lampugnanis vorangestellt: "Modernität ist nicht der Modernismus, [ ] sondern eine Befindlichkeit." 117 Hiermit ist gemeint, dass Modernität mehr ist als nur das Vereinfachen von Aspekten wie Form, Technologie und Funktionalismus. Modernität hängt mit dem Bild eines neuen Zusammenlebens zusammen. Modernität ist ein moralisch kultureller Auftrag. Dadurch sind architektonische Produkte und architektonisches Denken keine passiven Spiegelungen von gesellschaftlicher Entwicklung, sondern sie sind 111 Vgl. Loos Vgl. Heynen Vgl. Doordan 2001, Vgl. Calinsescu Vgl. Oud Oud 1926, Vgl. Lampugnani 1995,

44 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Beherrschungsmechanismen, um der eigenen Weltvision Form zu verleihen. 118 Diesen Punkt griff 1948 schon J. Visser in seinem Artikel Architectuur en levensbeschouwing auf. 119 Hinsichtlich des niederländischen Traditionalismus (Delftse School) zeigt sich, dass auch diese Strömung auf ein universelles Weltbild ausgerichtet ist, das die kategorische Funktionalität von Architektur mit ästhetischen Normen verbindet. Diese Grundhaltung ist zweifelsohne Teil ein Charakteristikum moderner Architektur. Einen weiteren Aspekt fügt der italienische Architekt Vittorio Gregotti 1987 hinzu, als die Begriffe Modernität und Zugehörigkeit eine aktuelle Rolle im Architekturgeschehen seiner Zeit spielen. Wenn im Falle der architektonischen Avantgarde das Problem im Neuen als Wert, besteht, so artikuliert der Begriff der Zugehörigkeit ein Interesse für die Geschichte der Disziplin in ihrer Kontinuität der Idee des Kontextes und des Ortes[ ]. Modernität im Architekturschaffen bedeutet eine Auseinandersetzung mit den bestehenden Beziehungen, derentwegen der Planungsprozess in erster Linie (ein) Veränderungsprozess ist. 120 Die Idee der Veränderung ist zum gedanklichen Instrument der Moderne geworden. 121 Modernität im Sinne einer verbessernden Veränderung kann demzufolge allein durch eine Bezugnahme auf den bestehenden Zustand geschehen. Hierdurch kamen auch die Modernisten nicht um den Begriff der Kontinuität herum. Doch deckten sich in den modernistischen Kreisen die Ansichten über Kontinuität auch nicht gänzlich und boten reichlich Stoff zur Diskussion. 122 Der Begriff Kontinuität erhielt erst bei der 9. Zusammenkunft der CIAM (IX e congres in Aix-en- Provence, 1953) eine gezieltere programmatische Definition. In der Folge kann der Anschluss von Architektur zu einem Ort, einer Kultur oder einer Tradition nicht als Ausschlusskriterium von Modernität in der Baukunst dienen. Moralität und Kultur Neue Materialien und Bautechniken Die Geschichte zur Entstehung der Architekturmoderne ist eng verknüpft mit der Erfindung und Anwendung neuer Materialien und der zunehmenden Technisierung der Baupraxis. Spätestens die Erfindung des Stahlbetons im 19. Jahrhunderts hat den Erfolg des Betons im Baugewerbe eingeläutet. Im Folgenden verbesserte die moderne Stahlindustrie im 20. Jahrhundert in zunehmenden Maße die qualitativen Eigenschaften des Betons. Dies brachte immer neue Möglichkeiten des Bauens mit sich. Im Stahlbeton findet sich die Zusammenführung von zwei Materialien zu einem Baumaterial, die eigentlich zwei äußerst gegensätzliche Eigenschaften besitzen: die Zugkraft des Stahls und die Druckfestigkeit des Betons. Dieser heterogene Charakter des Stahlbetons macht ihn passabler als der reine Stahl. In der Ausführung dieser neuen Bautechnik bildeten sich als wesentliche Konstruktionselemente eines Stahlbetonskeletts Pfeiler, Böden und Balken heraus. Der Boden stellt dabei ein integriertes Element in der Skelettkonstruktion des Stahlbetons dar, das gleichzeitig mit dem Skelett aufgebaut wird. Im Gegensatz zum Stahlskelett, bei dem der Boden 118 Vgl. Lefaivre und Tzonis Vgl. Visser Leider können keine genauen Angaben zu Vorname und Beruf gegeben werden. 120 Vgl. Gregotti 1987, Vgl. Gregotti 1987, Vgl. Taverne 1990, 36ff. 42

45 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts erst später montiert wird. Dieses Stahlbetonskelett hat bis heute in den Niederlanden am häufigsten Verwendung gefunden. 123 Im Zuge der Industrialisierung und der stetigen Effektivierung von Produktionsprozessen kam gegen Mitte des 20. Jahrhunderts die Vorfertigung von Bauelementen, d. h. die Produktion von montagefertigen Bauteilen immer mehr in Mode. Die Vorteile waren die Wetterunabhängigkeit bei der Verarbeitung des Stahlbetons und die damit verbundene Qualitätssicherung. Stahlbeton sei in den 1960er Jahren beinahe zum factotum für die Baukunst geworden, so Kropholler. 124 Vor 1940 wurden jedoch noch wenig vorfabrizierte Bauelemente hergestellt. Die Rationalisierung des traditionellen Bausystems, die konstruktive Verbesserung, der Gebrauch von neuen Materialien und die Verbesserung der Baupraxis führten zu einer Einführung von ganz neuen Bausystemen, zu denen Vorfabrikation und Montagebau gehören. Doch trotz des neuen Baumaterials verschwindet der Backstein in den Niederlanden nie ganz. Der Backstein als Baumaterial hat eine weit zurückreichende Tradition in den nordeuropäischen Ländern, zu denen auch die Niederlande zählen. 125 Der Mangel an nahen Natursteinabbruchgebieten führte schon seit Jahrhunderten zur beliebten Anwendung des Backsteins, u.a. wegen der einfachen Herstellung. Diesen Aspekt betonte auch Vriend in Nederland bouwt in natuur- en baksteen (1951). 126 Zwischen 1925 und 1950, also dem Zeitraum des aufkommenden Modernismus und der Entwicklung neuer Materialien und Techniken, seien die Positionen zum Backstein sehr verschieden, wie Vriend die Situation beschreibt. Nach der Amsterdamer Schule war der Backstein wieder eher funktional geworden, während die ab 1930 aufkommende Delftse School die Backsteinmauer wieder zurück brachte als ein den den Raum einfassendes Element. In der allgemeinen Bautechnik hätten sich Backstein, Stahl und Beton arrangiert und würden gleichwertig gebraucht. Doch seien letztere Materialien noch wichtiger geworden, weil man mit dem Backstein an seine Grenzen stieß, so Vriends Kritik, die damit die Zukunftsfähigkeit der neuen Materialien prophezeien sollte. Die Kritik an den sogenannten `traditionellen Baumaterialien wie Backstein war aber im Grunde weniger an der Beschaffenheit des Materials geknüpft, als an einen ganz anderen Aspekt, nämlich einen Formaspekt, der sich auf die Moral von Architekturschaffen bezog. Die allgemeine Kritik war mehr auf die Ehrlichkeit im Materialgebrauch und die Sichtbarkeit der Konstruktion gerichtet. Der Begriff der Moral, bezogen auf diese Ehrlichkeit in der Baukunst, war dabei eine rhetorische Strategie der Moderne. Dies war letztendlich eine Marktstrategie. Denn modern zu sein, war ein moralisch kultureller Auftrag der Architektur. Dieser Aspekt der Moral war folglich ein wichtiger Grundsatz modernen Bauens. Giedion widmete in seinem Buch Space Time and Architecture ein ganzes Kapitel dem neuen Bedürfnis nach Moral in der Architektur. Ausgehend von dem Standpunkt, dass die Architektur des Eklektizismus eine Scheinarchitektur sei, in der keine Wahrheit bestünde, fordere die neue Bewegung in der Architektur nach neuer Moral, ohne Lüge in der Fassade. Sowohl Henry van de Velde, als auch William Morris und Victor Horta zählte Giedion hier als 123 Vgl. De Heer 1947, Vgl. Kropholler 1965, Vgl. Schiebroek 1991, Vriend

46 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Architekten auf, die sich keiner Falsifikation von Formen hingeben, keinen historischen Bezug herstellen, und dadurch mittels Konstruktionsoffenheit Ehrlichkeit in die Architektur einführen. 127 Die offene Darstellung der Konstruktion, wie sie auch bei Perret zu finden sei, kennzeichne die neue moralisch gute Architektur. Hierzu verlinkte Giedion die neue Herangehensweise und den Gebrauch neuer industrieller Materialien und Konstruktionsweisen u.a. mit der Chicago School und Frank Lloyd Wright. In seinem Buch sprach sich Giedion deshalb eindeutig für den positiven Einfluss des Stahlbetons aus. Diese notwendige Erfindung habe die Architektur aus ihren Fesseln befreit. 128 Der ehrliche, offene und pure Umgang mit dem Material und der Konstruktion war laut Giedion ein Kennzeichen von Moderner Architektur. In der Folge hatte Watkin mit seiner Publikation Morality and Architecture (1977) schon aufgezeigt, wie Kunsthistoriker versuchen nachträglich mit Hilfe von Fiktionen Entwicklungslinien zu erfinden. Watkin selbst beschrieb mit seiner Studie die verschiedenen Sichtweisen des Themas von Moral und Architektur im 19. und 20. Jahrhundert (z. B. bei Pugin), mit besonderem Fokus auf Pevsner. Ebenso wie bei Giedion sei auch bei Pugin im 19. Jahrhundert schon eine Sichtweise auf Architektur zu finden, bei der Architektur als Expression von sozialen, moralischen und philosophischen Konditionen verstanden wird. Die Argumentationsmuster bei Pugin und Pevsner, so zeigte Watkin auf, dienen dazu eine bestimmte Architekturrichtung zu introduzieren und zu fördern, d. h. sie wurde nicht nur als Stil vorgeführt, sondern als einzig logische Art des Bauens, bei der jedes Infragestellen unmoralisch sei. 129 Diese Doktrinen kollabieren jedoch sobald sie an der wirklichen Architektur getestet würden. 130 Eine bekannte Reaktion auf dieses moralische Postulat an Moderner Architektur ist Robert Venturis Complexity and Contradiction in Architecture (1968). Er selbst positionierte sich eher als Befürworter von Widerspruch und Komplexität in der Architektur, wie sein Buchtitel deutlich verrät, und als Gegner der puritanischen moralischen Sprache der orthodoxen modernen Architektur. 131 In der niederländischen Architekturhistoriografie ist die Frage nach Moral in der Architekturauffassung sehr ebenfalls bestimmend für die Einordnung der Architekten und deren Bauwerke. Die Kategorisierung des Traditionalismus als Delftse School, gebunden an die Architekturauffassung von Granpré Molière, ist dabei sehr stark gebunden an dessen Texte. Um eine Wiederholung zu vermeiden, wird diese Seite der traditionalistischen architektonischen Moral im folgenden Kapitel besprochen. Überdies muss auf die verschiedenen Ebenen und Kontext von Moral in der Architektur aufmerksam gemacht werden, die im 20. Jahrhundert spielen. In den meisten Beschreibungen zu Moderner Architektur wird das moralische Postulat nach Abstraktion, Reduzierung und Einfachheit, im Sinne der architektonischen Ehrlichkeit von Giedion angewendet. Moral wird rhetorische Strategie der Moderne bzw. der Modernisten. Im Zuge des Wiederaufbaus und der Konfrontation des materiellen und architektonischen Verlustes erhält Moral im Baugeschehen eine weitere 127 Vgl. Giedion 2008, 293ff. 128 Vgl. Giedion 2008, Vgl. Watkin Vgl. Watkin Vgl. Venturi 1968,

47 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Bedeutung, nämlich die der Erhaltung von architektonischem Erbe, wie anhand des Fallbeispiels Berghoef im Kontext des Niederländischen Wiederaufbaus ebenfalls gezeigt werden soll. Monumentalität und Charakter Ausdruck der Funktion Die Beschreibung zur Moral in der Diskussion um Moderne Architektur hat gezeigt, welche große Bedeutung Wahrheit und Authentizität in der Architektur besaß. Bedingt durch den Umgang mit Material und Technik, hatte dies Auswirkung auf den Charakter von Architektur. Der Begriff Charakter zeigt sich als äußerst richtungsgebend bei der Frage wie moderne Architektur versucht den Formalismus des 19. Jahrhunderts zu überwinden. `Charakter hat über lange Zeit hinweg das Denken über Architektur bestimmt und war besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein gängiges Thema in der Architekturdiskussion, wie der Architekturhistoriker Auke van der Woud mit seiner Publikation Truth and character: the architecture debate (1997) deutlich machte. 132 Schon in der Ästhetik- und Schönheitslehre des 18. Jahrhunderts spielte der Charakterbegriff eine wichtige Rolle. 133 Ein Kunstwerk, ebenso wie ein Gebäude, hat Charakter, wenn es durch seine Form, Verzierung und Standort, seine Funktion und seinen Status zum Ausdruck bringt. Die von Quatremère de Quincy in der Encyclopédie Méthodique (1788) Beschreibung von Charakter in der Architektur liefert drei Bedeutungsebenen: 1. Originalität in der Form, 2. imposante Eigenschaften und Erhabenheit, 3. Ausdruck der Bestimmung am Exterieur mittels der Form. Charakter als Ausdruck der Funktion eines Gebäudes stand somit auch schon im 19. Jahrhundert zentral in der Architekturdiskussion. Neue Materialien, Techniken und Entwurfsmethoden führten im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts zu Untersuchungen nach anwendbaren Denkkadern für die Architekturpraxis. Häufig wird Charakter in den Analysen von Architektur auch vermengt mit dem Begriff Stil. Die deutschen Quellen zur Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts zeigen bereits, dass der Begriff Charakter in der Baukunst durch die intellektuelle Elite international früh aufgegriffen wurde. Der anonyme Autor eines 1788 in Leipzig herausgegebenen und durch Kruft 1986 neu aufgelegten Faksimiles bezeichnet den Charakter eines Gebäudes als den Wirkzusammenhang zwischen Architekt, Bewohner, Gebäude und Betrachter. 134 Die Fassade soll Ausdruck der persönlichen Eigenschaften des Menschen (d. h. gesellschaftlicher Status etc.) und der Funktion des Gebäudes sein, wobei auch der Nationalcharakter Einfluss auf den Charakter eines Gebäudes nehmen kann. Nach Ansicht H.-W. Krufts nähert sich der anonyme Verfasser bereits hier dem Phänomen, dem sich hundert Jahre später Louis Sullivan mit seinem `form follows function widmet. Dies werde aber häufig "im Sinn eines konstruktiven Funktionalismus fehlinterpretiert". 135 Die Suche nach stilistischen Merkmalen, die eine adäquate Antwort liefern zur Lösung der Frage nach dem Charakter von Architektur, wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts und besonders in der Diskussion der Modernisten um moderne Architektur im 20. Jahrhundert auf 132 Für diese Untersuchung wurde in erster Linie die niederländische Ausgabe verwendet, siehe Van der Woud Vgl. Van der Woud 1997, 15f. 134 Vgl. Kruft 1986b. 135 Kruft 1986b, XIII. 45

48 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts negative Weise als Eklektizismus abgetan. Auf die Frage, in welchem Stil gebaut werden müsse, liefern die Modernisten, vorrangehend mit Le Corbusiers Vers un architecture (1928) ihre eigene Antwort. Es wurde mit verschiedenen Mitteln versucht, dem jahrelangen Suchen nach architektonischen Ausdrucksformen zur Expression des Charakters der eigenen Zeit ein Ende zu bereiten. Doch auch die sogenannten Traditionalisten sehen im Charakter das Vermittlungspotential von Architektur. Architektur muss hierbei ihrer Ansicht nach mittels Formcodes, Material und Technik sprechen. Die Modernisten hingegen hätten in ihrem Sinne die Architektur sprachlos gemacht, so Architekturhistoriker Dirk Baalman. In seinem Artikel Oud tekenen en oud denken zum (aktuellen) Thema Charakter in der Architektur. 136 Das umfangreiche Programm des Charakters von Architektur wurde reduziert auf ein Thema, nämlich den Zeitpunkt der Entwurfsentstehung. Es scheint bei der Betrachtung der zahlreichen Manifeste und Publikationen rundum die moderne Architektur der frühen Jahre, dass Architektur genüge, die sich neuester Materialien und Formen bediene. Der Architekt, der zu lange und ausführlich nach Antworten auf die Frage nach bestem Ort, Programm oder Zeit suchte, wurde schnell als traditionalistisch abgestempelt. Auf diese Weise wurde das Schwarzweiß-Bild der Architektur auch hinsichtlich der Frage nach dem Charakter von Architektur weiterhin gefördert. Modernistische Traktate wie das Le Corbusiers scheinen darum lange Zeit größere Aufmerksamkeit zu erlangen als Venturis Complexity and Contradiction in Architecture (1969) bzw. Learning from Las Vegas (1972). Letztendlich ist der Charakter von Architektur die Expression ihrer Funktion. Charakter deutet folglich auf eine abstrakt-ästhetische Architekturauffassung hin, entgegen einer materialistischen Annäherung. Eine charakteristische Formgebung ist somit eine formelle Übersetzung der Funktion des Baus. 137 Giedion zitierte hierfür den Künstler Horatio Greenough: By character I mean the record of function. (1852) 138 Mittels seiner Form und Ausstrahlung kann Architektur kulturschaffend wirken, indem sie mit dem Betrachter bzw. Nutzer kommuniziert. Dabei kann Architektur neben historischen Formschemata auch auf historischen Denkschemata und Begrifflichkeiten basieren. Die Frage ist, ob sie unreflektiert oder bewusst für einen aktuellen Nutzen modern verwendet werden. Es handelt sich stets um die Frage, wie architektonische Formen auf beste Weise alle Aspekte `guter Architektur zum Ausdruck bringen können. 139 Pugin, der bei Hitchcock und Pevsner, eine wichtige Rolle bei der Entstehung moderner Architektur spielt, vertrete die Überzeugung, daß Wahrheit, Zweckmäßigkeit und Schönheit die Voraussetzungen guter Architektur seien, solang das Postulat tatsächlicher und augenscheinlicher Zweckmäßigkeit 140 erfüllt werde. Darüber hinaus zeigt sich auch im Zuge der Entwicklung moderner Architektur, dass ihr ein regionaler Charakter zugesprochen wird. So spricht S. Umberto Barbieri der Niederländischen Architektur ab 1940 einen eigenen Charakter zu, der von den internationalen Tendenzen abweiche. 141 Es handle sich hierbei um eine geräuschlose Fortsetzung der Architektur nur mit Einbezug der neuen technischen Möglichkeiten, die sich seit den 1930er 136 Vgl. Baalman Vgl. Baeten Giedion 2008, 216, inkl. Anm Vgl. Baalman S. Georg Germann, Neugotik. Stuttgart 1974, S. 76. Nach: Moravánszky 1988, 62 Anm Vgl. Barbieri Ferner auch Blijstra

49 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Jahren ergeben haben. Grund hierfür sei die geringere Anzahl an Theorien und Manifesten bezüglich niederländischer Architektur. Es wird folglich ein Unterschied bezüglich des internationalen und regionalen Charakters von Moderner Architektur gemacht. Die westliche abstrakte Architektur des Neuen Bauens bekam schnell einen internationalen Charakter, da sie radikal alles anders machen wollte als die bisherigen alten Stile, so beschreibt Rietveld die Aspekte der neuen modernen Architektur. 142 Doch stellt sich in diesem Kontext die Frage, ob ein nationaler, regionaler oder lokaler Charakter von Architektur diese per se unmodern macht. Eine begründete Moral, Authentizität und Funktionalität im ortsbezogenen Charakter der Architektur würde ihre Aufgabe als Kulturproduzent im modernen Sinne absolut rechtfertigen. Diese ortsbezogene und kulturelle Charakterisierung eines Baus muss sich dabei von der lokalen Tradition inspirieren lassen, denn ohne diesen Traditionsbezug kann der Charakter von Architektur nicht als Kulturträger funktionieren. Moderne Architekturgeschichtsschreibung - Mythologisieren und Exemplifizierung Welches Fazit können wir nun aus den vorangegangenen Betrachtungen der Architekturhistoriografie und den Themen rundum moderner Architektur ziehen? Der Blick auf die Architekturhistoriografie von moderner Architektur hat gezeigt, dass das Bild Moderner Architektur, das bis heute trotz einiger neuer Ansichten und Blickwinkel als eine Art Mythos lebt, ein Produkt einer Geschichtsschreibung ist, die von bestimmten Architekten und Protagonisten bestimmt wurde. Es handelt sich hierbei immer noch um eine unausgeglichene Geschichtsschreibung, in der die Moderne, d. h. in diesem Zusammenhang die modernistische Architektur, im Rampenlicht stand, während der so genannte Traditionalismus eine stiefmütterliche Behandlung erfuhr. Wenn die Traditionalisten beleuchtet wurden, dann zumeist aus modernistischer Sicht. Eine Beurteilung und Einordnung dieser traditionellen Architektur geschieht dabei zumeist nur oberflächlich auf der Formensprache der Architektur. Die Kategorisierung und Beurteilung der Architektur ab 1945 geschieht auf der Basis bzw. der Bewertungsgrundlage der 1930er, in denen die Polarität zwischen Traditionalisten und Modernisten noch sehr ausgeprägt war. Im Konkurrenzkampf der Wiederaufbauaktivitäten flammte dieser Zwiespalt wieder auf. Gleichzeitig waren die 1950er Jahre eine Phase, in der die radikalen Standpunkte des Modernismus zweifelsohne überdacht und kritisch unter die Lupe genommen wurden. Die Kennzeichen moderner Architektur wurden an Ikonen der modernen Architektur exemplifiziert, vielfach von den Protagonisten selbst vorgeschoben, um sich selbst auch ins rechte Licht zu rücken. 143 Dabei sind viele der bereits genannten Publikationen zur modernen Architektur qua Umfang und Inhalt bemerkenswert. Die eigentliche Geschichtsschreibung der `Modernen Bewegung wurde auch sowohl von professionellen als auch nicht professionellen Autoren verfasst. Merkmal ist hierbei, dass nahezu alle Historiker hierbei befangen waren, da sie entweder Befürworter und Mitstreiter, oder seltener Gegner einer bestimmten modernistischen Position waren. Viele verstanden ihre Arbeit als Unterstützung, sozusagen 142 Vgl. Rietveld Siehe hierzu Gropius 1925 und Smithson

50 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Kampfschriften für die Avantgarde. Hieraus erklärt sich der Mangel an Objektivität. Lampugnani stellte schon heraus, dass nahezu alle Autoren immer wiederkehrende Topoi verwenden, um ihre Argumente zu machen. Durch diese Wiederholung haben sie sich zu festen Mythen kristallisiert. 144 Diese These wird von Maria Luisa Scalvini und Maria Grazia Sandri in L immagine storiografica dell architettura contemporanea da Platz a Giedion (Rom 1984) ebenfalls ausführlich dargelegt. Deshalb kennzeichne sich laut Lampugnani die Historiographie rund um die Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um die Aspekte: Befangenheit, Einseitigkeit und Parteilichkeit. Erst mit den späteren Werken von Bruno Zevi (1950), Jürgen Joedicke (1957) und Leonardo Benevolo (1960) sollte der Anspruch einer Geschichte aufgestellt werden. Dadurch wird das Bild zwar angefüllt und differenzierter aber auch fehlerhafter. Dadurch beginnt die "Moderne Bewegung", die es als solche in der Realität der Architektur nie gegeben hat, in der wissenschaftlichen Fiktion der Geschichtsschreibung zu existieren. 145 Es zeigt sich, dass nur wenige der frühen Publikationen rund um die Moderne Architektur ein wirklich historisches Interesse besaßen. Ziel war die Durchsetzung der Moderne oder zumindest doch die sympathisierenden Informationen über sie. 146 Es handelt sich in der Regel um apologetische Schriften der modernen bzw. eigentlich modernistischen Architektur. Der Diskurs zum Begriff Moderne hat deutlich gemacht, dass es keine eindeutige bzw. einheitliche Auffassung von Moderne gibt, wodurch das Bild immer tendenziös geblieben ist. 147 Denn die Auffassungen und Darstellungen moderner Architektur in den diversen Publikationen unterscheiden sich. Je nach Kontinent wird Moderner Architektur ein etwas anderer Charakter zugesprochen. Während moderne Architektur in den USA durch Progressivität hinsichtlich des Materials und der Technik gekennzeichnet wird, ist moderne Architektur in Europa in erster Linie kulturschaffend. Im amerikanischen Bild moderner Architektur und der ausgeführten Baupraxis stellen Präfabrikation und Serienproduktion den Ursprung solcher Architektur dar. Technologie, im Sinne von Bautechnik und Material, spielt hier in der Charakterisierung moderner Architektur eine primäre Rolle. Die Arbeit des Ingenieurs und des Architekten können sich im Bereich der Architektur stark überschneiden. Insgesamt zeigt sich die theoretische Diskussion um Architektur hier liberaler und pragmatischer. 148 Hierzu gesellt sich das Verständnis von sozialverdingter Architektur als Kulturträger im Dienste des Menschen, dass für europäische Architektur der Moderne beansprucht wird. Ideologische und soziale Fragen stehen hier im Vordergrund der architekturtheoretischen Diskussion. Das heißt zusammengefasst, dass ein moderner Architekt die soziale Bedeutung von Architektur erkennt und sich aktiv mit der fortschreitenden Technik und der Entwicklung neuer Baumethoden und Materialien zur Verbesserung der Architektur auseinandersetzt. Die Geschichtsschreibung der modernen Architektur kennzeichnet sich durch die Auseinandersetzung mit Architektur, die jedoch mittels verschiedener Genealogien, 144 Vgl. Lampugnani und Schneider 1994, Vgl. Lampugnani und Schneider 1994, Vgl. Pevsner 1996 Nachwort von Pehnt, Vgl. Oechslin 1999, Vgl. Kruft 1986a, 504ff. 48

51 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Beschreibungen und verschiedenen gesellschaftlichen, historischen und architektonischen Konzepten interpretiert wird. 149 Viele Autoren versuchten die moderne Architektur bzw. den Modernismus im Allgemeinen zu definieren. Doch zeigt sich eindeutig, dass die Personen, Projekte und Ideen rundum Architekturschaffen der vom Autor selbst gewählten Bedeutung von `modern folgen. Da es sich außerdem bei den meisten Autoren, besonders in den Anfängen der Geschichtsschreibung moderner Architektur mehr um Architekten als Akademiker (d. h. Architektur- und Kunsthistoriker) handelt, beinhaltet die Beschreibung des Architekturgeschehens in den meisten Fällen eine Reflektion des eigenen Fachs. Daraus resultierte eine Architektenkreation der Moderne im eigenen Werk. Giedions Werk wurde schließlich in der Folge sowohl von Architekten als auch von Architekturkritikern und Historikern des Faches verwendet. Die oben benannten Autoren legten in der Regel abgrenzende Kennzeichen moderner Architektur als Stereotypen fest, die es möglich machen eine Liste exemplarischer Bauwerke für das beispielhafte Image der modernen Bewegung zu erstellen. In Verband mit einigen wenigen herausragenden Architektenvertretern werden dann die fundamentalen Grundsätze moderner Architektur begründet. Die Architekturhistoriker der Geschichtsschreibung moderner Architektur organisierten ihre Diskurse mittels eines Konstrukts von Namen, Fakten, Projekten die ihrer Ansicht nach moderne Architektur umschreiben. Dadurch entstehen so viele unterschiedliche moderne Bewegungen wie es Diskurse gibt. Ein anderer, nicht an dieser Stelle zumindest erwähnenswerter Aspekt ist, dass die Betrachtung der Architektur vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts sehr häufig im Zusammenhang mit den visuellen Künsten betrachtet wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wird moderne Architektur mehr mit Soziologie und Technologie in Verbindung gebracht. 150 Diese Verschiebung des Blickwinkels hatte eine andere Wahrnehmung von Architektur zur Folge. Als Fazit dieser Betrachtung bleibt, dass das durch zeitgenössische Architekten und Autoren gezeichnete Bild zu stark kontrastierend ist. Es weist zu wenige Nuancen auf und ist in erster Linie an eine Theorie über moderne Architektur gebunden und weniger an die Baupraxis selbst. Es handelt sich also in zahlreichen Fällen um ein propagandistisches und subjektives Bild von Moderner Architektur. "Thus the wish to be modern was translated into a myth of Modernism", beschreibt Robert Maxwell diese Entwicklung. 151 Wir haben es mit einer kaum überschaubaren Masse an Literatur über moderne Architektur auf internationaler als auch nationaler Ebene zu tun. In ihr werden sowohl soziale Zielsetzungen, als auch funktionale, konstruktive und technische Lösungen in den Vordergrund gestellt, die durch eine wiederholte Vervielfältigung letztlich ein Mythologisieren moderner Architektur produzierten. 152 Dies hat zur Folge, dass sich in den Übersichtswerken und unseren Köpfen ein gängiges, prototypartiges Bild von moderner Architektur eingebrannt hat. An diesem Bild können wir nicht weiter festhalten, wollen wir moderne Architektur richtig verstehen. Doch wie können wir dieses Bild folglich korrigieren? In erster Instanz müssen wir uns von der Vorstellung trennen, dass 149 Vgl. Tournikiotis 1999, Siehe als Bsp. für erstere Herangehensweise Brand und Janselijn Maxwell 1996, Vgl. hierzu Moravánszky

52 Kapitel 1 Die Diskussion um Tradition und Moderne in der Niederländischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts moderne Architektur ein Stil und somit mit einer bestimmten Formgebung verbunden sei. Das Denkformat der frühen Modernisten, d. h. das Dualitätsdenken und die Bipolarität, scheint immer noch in der Architekturhistoriografie fortzuleben und steht dadurch der Erkennung des eigentlich vorherrschenden Pluralismus der damaligen Zeit im Weg. Es wird Zeit die breite Mitte der architektonischen Entwicklung des modernen Zeitalters zu erkennen und tiefergehend zu untersuchen. Es gilt die Pluralität und den Variationsreichtum der Architekten des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund rücken zu lassen. Dabei interessieren die Themen Architektur und Gesellschaft, Charakter, Moral, Kultur, die soziale Funktion von Architektur, ihre architektonische Form und ihre symbolische Bedeutung, Industrialisierung und die Anwendung neuer Bautechniken und Materialien. Denn mit diesen Aspekten haben sich alle Architekten des 20. Jahrhunderts bei der Ausführung ihrer Arbeit befassen müssen. 50

53 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Toen de Delftse School eenmaal door de buitenwereld deze naam had gekregen, was zij een mode geworden in de handen van epigonen. Hun vormcultus had nauwelijks meer iets gemeen met de opvattingen van Molière. Architekt Jan Kuiper, Briefwechsel mit Berghoef im März Wer in der Nachkriegszeit in den Niederlanden Architektur oder Städtebau studieren wollte, ging nach Delft. In dieser südöstlich von Den Haag gelegenen Stadt befand sich die damals einzige Fakultät für Baukunde der Niederlande, an der man sich schon seit dem 19. Jahrhundert zum Ingenieur ausbilden lassen konnte waren hier aus der Königlichen Akademie zuerst die Polytechnische Hochschule und dann die Technische Hochschule (1905) zu Delft hervorgegangen. Eine Konkurrenz zur Akademie der Baukunst in Amsterdam gab es ab Mitte der 1920er offiziell nicht mehr, da dieser Ausbildung durch den Amsterdamer Architektenverband Architectura & Amicitia (A&A) und des nationalen Bond Nederlandse Architecten (BNA) das Verleihen des Ingenieursdiploms als Abschluss der Architektenausbildung verboten worden war. Wortführer der Kommission zur gesetzlichen Rechtmäßigkeit der Architektenausbildung an der Akademie in Amsterdam war u.a. Marinus J. Granpré Molière ( , Abb. 1), damaliger Hochschullehrer an der Technischen Hochschule Delft. 154 Nachdem den Amsterdamern, bei denen sich einige Vertreter der Neuen Sachlichkeit bzw. des Nieuwe Bouwen zusammengefunden hatten (darunter Willem van Tijen, Johannes B. van Loghem, Leendert C. van der Vlugt und Cornelis van Eesteren), die offizielle Ausbildung zum Architekten abgesprochen war, war Delft folglich der einzige Ort um sich zum diplomierten, anerkannten Architekten und Ingenieur im Städtebau, Minenbau, Wege- und Wasserbau ausbilden zu lassen. In den Händen der Absolventen dieser Institution lag demnach die Aufgabe der architektonischen und städtebaulichen Formgebung der Niederlande. Dabei hatten nach 1945 sowohl die neue Studentengeneration als auch die Überlebenden, die ihr unterbrochenes Studium nach dem Krieg wieder aufnehmen wollten, eine große Aufgabe zu bewältigen. Nach dem Krieg lag Europa in Trümmern, die Städte in Schutt und Asche. Die Notwendigkeit eines schnellen Wiederaufbaus ging gepaart mit dem Wunsch nach einem Neubeginn und Veränderung. Doch auch Fragen der Wiederherstellung und Erhaltung dessen, was verschont geblieben war, wurden diskutiert. Das Kriegsgeschehen und die Besetzungsjahre hatten in den Niederlanden an vielen Orten Spuren hinterlassen, die sowohl Fragen der Wiederherstellung des Alten als auch der möglichen Neugestaltung aufwarfen. Schon während des Krieges, der bereits 1940 eine große Zerstörung des Landes durch die Übernahme der Niederlande durch die Nationalisoszialisten zur Folge hatte, begann man mit Plänen und Entwürfen, hoffend auf ein schnelles Ende des Krieges. Man versuchte alles um die Zeit nicht sinnlos verstreichen zu lassen. Dabei kam besonders in Zeiten der Fremdbesetzung die Konfrontation mit der eigenen Nationalität und Volksidentität zur Sprache. Viele (früh 153 BERX s158 (0575). 154 Siehe Wendt 2008, 74. und für den (ersten) Rapport Diehl et al G. Diehl war 1924 zum außergewöhnlichen Hochschullehrer `Bouwkundige Constructie` an der TH Delft ernannt worden, war er Vizevorsitzender des BNA. 51

54 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School begonnene und später ausgeführte) Projekte aus der Besetzungszeit kennzeichnen sich deshalb durch ein national-traditionalistisches Programm, wie die Wiederaufbauten der Städte Rhenen und Middelburg zeigen. Ihre Ausführung wurde jedoch erst nach Kriegsende wirklich öffentlich kritisiert. Das architekturideologische Klima in Kriegszeiten unterschied sich zweifelsohne von dem nach der Befreiung des Landes im Mai Die schon vor Ausbruch des Krieges bestehenden Gruppen, in der Literatur u. a. als Traditionalisten (Bouwkundige Studiekring (BSK) und Absolventen der Hochschule Delft), De 8 en Opbouw (Amsterdam und Rotterdam), einzelne Protagonisten aus der Architektenwelt, sowie eine Gruppe Architekten rund um die Zeitschrift Roomsch-Katholiek Bouwblad aufgeführt, hatten sich jahrelang gegenseitig kritisiert. 155 Während des Krieges war man wieder aufeinander zugegangen, angeblich da man einander bedurfte. 156 Da das Bauwesen in den Kriegsjahren und der Besetzungszeit an Aktivität einbüßen musste, war mehr Zeit für Diskussion rund um Theorie und Inhalt von Architektur. Dies bot zeitweise mehr Raum für fachlichen Austausch der verschiedensten Vertreter des Faches. Da es trotz des bestehenden Fachbundes niederländischer Architekten (BNA) nicht zu einer organisierten Zusammenführung der Architekten kam, brachte erst die Initiative von A&A ein erstes Treffen unterschiedlich gesinnter Architekten zustande. 157 Dies fand im Juni 1941 im Maarten Martenshuis in Doorn statt und wurde von einer philosophischen Lesung über den kulturellen Verfall im Land von dem Delfter Hochschullehrer Granpré Molière eingeleitet. Die verschiedenen Beiträge des ersten dieser sogenannten Doorner Lehrgänge wurden daraufhin in dem gleichnamigen Tagungsband Kenmerken der Nederlandse bouwkunst (1941) veröffentlicht. In den Beiträgen der verschiedenen Architekten in diesem Sammelband zeigt sich die Auseinandersetzung mit der nationalen Identität in der niederländischen Baukunst in dieser Zeit der Fremdbesetzung durch Deutschland. Die folgenden Zusammenkünfte standen unter den Themen Die Architektur (1942) und Technik und Architektur (1945). 158 Bei den Architekten, die bei diesen Treffen zusammenkamen 1941 waren es um die achtzig, handelte es sich sowohl um gleichgesinnte als auch oppositionelle Vertreter aus der Architektenwelt. Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten blieben folglich trotz des grundsätzlichen Wunsches nach Verbrüderung nicht aus. Dies zeigte sich deutlich nach dem Ende des Krieges. Mit den notwendigen Maßnahmen des architektonischen und städtebaulichen Wiederaufbaus, kam es schnell zu einem Ringen um die Bauaufträge. Die alte Frage um die Vormachtstellung bei der Architektenausbildung wurde zu einem Existenzkampf. Unter dem Deckmantel eines architekturideologischen Konflikts kämpfte man um die Aufträge, d. h. Architekturauffassungen wurden instrumentalisiert, um selbst zum Zug zu kommen. Denn letztendlich wollte jeder Architekt auch nur das eine: die eigene architektonische Idee und Vorstellung verwirklichen und das finanzielle Einkommen durch den Aufbau eines eigenen Architektenbüros sichern. Um dieses Ziel zu erreichen, ging man mit grundsätzlichen Fragen nach Form und Inhalt von Architektur in die Öffentlichkeit. 155 Die Zeitschrift wurde auch geführt unter dem Namen Rooms Katholiek Bouwblad, bedingt durch die jeweilig geltenden Rechtschreibregeln. Es handelt sich aber um die gleiche Zeitschriftenreihe. 156 Colenbrander Beim ersten Vortreffen in 1940 waren nicht alle Architekten inbegriffen, was W. van Tijen als Ausschluss der Modernisten anklagte. Daraufhin wurde die Gruppe der Teilnehmer ausgeweitet. Van Tijen 1972, De Jong 1985,

55 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Abb. 1 - Marinus J. Granpré Molière, Foto um Der Name Delftse School als Resultat modernistischer (Anti-)Propaganda. In diesem vorab gezeichneten Panorama der Nachkriegszeit entstand die Namensgebung der seither in der Literatur so genannten Delftse School. 159 Erstmals tauchte der Begriff Delftse School in dem Artikel `Wij bouwen weer op? in einer Ausgabe der Zeitung De Groene Amsterdammer von 1946 auf. 160 Der Autor dieses Artikels war der international bekannte Architekt J. J. P. Oud, der mit dieser Bezeichnung `eine Gruppe von Architekten unter der Führung von Granpré Molière, dem damaligen Hochschullehrer an der Technischen Hochschule in Delft, andeutete. Zuvor waren von dem Architekturjournalisten Jakobus J. Vriend, der damals Redaktionsmitglied des Groene Amsterdammer war, die ersten kritischen Artikel publiziert worden, die ohne große Umschweife gegen die Bautätigkeit einer `Delfter Architektengruppe wetterten. 161 Um welche Architekten es sich hierbei genaue handelte, wurde aus den Artikeln nicht direkt deutlich. In der Folge wurden die Begriffe `Delftsch Bouwen, `Delftsche School und `Dictatuur in weiteren Artikel in der vielgelesenen Amsterdamer Zeitung verwendet, um eine um sich greifende Mentalität von traditionalistisch und nationalistisch geprägten baulichen Maßnahmen, sowie eine Gleichschaltung mit der Regierung anzuprangern. Man kritisierte in erster Linie die Vergabe von Bauaufträgen, bei der sich einige Architekten benachteiligt sahen. 162 Verbildlicht wurde dies 1947 von dem Architekt Willem van Tijen, indem er mittels einer Verteilungskarte publiziert in der Fachzeitschrift Forum konstatierte, dass die Traditionalisten im Wiederaufbau des Landes um die 80% der Bauaufträge zugewiesen bekommen hätten, und folglich eine Ungleichbehandlung stattgefunden habe. 163 (Abb. 2) Die Modernisten hingegen hätten zurückstecken müssen. Auch 159 Eine erste Analyse der so genannten Delfter Schule wurde von der Autorin bereits in einem Artikel in 2012 veröffentlicht. Vgl. Meyer Das hier vorliegende Kapitel stellt die erweiterte und überarbeitete Analyse dar. 160 Oud Vriend , 1; De Dictatuur van het Delftsche bouwen 1946; Oud De Dictatuur van het Delftsche bouwen 1946, Van Tijen Spätere Positionen zu diesem Aspekt der Auftragsverteilung vermerken, dass die Obrigkeit sich meist für die Traditionalisten entschied, die gut darin taten den Bruch mit der Regierungs- bzw. Führungstradition und das gesellschaftliche Zusammenleben wieder herzustellen. Besonders bei den Rathäusern schien es sinnvoll ehrwürdige Formen zu wählen. Doch begann man in diesen Jahren auch in Delfter Kreisen moderne Materialien zu gebrauchen. Der Beton wurde zwar mit Stein verkleidet, doch machte dies den imposanten 53

56 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School in den Augen des Architekten Jaap Bakema war aufgrund der Vergabe der Wiederaufbaupläne von Rhenen und Middelburg an die Traditionalisten der modernen Bewegung jegliche Chance zur Weiterentwicklung ihrer Architekturidee genommen worden. 164 Es folgte ein Auftragskampf, den man in der Öffentlichkeit ausfocht, da man sich hier Unterstützung für einen generellen Neuanfang und Veränderungen in Architektur und Gesellschaft erhoffte. Viele Publikationen jener Zeit, d. h. der ersten Jahre nach dem Kriegsende, haben gemein, dass in ihnen der Schulbegriff bzw. die Namensgebung Delftse School mit einer negativen Konnotation verwendet wurde. Es handelt sich dabei um die Instrumentalisierung eines Schulbegriffs, um im Wesentlichen Kritik an der politischen Vergabe von Wiederaufbauprojekten und Bauaufträgen zu üben. 165 Denn Granpré Molière und sein Kompagnon, der Architekt und Städtebauer Pieter Verhagen ( ), saßen zum damaligen Zeitpunkt in den wichtigen Gremien zur Verteilung von Bauaufträgen, und es wurden ganz ohne Zweifel mehr Aufträge an gleichgesinnte Architekten und (befreundete) Kollegen vergeben. Grund hierfür war u.a., dass diese Architekten die (Wiederaufbau-)Pläne mit der entsprechenden historischen Örtlichkeit verbanden, gemessen einem erhaltenen, historisch orientierten Wiederaufbau im Sinne der Auftraggeber. Darum, so zeichnet sich in der Betrachtung diverser Publikationen der Nachkriegszeit ab, wurde das Schlagwort Delftse School von denen, die sich benachteiligt sahen, als Schimpfwort für eine bestimmte Art von Architektur und eine gezielte Gruppe von Architekten verwendet. 166 Doch stellt sich die Frage, wer war diese Gruppe und besaß sie als solche eine kohärente Architekturauffassung? Charakter von Beton umso deutlicher. Berghoef wurde in diesem Zusammenhang als treuer Anhänger von Backstein als Baumaterial genannt. Boasson et al. 1988, 49f. 164 Bakema 1947, Oud Diese Ansicht ist bereits zu finden bei: Boasson et al. 1988,

57 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Abb. 2 - Verteilungskarte zur Vergabe der Wiederaufbaupläne, publiziert von dem modernistischen Architekten W. van Tijen in x=aufträge an die `Traditionalisten, o=aufträge an die Modernisten, x= Wiederaufbauprojekte, die schon während des Krieges begonnen wurden. Die zu Beginn des Krieges verliehenen Aufträge tragen außerdem die Jahreszahl

58 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School In der architekturhistoriografischen Literatur hat sich über die Jahrzehnte hinweg ein bestimmtes Bild eingebürgert, was wir als die so genannte Delftse School zu verstehen haben. Dabei wurde der Begriff Delftse School in der Geschichtsschreibung häufig mit dem Traditionalismus in der niederländischen Architektur gleichgesetzt. Als Grundlage dieser Architekturrichtung wird die ländliche Baukunst (plattelandarchitectuur), die Betonung des Handwerks im Bau und die Ablehnung der industriellen Fertigung und neuester Baumaterialien ihrer Zeit aufgeführt. 167 Als stilistische Kennzeichen dieser Architektur werden der Gebrauch von Backstein, Naturstein und Holz, sowie in der geschlossenen Formgebung das Vorkommen sauberer Maueröffnungen, Erker und schlichter Ornamente aufgezählt. Als weiteres Charakteristikum gelten mit Dachpfannen gedeckte Spitz- bzw. Satteldächer. Formsprachlich habe die Delfter Schule ferner nach Skandinavien und Deutschland geschaut, um sich Inspirationen zu holen. 168 Seit Vriend kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erstmals dieser Architekturströmung etwas Aufmerksamkeit widmete mit seiner Reihe De Bouwkunst van ons land ( ), hat dieses Bild des niederländischen Traditionalismus, respektive Delftse School, lange Zeit seine unreflektierte Wiederholung gefunden. 169 Dass sich aber die zeitgenössischen Geschichtsschreiber dieser traditionalistischen Strömung nicht wirklich im Stande sahen ein eindeutiges Bild des niederländischen Traditionalismus und der Delfter Schule zu zeichnen, zeigen die verändernden Ansichten des bereits erwähnten Architekturjournalisten Vriend. Während in der Zwischenkriegszeit bei ihm noch von einer traditionalistischen Architektur als Reaktion auf die Amsterdamer Schule und De Stijl die Rede war, wird nach dem Krieg, unter Verwendung des Begriffs Delftse School die gleiche Architektengruppe als reagierenden Gegenpol auf den Funktionalismus gekennzeichnet. 170 Zweifelsohne erhält die Delfter Schule durch Vriend stets eine sehr klischeehafte Beschreibung, so dass sie infolgedessen als Synonym für traditionsorientierte Architektur und als uniforme Architektengruppe gehandhabt wird. 171 Doch war die Gruppe wirklich so homogen? Dieser Frage wollen wir im Laufe dieses Kapitels nachgehen. Bevor wir uns mit einer genaueren Betrachtung des Phänomens der Delftse School in der Geschichtsschreibung beschäftigen, müssen wir uns die Problematik der Definition einer Architekturschule verdeutlichen, um auf dieser Grundlage die Delfter Schule beurteilen zu können. Was ist eine Architekturschule? 167 So spricht Barbieri in Bezug auf die Traditionalisten von einer geistigen Seite in der Architektur. Diese materielle Seite des Baus, d.h. Funktionalität der Räume, Material und Konstruktion sei Gegenstand ihrer gesellschaftlichen und technischen Betrachtung, während die Form von der persönlichen Vorliebe und der Kultur abhängen soll. Eine Fusion mit industriellen Prozessen habe sich die Delfter Schule angeblich nie zugestanden, postuliert Barbieri fälschlicherweise. Stets stünde die traditionell-handwerkliche Seite im Vordergrund und in jedem Bauwerk sei das Handwerkliche neben dem Werk des Architekten anzutreffen, jede Verbindung mit Industrie soll (angeblich) dieses Verhältnis zerstören. Barbieri Blijstra vertritt die Auffassung, dass die Traditionalisten die modernen Baumaterialien nur gezwungenermaßen, ohne Überzeugung und Verständnis, anwendeten. Siehe Blijstra 1960, 24ff. 168 Fanelli 1981, 172f.; Vriend Vriend Vriend ; Vriend 1957, Vriend

59 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Der Schulbegriff in der Architekturgeschichte: Gruppierung und Theorie Unter dem Titel `Prägungen, epigonale Netzwerke oder Verweigerungshaltung? machte der Architekturhistoriker Frank R. Werner in dem Sammelband zu Architekturschulen (2012) einige wichtige Bemerkungen zum zwiespältigen Bild über Architekturschulen im 19. und 20. Jahrhundert. 172 Es zeigt sich in der Architekturhistoriografie, dass so manchem Architekt der modernen Architektur, bzw. der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, ein schulbildender Charakter bzw. Rolle zugesprochen wird. Dabei zeigt sich außerdem, dass Architekturschulen zu einem gewissen Grad etwas mit Nachahmung zu tun haben. Hierbei besitze der Topos der Nachahmung eine lange historische Tradition, so Werner. 173 In vielen Diskussionen rund um die Schulbildung im Architekturschaffen dieser beiden Jahrhunderte kommt wiederkehrend die Frage nach Kopieren, Imitieren und traditionsorientierter Inspiration auf. Auch im Hinblick auf den Traditionalismus in der Architektur geht es immer wieder um die Frage, welche dieser Arbeitsweisen verfolgt wird und wie der Umgang und die Handhabung mit (historischen) Vorbildern von statten geht. Im Zusammenhang mit Architekturschulen wie der Delftse School sollte deshalb die kopierende Unterwerfung unter das Genie eines Meisters und seine Entwurfshaltung in Augenschein genommen werden. 174 Für unsere Fragestellung ist es nicht möglich und auch nicht notwendig die Delfter Architekturschule gänzlich zu analysieren. Vielmehr interessiert uns, wie die Delfter Schule bisher in der Architekturhistoriografie konturiert wurde. Wer aus welchen Beweggründen über die Delftse School geschrieben hat, ist bereits erläutert worden. Doch wo gibt es noch weiter Lücken in unserer Kenntnis über die so genannten Architekten der Delftse School? Und welche Folgen hatte das gezeichnete, überlieferte und häufig unreflektiert wiederholte Bild für unser heutiges Verständnis von Traditionalismus? Auf welche Art und Weise es unsere heutige Sichtweise auf Architekten wie Berghoef geprägt hat, soll in Kapitel 3 behandelt werden. Der Begriff `Schule ist, wie Matthias Freytag ihn in seiner Dissertation (1996) für die Anwendung der deutschen Stuttgarter Schule definiert, ein Klassifizierungsbegriff, der vorgegebene Beispiele als `Schule machend wirken lässt. 175 Dies bedeutet, Formen regen zum nachahmen an, werden aufgegriffen und nachfolgend als kanonisch anerkannt. 176 In der Regel wird davon ausgegangen, dass in einer Architekturschule eine spezielle Architekturauffassung bzw. Weltanschauung von einem Lehrer an seine Schüler vermittelt wird. Eine Gruppe von Nachwuchsarchitekten wird somit durch eine gemeinsame Lehre zusammengeführt und nachhaltig geprägt. 177 Für die Frage, ob die Delftse School tatsächlich eine abzugrenzende, homogene Gruppe war, muss also die Vernetzung der zugeschriebenen Personen und ihres Verhältnisses zu ihrem Lehrmeister Granpré Molière untersucht werden. Insgesamt gestaltet sich der Begriff Architekturschule als ein komplexes architekturhistorisches Konzept, das für die Untersuchung einer bestimmten Architekturschule eine genaue Eingrenzung erforderlich machen würde. Dass die Diskussion um den Schulbegriff in der Architekturgeschichte auch heute noch aktuell und in vielerlei Hinsicht nicht eindeutig 172 Werner, Frank R.: Prägungen, epigonale Netzwerke oder Verweigerungshaltung?, In: Philipp 2012, Werner, Frank R.: Prägungen, epigonale Netzwerke oder Verweigerungshaltung?, In: Philipp 2012, Vgl. ders., Freytag Werner, Frank R.: Prägungen, epigonale Netzwerke oder Verweigerungshaltung?, In: Philipp 2012, Vgl. ders,

60 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School aufzuschlüsseln ist zeigt die Tagung Architekturschulen an der Universität Stuttgart im Jahr 2011, aus dem der bereits genannte Sammelband resultierte. Der Begriff Architekturschule ist äußerst umfassend und deshalb nicht klar zu definieren. Bei vielen Fallbeispielen ergeben sich Fragwürdigkeiten. Kennzeichen wie eine gemeinsame architekturtheoretische Basis, Wissensvermittlung und tradierung, Lehrer-Schüler-Konstellation, Parallelen in Entwurf und Design bis hin zur Architekturpraxis, sowie ein (öffentliches) Selbstverständnis als `Schule bzw. `Gruppe, ein bestimmter Ort (Hochschule/Institution) oder eine Person als Ausgangspunkt der Lehre geben in den jeweiligen Fällen ein für und wider zur gerechtfertigten Bezeichnung einer Architekturschule. Wenn der Begriff Schule affirmativ verwendet wird, ist eine klare Definition umso bedeutender. Eine Erläuterung des eher undefinierten Charakters des Ordnungsbegriffs Schule in der Kunst- und Architekturgeschichte lieferte die Kunsthistorikerin Katja Bernhardt mit ihrem Artikel `«Schule» ein überholter Ordnungsbegriff mit Potential (2012). 178 Grundsätzlich wird eine `Schule nur dann als solche wahrgenommen, wenn zeitgenössisch oder in der Rückschau eine gemeinsame Auffassung von Architektur unterstellt wurde oder werden kann. 179 Die Unterstellung zur Existenz der Delftse School hat in der Architekturhistoriografie bereits stattgefunden, der folgende Abschnitt will diese Frage der tatsächlichen Existenz und der Homogenität etwas näher beleuchten. Die Delfter Architekten eine homogene Gruppe? Ein genauer Überblick über alle beteiligten Architekten, die dem Kreise um Granpré Molière und damit der so genannten Delfter Schule zugerechnet werden können, ist an dieser Stelle nicht möglich. Denn eine umfangreiche und detaillierte Untersuchung des Phänomens der Delfter Schule und des Traditionalismus steht noch aus und kann auch in diesem Kontext nicht gänzlich geleistet werden. Einen ersten Versuch stellt die Magisterarbeit von Jean P. Baeten De groep Friedhoff en de Delftse School (1987) und der Folgeartikel `Hollandse Beaux-Arts (1992) dar, in der die frühen Verbindungen und Lehrkonzepte zwischen dem Delfter Hochschullehrer Evers und seinem Studenten G. Friedhoff analysiert werden. 180 Diese Studie liefert hinsichtlich der Zugehörigkeit und der Charakterisierung der Person Berghoef und seiner Beziehung zu Granpré Molière im folgenden Kapitel wichtige überlegenswerte Aspekte. Granpré Molière war im Zeitraum von 1924 bis 1953 als Hochschullehrer an der Technischen Hochschule in Delft tätig und wird als Urvater der Delftse School gesehen. Neben Berghoef, der als einer seiner eng verbundenen Schüler gilt, werden in der Literatur Namen wie Cornelis M. van Moorsel, Bernardus J. Koldewey, Abraham M. de Rouville de Meux, Gijsbert Friedhoff, Adrianus van der Steur, Johannes J. Vegter, Alphons Siebers, Samuel J. van Embden, Antoon van Kranendonk, Alexander J. Kropholler u.a. dem Delfter Kreis hinzugezählt. 181 Es ist auffällig, dass die Namen der Personen in den unterschiedlichen Beschreibungen zur Delfter Schule variieren, es gibt also keine einheitliche Zuordnung der Personen. So findet beispielsweise der Name Kropholler ( ) nicht immer Erwähnung. Außerdem gestaltet sich diese Zuordnung schwierig im Kontext einer Schulbildung, denn 178 Bernhardt, Katja: <<Schule>> ein überholter Ordnungsbegriff mit Potential. In: Philipp 2012, Vgl. ders., Baeten 1987, Baeten Vriend : Bd. II, ; Fanelli 1981,

61 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Kropholler war ein Kollege Granpré Molières und kein Schüler. 182 Bezüglich Friedhoff und Van der Steur wurde ebenfalls bereits eine Zugehörigkeit zur Delfter Schule durch den Kunsthistoriker Baeten zurückgewiesen. 183 Tatsächlich handelt es sich bei den aufgezählten Personen teilweise um Fachkollegen Granpré Molières und teilweise um Absolventen der TH Delft unter dessen Dozentenschaft. Der Kirchenhistoriker Jos Pouls, der 2001 eine Analyse zur Künstlergruppe rund um Granpré Molière und das R.K. Bouwblad anfertigte, zählt ferner den sonst nie auftauchenden Namen Jan van Dongen ( ) als so genannten Kronprinz Granpré Molières, sowie Joan Colette und Nic Molenaar auf, die die katholischen Künstlertage in Huybergen ( ) organisierten und damit die Wiege der Delfter Schule darstellen sollen. 184 Neben einer Architektengruppe von der Technischen Hochschule Delft zeigt sich damit in der Geschichtsschreibung noch eine weitere Gruppe, eine eher katholische Künstlergemeinschaft die Huybergen-Gruppe, der ebenfalls der Name Delftse School zugewiesen wird. Diese widersprüchliche und verschiedenartige Eingrenzung der Delfter Architektengruppen ist fraglos ein Zeugnis des noch bestehenden Mangels unserer Kenntnis über die wahren Sachverhalte. Unser Wissen über die so genannte Delftse School und der angeblichen Beteiligten ist ungenügend und dadurch nicht eindeutig. Durch fehlende Weitsicht sind infolgedessen zu starre, unzutreffende Kategorisierungen entstanden. 185 Da es sich bei der Gruppe von Architekten, die mit der Delftse School in Zusammenhang gebracht werden, nicht um reine Lehrer-Schüler-Verbindungen handelt, kann der Begriff Schule deshalb wenn überhaupt nur teilweise zutreffend sein. Einzig eine detaillierte Untersuchung der persönlichen Kontakte und Beziehungen der beteiligten `Delfter Architekten in einer Rahmenanalyse einer Architekturschule könnte hier Klärung bringen. Als wesentlicher Aspekt muss darüber hinaus auch die Frage nach dem Selbstverständnis der Beteiligten als Schule in Betracht gezogen werden. Kritik hierzu äußerte der Architekt Samuel van Embden bereits 1984 in einem Interview in der Architektenzeitschrift Bouw. Die Bezeichnung Delftse School habe seiner Ansicht nach zu Beginn eigentlich alle Kontrahenten des `Nieuwe Bouwen und der CIAM zusammengefasst, obwohl sich diese Gruppe selbst nie als Gemeinschaft verstanden habe. 186 Van Embden selbst störte sich weniger an die allgemeinen Verweise auf eine Delfter Schule, als vielmehr an dem Begriff Schule selbst. Viele seien auf der Suche nach einer eigenen Richtung gewesen und konnten deshalb Granpré Molière später in dessen Suche nach allgemeiner Gültigkeit seiner Architektursprache nicht mehr folgen. Nach Ansicht Van Embdens sei es deshalb schwer, der so genannten Delfter Schule einen spezifischen Terminus zuzusprechen, da es sich um eine äußerst heterogene Gruppe ohne gemeinschaftliche Organisation oder Programm handelte. Gleiches beschrieb auch schon im Jahr 1981 der Architekt Jan Kuiper in einem Brief an seinen Kollegen Berghoef, indem er betont, dass nur sehr wenige Schüler die ablehnende Haltung Granpré Molières gegenüber neuen technischen Entwicklungen teilten. 187 Des Weiteren gelte es laut Kuiper zu berücksichtigen, dass das Verhältnis von Schüler und Lehrer 182 Vgl. ferner Ibelings in: Brouwers et al. 1993, Baeten Pouls 2001a. 185 Vgl. Hierzu auch die allgemeine Kritik an kunsthistorischer Methodik durch Van der Woud 1997, Ten Cate und Lefaivre Siehe Brief von J. Kuiper, März BERX s158 (0575). 59

62 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School keine Einbahnstraße gewesen sei, sondern dass auch die sogenannten Arbeitskreise um Granpré Molière von seinen Studenten ins Leben gerufen wurden. Granpré Molière habe innerhalb dieser Kreise als Inspirationsquelle fungiert. Doch konnte man nicht verhindern, dass die Delftse School, nachdem sie einmal durch die Außenwelt ihren Namen bekommen hatte, in den Händen von Epigonen zu einer Modebezeichnung wurde. Doch habe ihr Formenkult nichts mehr mit den Auffassungen von Granpré Molière gemein gehabt. 188 Würde man den Fall der Delftse School mit anderen europäischen Schulen in der Architekturgeschichte wie der deutschen Schinkelschule (auch Berliner Schule), der Stuttgarter Schule oder der Wagnerschule (Wien) vergleichen, so würde ersichtlich, dass wir es hier mit einer ganz anderen `Schulform zu tun haben. Dies zeigt sich besonders bei der Betrachtung eines wichtigen Merkmals, mit dem die Delftse School in der frühen Geschichtsschreibung charakterisiert worden war: der Katholizismus. Die Glaubensrichtung des vermeintlichen Lehrmeisters war maßgebend für mancherlei Kritik. Die Delftse School und der vermeintliche nationalsozialistische Katholizismus Wie bereits deutlich geworden ist, war der Meinungskonflikt um die Delfter Schule stark ausgerichtet auf die Person Granpré Molière. Nach der Bekehrung des Delfter Professors zum Katholizismus in 1927 soll die Delfter Schule eine starke religiöse Komponente erhalten haben. 189 Eine Behauptung, die für die Frage einer (homogenen, abgrenzbaren) Architektengruppe und den Beweggründen der ersten Propaganda gegen die Delftse School von großer Bedeutung war. In den ausgehenden 1920er und 1930er Jahren schien der katholische Glauben des angeblichen Lehrmeisters noch kein Anstoß zur ausgebreiteten Kritik. In den versäulten Niederlanden der Nachkriegszeit schien dies aber plötzlich etwas auszumachen, und diente den Kritikern als Munition. Die erklärten Gegner der Delftse School - mit Vriend in der ersten Reihe - wollten vor einer `Machtübernahme des Katholizismus, verkörpert in dem Delfter Hochschullehrer Granpré Molière, warnen. 190 Dessen Lehre und Architektur wurde als Propagandaarchitektur des Katholizismus angeklagt. Dies habe jener auch selbst imitiert, kritisierte Vriend noch In dem Artikel `Het aandeel van de Delftse School (1953) 192 suggeriere Granpré Molière, dass der Widerstand gegen die Delfter Schule aus Angst vor dem stark wiederauflebenden Katholizismus herrühre. Auch Herman Knijtijzer, der in den 1930er Jahren unter Vriend in Amsterdam an der MTS Baukunde studiert hatte, kritisierte 1947 Granpré Molière und damit die so genannten Delfter Architekten. Die prominenten Figuren der Delfter Schule hätten kein Verständnis gehabt für die damalige religiöse Situation in den Niederlanden mit den stark vertretenden Glaubensrichtungen (Katholizismus und Protestantismus, d. h. Hervormd und Gereformeerd, und diverse Absplitterungen). Aufgrund des Überlegenheitsgefühls der Delfter Schule sei die Kritik an Granpré Molière und den Delfter Architekten deshalb aus der Sicht der Kritiker gerechtfertigt gewesen, so Knijtijzer Ebd. 189 Dieser Aspekt wird dadurch gestärkt, dass das 1929 eingerichtete R.K. Bouwblad als Sprachrohr der Traditionalisten fundierte und bis zum Zweiten Weltkrieg verlegt wurde. 190 Discussie Granpré Molière 1972, Vriend 1974, Granpré Molière , Vriend et al. 1947, Vgl. ferner auch Knijtijzer 1947 und Knijtijzer

63 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Wie bereits vorab erwähnt, gab es noch eine weitere Künstler-Architektengruppe rund um das Rooms Katholiek Bouwblad / Katholiek Bouwblad vor bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg, die von Pouls beschrieben wird. Ihr Standpunkt hinsichtlich architektonischer Fragen wird auch von dem Historiker Jan Peet als konservativ, totalitär und kämpferisch charakterisiert. 194 In seinem Artikel `De traditie van land en volk (1976) unterzieht Peet die Ideologie der Architektengruppe rund um das R.K. Bouwblad, dem Vorgängerblatt des Katholiek Bouwblad, einer genaueren Betrachtung. 195 Der Name Granpré Molière fällt hier in diesem Zusammenhang nicht. Dahingegen nimmt Peet die Geisteshaltung der so genannten RKB-Architekten (RKB = Rooms Katholiek Bouwblad) in Augenschein, die zahlreiche Kirchenbauten in den er Jahre errichteten, u.a. A. Kropholler, B. J. Koldewey, die Gebrüder E. und H. Kraayvanger und C. M. van Moorsel. Diese Architektengruppe und die damit verbundene Architekturauffassung muss jedoch getrennt gesehen werden von der so genannten Delfter Schule, da diese weder um die Delfter Hochschule noch deren Studenten(- ausbildung) kreist. Jedoch werden in der gängigen Darstellung die Tätigkeiten dieser beiden Gruppen in einen Topf geworfen, wie Fanelli es handhabte. 196 Es liegt die Vermutung nahe, dass von den Opponenten eine nicht wirklich existente Verwandtschaft zwischen dieser Architektur-Kunstideologie des RKB und der Architekturauffassung der Delfter Schule postuliert wurde. Als argumentativer Link zwischen diesen beiden diente allein die Figur Granpré Molière, der in beiden bzw. mehreren Kreisen verkehrte (Abb. 3). 197 Zurecht weist Pouls deshalb daraufhin, dass die Beurteilung der so genannten Delfter Schule umso komplexer wird, wenn man berücksichtigt, dass die Delfter Studenten von Granpré Molière nicht zur Kerngruppe der katholisch orientierten Künstlertreffen in Huybergen, und dementsprechend auch nicht zu den katholischen Autoren rund um das R.K. Bouwblad gehörten. 198 Sie (Berghoef, Vegter, Van Embden und H. und N. Van der Laan u.a.) formten die Gruppe des 1926 ins Leben gerufenen studentischen Arbeitskreises Bouwkundige Studie Kring (BSK). Vereinzelte Male wurden die Treffen der AKKV (Algemene Katholieke Kunstenaarsvereniging) in Huybergen von ihnen besucht, aber vielleicht auch bewusst gemieden, aufgrund der nicht geringen Anzahl protestantischer Mitglieder in dem Studentenkreis. 199 Jan de Heer beschrieb in seinem Artikel `De Delftse School en de Katholieke Architectuur tussen 1945 en 1955 (1981), dass die Repräsentativität der Delftse Architektur durch eine Verbindung mit religiösen, metphysischen und moralisierenden Texten funktioniere, d. h. eine Verknüpfung von architektonischen Elementen mit einer religiösen Ikonologie. 200 Damit wäre die Gruppe der Delftse School allein auf die katholischen Künstler und Architekten der Huybergen-Treffen zu begrenzen. 194 Peet 1976, Peet Fanelli 1981, An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass Granpré Molière bei den Namen der Redaktion bzw. der Mitarbeiter der Erstausgabe des R. K. Bouwblad aufgelistet ist. 198 Pouls 2001b, Pouls 2001b, De Heer 1981,

64 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Abb. 3 - M.J. Granpré Molière als Schlüsselfigur zwischen dem historiografischen Konstrukt der `Delftse School und den zwei institutionellen Gruppen rund um das Rooms Katholiek Bouwblad (RKB) und der Algemene Katholieke Kunstenaarsvereniging (AKKV), die alle Teil sind des Abstraktum Traditionalismus. Ferner können wir konstatieren, dass der von Granpré Molière ohne Zweifel stark propagierte und getätigte Katholizismus eine Besonderheit seiner Person und seiner persönlichen Überzeugung darstellte und keinesfalls auf die Mehrheit oder gar Gesamtheit seiner Schüler bezogen werden darf. 201 Auch laut Van Tijen sei Molière stets eine unentbehrliche Persönlichkeit gewesen für die niederländische Architektur. Die starken Einseitigkeiten im Denken Molières und dessen Standpunkte hätten aber in ihm selbst geruht und nicht im Katholizismus. 202 Diese katholischen Glaubensprinzipien konnten folglich in der historischen Realität kein grundlegender Bestandteil der so genannten Delfter Schule im Allgemeinen gewesen sein. 203 Auch in den Augen des Architekturpublizisten Ben Eerharts war die Delfter Schule stark liiert an ein katholisches Revival, was sie sehr gefühlig machte für Autorität und Hierarchie. 204 Kirchenbauten und Rathäuser durften deshalb gerne ihre gesellschaftliche Bedeutung unterstreichen und das einfache Wohnhaus sollte sowohl schlicht und untergeordnet sein als auch schützend angesichts der Familie als Basis des Zusammenlebens. Diesbezüglich passe, der Aussage Eerharts folgend, nicht nur der Begriff des Charakters sondern auch der Ehrlichkeit, besonders demonstriert im Materialgebrauch und der Konstruktion. Im Kontrast 201 Siehe bezüglich des persönlichen Engagement in dieser Richtung die Publikationen Granpré Molières und die Teilnahme an den Künstlertagen in Huijbergen : Pouls 2001a; Granpré Molière 1932; Granpré Molière Van Tijen 1972, Vgl. hierzu Buch 1997, 219ff. 204 Eerhart 1980,

65 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School zum `Nieuwe Bouwen legte diese Strömung den Fokus auf das regionaltypische und dafür war der Backstein ein ideales und geliebtes Baumaterial. Dies habe zu einer Orientierung an Altvaterländischen Bauformen und Details geführt. 205 Diese Ansicht zur so genannten Delftse School offenbart sich schließlich in den 1970ern, als es in der Architektenzeitschrift Plan zu einer ersten reflektierenden Betrachtung rund um die Namensgebung der Delftse School kam. Rückblickend auf die drei Jahrzehnte zuvor geschrieben diversen Publikationen und Stellungnahmen der Beteiligten zeigte sich, welchen Propagandawert der Begriff Delftse School und das Image der damit assoziierten Architektur erhalten hatte. Dieses plakatierte Etikett besaß im Nachhinein betrachtet unterschiedliche Ebenen hinsichtlich Inhalt und Beweggrund. So bekannte Vriend 1972 in Plan, dass er selbst mitschuldig war an der äußerst kritischen Annäherung an die Delfter Schule. 206 Sein Artikel über die `Diktatur der Delfter Schule war verständlicherweise in den Augen einiger zu spitzfindig verfasst gewesen. 207 Der Schulbegriff Delftse School als solcher bestand damals noch nicht, wurde aber durch ihn jedoch ab 1947 Gemeingut. Grund für die öffentliche Anprangerungen dieser Architekten und ihrer Arbeit war Vriends persönliche Abneigung gegenüber traditionalistischer Architektur. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war er für die Neue Sachlichkeit. 208 Seine Überlegungen und Abneigungen stützte er dann schließlich darauf, dass er Übereinstimmungen mit der Architekturentwicklung im nationalsozialistischen Deutschland der 1930er Jahre sah. 209 Der Architekt Oud hätte ihn da hinsichtlich der Besorgnis vor nationalsozialistischen Bewegungen bestärkt. Mit Verweis auf den Architekten Alexander Kropholler und den nationalsozialistischen, niederländischen Kunsthistoriker Frans Vermeulen prangerte Vriend an, dass die in Deutschland verbreitete Blut-und-Boden-Theorie in den Niederlanden zum Heimatschutzgedanken transferiert worden war. 210 Zwar verwies auch Van Tijen auf die Parallelen zu dem deutschen Architekten Paul Schmitthenner, mit dem manche niederländische Architekten im Kontakt standen, sah die Delfter Schule vor dem Krieg aber als Reaktion gegen die aufkommende Bedrohung des Nationalsozialismus. 211 Die Meinungen zum nationalsozialistischen Gehalt der Delftse School gingen folglich auseinander. Eine Delfter Architekturtheorie und -praxis? Wie sich gezeigt hat, spielt sich die Diskussion um eine Delftse School und die laute, öffentliche Kritik an den Traditionalisten im Kontext der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus ab. In der Sphäre des Neubeginns nach den einschneidenden Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs spitzte sich die Debatte um das `wie in der Architektur immer stärker zu. Dabei ging es bei den Wiederaufbautätigkeiten in erster Linie um eine materielle Aufgabe, bei der Architektur die Bedürfnisse der Gesellschaft wie Wohnraum, Arbeitswelt und eine funktionierende Infrastruktur so schnell möglich wieder erfüllen sollte. Zu den Bauaufgaben zählten somit der städtische Wiederaufbau, Wohnungsbau, öffentliche Institutionen wie Rathäuser und 205 Als Beispiel für die Kennzeichen der Delfter Schule nennt Eerhart die Wohnbauten von J. de Groot in Uithoorn. Eerhart 1980, Discussie Granpré Molière Vriend Vgl. Vriend 1959a. 209 Den Vergleich zur Gleichschaltungspolitik der deutschen Nationalsozialisten zog Vriend 1959 in: Vriend 1959b, Vgl. auch Vriends Gespräch mit Granpré Molière von Vriend Vriend 1974, Discussie Granpré Molière 1972,

66 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Administrationsbauten, Kirchenbau zur Unterbringung des religiösen Lebens, soziale Einrichtungen u.v.m. Die Verwendung neuer Techniken und Materialien in der Baupraxis passte dabei in das Bestreben nach einem schnellen und ökonomischen Wiederaufbau. Da jedoch auch die Bauindustrie erst langsam wieder in Gang kommen musste, ließ die Ausführung so mancher Projekte noch etwas auf sich warten. Darum zeichnen sich viele Bauten der direkten Nachkriegszeit durch die Verwendung der auszuführenden Technik und des verfügbaren Baumaterials aus. Bezüglich der Formgebung wurde dabei bei kleinen und mittelgroßen Projekten nicht viel experimentiert. Dafür war weder Zeit noch Raum. Außerdem war der Baubetrieb noch sehr handwerklich geprägt, d. h. Industrialisierung bestand nur in der Produktion von präfabrizierten Bauelementen wie Türen, Treppen und Rahmenwerk. Man verwendete darum flächendeckend bewährte Formen und Techniken, die selbstverständlich in Backstein und Holz am schnellsten aufzubauen waren. Was den Anhängern der Delfter Schule ebenfalls vorgeworfen wurde, war eine Abneigung der modernen Bautechniken und neuer Materialien, die sich in der Nachkriegszeit in eine durch die Umstände gezwungene Akzeptanz wandelte. 212 Wenn dies folglich ein Charakteristikum der so genannten traditionellen Delfter Architektur ist, müssten wir Übereinstimmungen hierzu in den Werken und Schriften Granpré Molières und seines unterstellten `Schülers Berghoef finden. Hierzu werden wir einen exemplarischen Vergleich im Kapitel zum Rathausbau heranziehen. Die kulturelle Bedeutung des Bauens Die Herangehensweise vieler Absolventen der Delfter Hochschule war gekennzeichnet durch den expliziten Wunsch, Architektur auch eine kulturelle Bedeutung zu verleihen. Dies kann zweifelsohne mit dem Inhalt ihrer Ausbildung zusammenhängen. Den Studenten wurde während des Studiums, u.a. durch Lehrveranstaltungen wie denen Granpré Molières, ein Bewusstsein für die Wechselwirkung von Architektur und Mensch nahe gebracht. Lehrinhalt war auf vielen Ebenen die kulturelle Bedeutung des Bauens. Im Sinne einer sozialen Identität nahmen sich viele der Architekten der so genannten Delfter Schule sowohl den einzelnen Menschen als auch den kulturellen Rahmen als Ausgangspunkt. 213 Dies ist aber ein Kennzeichen von regionalem und traditionellem Bauen im Allgemeinen, nicht nur der niederländischen Delfter Ingenieure. Denn Architektur als Expression einer kulturellen Identität geschieht immer über die Interpretation des Orts und der menschlichen Bedürfnisse. 214 Doch formte dies a priori die Architekturtheorie der so genannten Delfter Architekturschule? Von einer Architekturschule kann im Allgemeinen angenommen werden, dass sie eine kohärente Architekturauffassung oder einen theoretischen Standpunkt an die Anhänger der Schule vermittelt. Mit dem Antritt als Professor an der Technischen Hochschule in Delft, stellte Granpré Molière seine Aktivität als entwerfender Architekt zunehmend zurück. Aufgrund seiner langen Beschäftigung als Hochschullehrer ist sein gebautes Werk klein geblieben. Seine Texte und seine Lehre geben uns darum in erster Linie mehr Auskunft über seine Architekturauffassung, 212 Vgl. Blijstra 1960, Barbieri und van Duin 1999, Blomeyer und Tietze 1980, 17,

67 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School weniger über seine tatsächliche Baupraxis. Denn Granpré Molière war ein produktiver und eindringlicher Schreiber. Deshalb war es für viele nicht verwunderlich, dass er zum geistigen Vater der Delfter Schule wurde. 215 Genau für diese Vaterschaft sei Granpré Molière später, als das moderne Bauen akzeptiert wurde, auch immer verschmäht worden. Sein Werk sei mit starken moralischen Visionen (archaisch, ethisch und mittelalterlich) gefüllt gewesen, die man negativ auffassen könnte. 216 Doch wenn man seine Hauptprinzipien begreife, nämlich, dass es nicht nur um das Resultat ging, sondern auch um den Geist dahinter, d. h. die Intention, dann erkenne man den dahinter liegenden (religiösen) Geist. Deshalb seien Granpré Molières Ideen mit Sicherheit brauchbar gewesen für Menschen mit dem Wunsch nach einer Architektur, die das rein funktionale übersteigt, also auch Ausdruck kultureller Wert sei. Aufgrund seiner starken Überzeugung habe er alle Mittel (d. h. seine Überredungskraft) benutzte, um seine Ideen auf großer Weise zu verbreiten. Er wollte der aufkommenden `Diktatur des Nieuwe Bouwen entgegenwirken, doch dadurch sei die Delftse School selbst zu einer Diktatur geworden. 217 Doch wie soll dies funktioniert haben? In welchem Maße tauchen die theoretische Inhalte seiner Lehre auch bei seinen `Anhängern wieder auf? In erster Linie verfasste Granpré Molière Artikel und Aufsätze, die Vorträgen bzw. Lesungen entsprungen sind. 218 Hierunter finden sich viele Texte philosophischer und glaubensspezifischer Art, die meist nur zweitrangig architekturthematischen Bezug aufweisen. 219 Auch in den Titeln seiner Antritts- und Abschiedsvorlesungen lässt sich der geistige und immaterielle Inhalt seiner Architekturauffassung herauslesen: `Die moderne Baukunst und ihre Versprechen` (De moderne bouwkunst en hare beloften, 1924) und `Suchlicht auf die Architektur` (Zoeklicht op de architectuur, 1953). Mit dieser recht geringen Anzahl theoretischer Schriften soll Granpré Molière die Grundlage für eine Delfter Architekturschule gelegt haben. 220 Harmonische Verhältnisse zwischen Technik und Form waren für ihn dabei grundlegend. Wenn er also überhaupt auf theoretischer Ebene schulbildenden Einfluss auf einen Anhängerkreis gehabt haben soll (vgl. Theorie Freytags unter 2.), dann geschah das eher über seine Ästhetik-Seminare. In seiner Antrittsrede in Delft 1924 forderte Molière die `ewige Wahrheit in der Architektur: `Schönheit ist Wahrheit. 221 Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass in jeder Schul- und Ausbildungsform eine Prägung des Schülers stattfindet. Doch sind das Verstehen und die Identifikation mit einem vermittelten Lehrstoff direkt schulbildend? Wir würden jedem Schüler damit seine eigene Fähigkeit zur persönlichen Reflexion und Weiterentwicklung der vermittelten Kenntnis absprechen. Die Grenze von Homogenität und Heterogenität in einer Ausbildungsstätte ist folglich schwierig zu bestimmen. Unser Fallbeispiel Berghoef wird uns diesbezüglich im folgenden Kapitel Hinweise auf dessen Verhältnis zu Granpré Molière und die Verarbeitung des Lehrstoffs liefern. Eine breitere Analyse anderer Studenten Granpré Molières würde an dieser Stelle zu weit führen. Ein anderer Aspekt ist die Ausführung eines konzeptuellen Entwurfsprinzips als Charakteristikum einer Architekturschule. Der Architekt und Architekturhistoriker Giovanni 215 Hoogenberk 1980, So die Meinung des in Delft studierten Architekten Egbert J. Hoogenberk, siehe Hoogenberk 1980, Hoogenberk 1980, Eine Übersicht seiner Texte ist 1949 zusammengestellt, siehe Woorden en werken van Granpré Molière Granpré Molière Siehe hierzu die Ansicht von Fanelli 1981, Granpré Molière 1924,

68 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Fanelli beschrieb 1981, dass nach Ansicht der Traditionalisten die Fassade auch durch seine Form den innenliegenden Raum zum Ausdruck bringen sollte. 222 Doch ist der Ausdruck der Funktion in der Form auch ein wesentliches Leitmotiv modernistischer Architektur (form follows function). Folglich können wir diesbezüglich von einer Kongruenz in der Architekturintention der so genannten Traditionalisten und Modernisten sprechen. Denn wir dürfen auch nicht vergessen, dass auch bekannte Größen der so genannten modernistischen Architekturrichtung in Delft studiert haben. z. B. Johannes H. van den Broek, der 1924 an der Technischen Hochschule in Delft sein Ingenieursdiplom absolvierte. Auch er hatte das damals noch sehr akademisch geprägte Studium in Delft durchlaufen, das geprägt war von vielen Zeichenkursen und einer betonten Stillehre, vor der Zeit Granpré Molières. Delft war folglich nicht nur die Brutstätte einer Architekturrichtung, was uns die Literatur häufig glauben lässt. Es gab folglich auch noch `andere Delfter Absolventen. Van den Broek kam in der Nachkriegszeit an die Hochschule Delft zurück als Dozent, genauso wie Berghoef, der im selben Jahr sein Dozentenschaft antrat. Dies war den Bemühungen von dr. C.H. van der Leeuw, Förderer modernistischer Architektur und Unternehmer aus Rotterdam, zu verdanken, der 1946/47 die Stelle als Präsident-Kurator an der TH Delft übernahm. 223 Dank Van der Leeuws Hochschulpolitik bekamen z. B. Van Eesteren und Th. K. van Lohuizen ihr Professorat in Delft. Beide Vertreter der `gegensätzlichen Strömungen hatten somit ihre Förderer und kamen zum Zug. Dass es trotz der öffentlichen Anfeindungen gegen die Delftse School, doch zur fachlichen Zusammenarbeit kam, zeigt der Band Nederlandse Architectuur. Uitgevoerde werken van bouwkundige ingenieurs (1956). 224 Neben Friedhoff beschrieb Van den Broek hierin seine Einschätzung der Situation Mitte der 1950er. Dabei herrschte seiner Ansicht nach zum damaligen Zeitpunkt eine Durchdringung von traditioneller und moderner Architektur vor. Das traditionelle sei weniger dogmatisch geworden und habe die modernen Konstruktionsmethoden akzeptiert, während das moderne Bauen weniger konstruktivistisch geworden wäre. Neben der Funktion wurde dadurch die Behaglichkeit in der Architektur beibehalten. 225 Auch der Architekt Hans van der Laan äußerte 1972, dass er nach seiner Studienzeit in Delft ( ) zu dem Schluss gekommen sein, dass der Unterschied zwischen Delftse School und Nieuwe Bouwen eigentlich gar nicht so groß war. 226 Ein Standpunkt den Jan Kuiper auch 1981 in einem Brief an Berghoef betont, besonders hinsichtlich des Städtebaus. 227 Der Architekturkritiker Nic Tummers führte 1972 diesen Aspekt weiter aus: Die Vertreter des Nieuwe Bouwen und Granpré Molière standen dichter beieinander, als sie damals selbst dachten. Beide Richtungen legten ihren Schwerpunkt auf das gesellschaftliche Engagement und die Bedeutung von Architektur in diesem Kontext. Neben den sachlichen Überlegungen basiert die Architektur auf Demokratie, Gleichheit, Technik und neuem globalem Zusammenleben bei den Modernisten, bzw. die Vervollkommnung einer modernen Gesellschaft durch hierarchische 222 Fanelli 1981, Cornelis H. Van der Leeuw ( ) war ab 1917 Hauptdirektor der berühmten Van Nelle Fabrik und von 1946/47-60 Kurator an der TH Delft. 224 Friedhoff und Van den Broek Friedhoff und Van den Broek 1956, Discussie Granpré Molière 1972, Siehe Kuipers Stellungnahmen, Briefwechsel März BERX s158 (0575). 66

69 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Werte gemessen an menschlicher Ordnung seitens der Delfter Schule. 228 Dies bestätigte auch der Architekt Harm Dethmers in einem zwecks dieser Studie geführten Gespräch im Dezember Dethmers, der anfangs beim Büro Berghoef & Klarenbeek als Zeichner arbeitete, wechselte später zum Architekturbüro J. J. P. Oud. Dass die privaten und kollegialen Kontakte zwischen den so genannten Modernisten und Traditionalisten nicht so polarisierend und feindlich waren, wie die Literatur uns glauben lässt, zeigt sich u.a. in der Beziehung Berghoef und J. J. P. Oud. Oud war von jungen Jahren an ein Vorbild für Berghoef gewesen. Es war Berghoef, der bei der Verleihung des Ehrendoktors an Oud namens der Hochschule die Laudatio hielt. 229 Überdies waren regelmäßige, gegenseitige Besuche im Architekturbüro des anderen keine Seltenheit. Nach bisherigem Stand lässt sich der so genannten Delftse School keine nachweisliche, gemeinsame Architekturtheorie zuweisen, wodurch eine wesentliche Grundlage zur Definition einer Architekturschule im Grunde hinfällig wird. Meuwissen konstatierte 1982 in der Zeitschrift Plan, dass die Delftse School vermutlich nie eine konsistente Theorie aufbauen wollte. 230 Ihre Texte seien nie von einem bestimmten Standpunkt aus geschrieben worden, sondern seien nur Gelegenheitsaussprachen gewesen. Meuwissen vertrat die Meinung, dass es beinahe nicht notwendig sei, die Gebäude und deren Zustandekommen erläutern zu müssen, sie scheinen keine relevante Information zu vermitteln als konsistentes Werk des Architekten. Explizit die Idee, dass Architektur keine eigene Sprache und Konsistenz habe, verleihe der Delfter Schule ein größeres Anpassungsvermögen und eine größere Effizienz, vermerkt Meuwissen. Neben dem Fehlen einer echten Theorie sei dies der Grund für die verwahrloste Stellung der traditionellen Architektur in der Kritik der Kunstgeschichte. Die Delfter Schule bedurfte keines konsistenten Denkens, da sie ein Abbild der Gesellschaft sein wollte. An diesem Punkt muss auf den Denkfehler in dieser Konstatierung Meuwissens hingewiesen werden. Wenn der Delftse School keine zusammenhängenden, d. h. `konsistente Theorie nachgewiesen werden kann, dann können wir auch nicht von einer Schule sprechen. Ein wesentliches Merkmal für eine Architekturschule ist somit nicht erfüllt. Die Crux der Theoriefrage liegt letztlich darin, dass die traditionellen Architekten häufig nach den Maßstäben der Modernisten und nicht nach ihren eigenen Grundlagen beurteilt wurden. Diese war letztlich auch schwer zu definieren ohne gemeinsame oder gar ausformulierte Theorie. 231 Die Modernisten hingegen hatten bei den Treffen der CIAM ihre Standpunkte klar und deutlich zu Papier gebracht. Vergleiche verbleiben deshalb häufig oberflächlich oder greifen auf einzelne Beispiele zurück. Eine allgemeingültige Aussage über die Ansicht der Delfter Traditionalisten ist aufgrund mangelnder Kenntnis demzufolge nicht möglich. 228 Vgl. Tummers, In: Discussie Granpré Molière 1972; Berghoef Meuwissen An dieser Stelle betont Meuwissen, dass es von Van Tijen ein cleverer Schachzug gewesen sei Granpré Molière als Theoretikus zu ehren, um darüber den Architekten vergessen. Die Theorie sei schließlich unproduktiv auf der Fläche ihrer eigenen Entwicklung, eine Art Negativtheorie, die nur richtungsgebend war hinsichtlich Formgebung. Meuwissen 1982,

70 Kapitel 2 Der niederländische Traditionalismus und das Etikett der Delftse School Die Delftse School als anerkanntes Leitbild des Traditionalismus Nach der Betrachtung zur Entstehung des Begriffs Delftse School und der Entwicklung des Bildes der Delftse School, können nun einige Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Namensgebung dieser niederländischen Architekturströmung und des in der Öffentlichkeit introduzierten Bildes in der Historiografie ist ein Resultat modernistischer Antipropaganda der unmittelbaren Nachkriegszeit. Oud und Vriend sind hierbei als Namensgeber der so bezeichneten Delfter Schule zu sehen. Granpré Molière hat dies aufgegriffen und mit weiteren Bemerkungen angefüllt, denn der vorgeworfene schulbildende Charakter seiner Lehre wurde von ihm als Kompliment aufgefasst und scheinbar nicht als negativ empfunden. Doch die Modernisten machten in den öffentlichen Medien schlagwortartigen Gebrauch des Begriffs Schule, um einer Gruppe von Architekten einen bestimmten negativen Ruf nachzusagen. Das Resultat zeichnet sich dadurch aus, dass für die traditionalistische niederländische Architektur der Zwischen- und Nachkriegszeit ein eigener Nimbus geschaffen wurde. Ziel war eine Abgrenzung, respektive Distinktion dieser Architekten und der dazugehörigen Architektur; doch weniger von Seiten der Betroffenen, sondern von der so zu bezeichnenden Opposition. Die Architekturströmung, die unter dem Begriff der Delfter Schule in der Fachliteratur gefasst wird, ist demzufolge qua Bildformung zuallererst ein Produkt modernistischer Propaganda, das in der Nachkriegszeit gegen eine bestimmte Gruppierung von Architekten wettert. Durch diese Propaganda wurde der Delfter Schule ein mehrschichtiger Charakter von Nationalismus, Katholizismus und Antimodernität angehaftet, der an vielen Stellen unzutreffend ist. In der Folge ist die Delftse School ein rhetorisch historischer Begriff geworden, spiegelt jedoch keine historische Wirklichkeit einer homogenen Architektenschule wider, sondern die von den 1930er bis in die 1960er Jahre herrschende Polemik zwischen verschiedenen Protagonisten der Architektenwelt. Durch die mehrmalige und häufig unreflektierte Wiederholung der rhetorischen Beschreibungen der Delftse School hat der Terminus auf verdichtende Weise sein eigenes Leben und eine eigene Dynamik entwickelt. Die Pluralität der zahlreichen Absolventen der Technischen Hochschule Delft wurde dadurch jedoch verschleiert. Schlussendlich können wir konstatieren, dass es sich bei dem polemischen architekturhistorischen Bild des Traditionalismus (synonym Delftse School) und dem Modernismus (synonym Nieuwe Bouwen) um eine antithetische Konstruktion verschiedener Architekten handelt, die eine Lagerbildung verfolgten. Das von ihnen gegründete und mittels verschiedener Medien, wie dem Rooms Katholiek Bouwblad und de 8 en Opbouw, weiterentwickelte Schisma, machte die Delftse School zu einem anerkannten Mythos, der bis in die 1990er Jahre und teilweise darüber hinaus in der architekturhistorischen Literatur seine unreflektierte Erwähnung gefunden hat Als Beispiel kann hier Fanelli 1981 und Heuvel 1992 genannt werden, zum anderen Ibelings 2003 und Tuinhof

71 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur het bouwen is een royale daad, een manifestatie van menschelijken durf en menschelijk handelen, behoort dat althans te wezen. (Berghoef, 1938) 233 ` Een echte traditionalist Die historiografische Sicht auf Berghoef Die im vorangegangenen Kapitel erläuterte konventionelle Sicht auf den niederländischen Traditionalismus und die Delftse School ließ in der Architekturhistoriografie auch den Architekten Berghoef und sein Werk in einem vorherbestimmten Licht erscheinen. Im Allgemeinen findet der Architekt Berghoef mit Auszügen aus seinem Werk regelmäßig Erwähnung in der (Übersichts-)Literatur zu niederländischer Architektur des 20. Jahrhunderts. 234 Die Bekanntheit und Wertschätzung seines Werks basiert dabei auffälligerweise auf einer Wiederholung einer kleinen Auswahl bestimmter Bauten und Entwürfe. So treffen wir als Exemplifizierung seines Schaffens am häufigsten die Entwürfe zur Amsterdamer Rathauspreisfrage aus den 1930er Jahren, das Rathaus von Hengelo von 1963 und die Nemavo-Airey-Systembauwohnungen aus der Nachkriegszeit an. Die Wahrnehmung Berghoefs und die Einordnung als `echter Traditionalist, wie in Hans Ibelings Architecten in Nederland (2005) nachzulesen, begründet die Literatur hauptsächlich mit dieser eingeschränkten Auswahl an Bauten aus dem Werk des Architekten. 235 Der nachkriegszeitliche Wohnungsbau nach dem industriellen Präfabrikationssystem Nemavo Airey wird hierbei als notwendiger und gezwungener Exkurs in dem sonst traditionalistischen Repertoire Berghoefs begründet. Darüber hinaus wird Berghoef im Kontext der so genannten Delfter Schule als Schüler oder Lehrling Granpré Molières gehandhabt und in dieses bereits erläuterte historiografische Konstrukt der Delftse School eingeordnet. Hierdurch wird ihm direkt und indirekt eine starke Lehrerabhängigkeit unterstellt, wie in der kleinen Stadtgeschichte über Aalsmeer, herausgegeben von Autor Maarten J. t Hart (1992), nachzulesen: Er (Berghoef) setzt in Taten um, was sein Professor Granpré Molière in Worten lehrt[ ] 236 Diese Beziehung zwischen Berghoef und Granpré Molière muss zweifelsohne für unsere Analyse in Augenschein genommen werden. Aspekte der Zugehörigkeit und der persönlichen Sicht auf die `Delfter Schule werden hierbei in den Vordergrund gestellt. Die Arbeit Berghoefs wurde nicht erst in den letzten Jahrzehnten architekturgeschichtlich wahrgenommen, sondern auch schon zu Lebzeiten gewürdigt. So wurde er im April 1959 zum Ritter des Ordens des Niederländischen Löwen und im Dezember 1961 bei der Eröffnung des Aalsmeerer Rathauses zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Am 12. November 1982 empfing er gemeinsam mit seinen Kollegen Cornelis van Eesteren, Jan P. Kloos und Samuel van Embden den BNA Kubus als Auszeichnung für seinen architektonischen und städtebaulichen Beitrag 233 Berghoef 1938b, Um nur ein paar zu nennen: Friedhoff und Van den Broek 1956; Fanelli 1981; Mulder und Schilt 1993; Colenbrander 1993; Hulsman Ibelings 2005, Maarten J. 't Hart (red) ; Van Hooff et al ; Häufig wird auch die Teilnahme und der Gewinn Berghoefs und Vegters an der Rathauspreisfrage von Amsterdam angeführt, bei der Granpré Molière in der Jury saß. 69

72 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur am Wiederaufbau. 237 Darüber hinaus widmete sowohl Architekt Dick Kuin mit einer Ausstellung zu Berghoef in Aalsmeer 1991 als auch das niederländische Architekturinstitut Rotterdam (Het Nieuwe Instituut) in der Ausstellung De Stijl en norm in de Nederlandse architectuur 1993 dem Werk Berghoefs erste Aufmerksamkeit. Bernard Colenbrander, Architekturhistoriker und Autor des Ausstellungskatalogs, rief schon damals zu einer Neubewertung der `Traditionalisten wie Friedhoff und Berghoef auf, da diese aufgrund ihrer vermeintlich reaktionären Standpunkte falsch eingeordnet worden seien. 238 Berghoefs bereits standardisierter Kleinwohnungsbau der 1930er im Wieringermeerpolder und in Aalsmeer wurde hierzu von Colenbrander plakativ herangezogen. In gleichem Fahrwasser fuhren in den Jahren davor schon Ibelings und Baeten, die in ihren Publikationen ebenfalls eine Neubetrachtung der Traditionalisten forderten. 239 Zwei Artikel widmeten sich schließlich explizit der Person Berghoef: `Berghoef: een architect met schippersbloed von J. Krüger (1983) und `J. F. Berghoef Tussen traditie en vernieuwing von J. F. (Frans) Hondius (1994), gefolgt von einem Nachruf von Colenbrander nach dem Ableben Berghoefs Sowohl Krüger als auch Hondius stellen heraus, dass Berghoef die berühmte Einstellung des `Bauen ist dienen von Hendricus P. Berlage übernommen habe. Diese Bezugnahme ist ein geläufiges Phänomen in der niederländischen Architekturhistoriografie und hat durch die häufige Anwendung eigentlich an Bedeutung eingebüßt. Aus Bewunderung von Berlage wird so scheint es bei der Betrachtung architekturgeschichtlicher Literatur zum 20. Jahrhundert bei fast jeder möglichen Gelegenheit eine Verbindung zu diesem gefeierten niederländischen Baumeister gelegt, der die moderne Architektur in den Niederlanden introduziert haben soll. Doch aus Mangel an konkreten Beweisen einer besonderen Einflussnahme von Berlages Werk auf Berghoef, wird den Leser im Folgenden keine Untersuchung eines Berlage-Erbes erwarten. Krüger und Hondius beschreiben Berghoef ferner als Gegner der Denkbilder der CIAM, denn Berghoef fand hierin angeblich die biologische Seite des Wohnens zu stark in den Fokus genommen, zum Nachteil für die psychologische und kulturelle Funktion des Wohnungsbaus. Die technische Erneuerung hingegen hätte für Berghoef stets im Vordergrund gestanden, reflektiert Hondius weiter über seinen ehemaligen Partner. Praktische Anforderungen seien für ihn stets Maßgebend gewesen, sowohl in der Nutzbarkeit von Architektur als auch in der Bautechnik. Dabei sei für ihn die Qualität des Handwerks eng verbunden an die `Qualität des Daseins. 241 Die zahlreichen Bauten Berghoefs finden seit den 1930er Jahren in der wissenschaftlichen Literatur in der Regel Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit den verschiedenen baulichen und gesellschaftlichen Aspekten der Moderne und den Bauaufgaben Kirchenbau, Rathausbau, Bürobau, sozial-öffentliche Architektur, Wohnungsbau und städtischer Wiederaufbau. Für unsere Betrachtung des Architekten Berghoef, als so genannter `traditionalistischer Stellvertreter der niederländischen Architektur, interessieren uns seine Antworten und sein Umgang mit den verschiedenen Aspekten der Moderne. Wie im ersten 237 Bei dem BNA Kubus handelt es sich um die jährliche Auszeichnung, die der Arbeitsbund niederländischer Architekten (BNA) für das Werk eines oder mehrerer Architekten vergibt. Vgl. zur Auszeichnung 1982 auch Meuwissen Colenbrander 1993, 17, Ibelings 1988; Ibelings 2004; Baeten Krüger 1983; Hondius 1994; Colenbrander Hondius

73 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Kapitel bereits erläutert, musste sich modernes Architekturschaffen mit dem Gesellschaftswandel auseinandersetzen, der sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog. Besonders die Nachkriegszeit war geprägt von der vorangegangenen Kriegszerstörung, Fremdbesetzung, Befreiung und Nationaler Identitätssuche. Enorme Wohnungsnot, großformatige Wiederaufprojekte und die fortschreitende Entwicklung in den verschiedenen Bereichen des Lebens (u.a. Bevölkerungswachstum und Massengesellschaft, Versäulung, zunehmende Industrialisierung und Ausweitung der Technologie) forderten Lösungsvorschläge von den Architekten dieser Generation. Die führte zu einem enormen Bauboom um die Mitte des Jahrhunderts, einhergehend mit einer fortschreitenden Entwicklung neuer Baumaterialien und Techniken, sowie zunehmender Industrialisierung und Standardisierung in der Baupraxis. Neue Ideen und Konzepte hinsichtlich Raumprogramm und Formgebung gaben ausreichend Stoff zur Diskussion für alle, die sich daran beteiligen wollten. Johannes Fake Berghoef war einer dieser Protagonisten, die ihren Beitrag geliefert haben. Wer war Berghoef? Wie hat er sich gegenüber diesen Anforderungen und Entwicklungen positioniert? Wie dachte er selbst über die Delftse School, Granpré Molière und die Diskussion um Tradition und Moderne in der Architektur? Abb. 4 - Architekt Johannes Fake Berghoef ( ). Der Architekt Johannes Fake Berghoef Johannes Fake Berghoef (Abb. 4), für seine Familie und Freunde Jo, wurde am 14. Februar 1903 im niederländischen Aalsmeer als Sohn eines Textilhändlers und späteren städtischen Abgeordneten geboren. Nachdem er die Grundschule (Lagere School) in Aalsmeer beendet hatte, besuchte er die weiterführende Schule (HBS = Hogere Burger School) in Amsterdam. Im Sommer 1920 bekam er die Gelegenheit, um ein paar Jahre zuvor entstandenes Bauwerk von J. J. P. Oud bei einem Gartenbaubetrieb in Aalsmeer von innen zu betrachten. Enthusiastisch und beindruckt erzählte Berghoef kurz darauf seinem Onkel von diesem Bauwerk Ouds, worauf dieser ihn dazu anregte anstelle des geplanten Studiums zum Schiffbauingenieur vielleicht doch ein Architekturstudium zu erwägen. 242 Zu seinem darauf folgenden achtzehnten Geburtstag bekam Berghoef ein Exemplar von Hermann Muthesius Landhaus und Garten (1907) geschenkt, worin er sich nach eigener Beschreibung total verlor. Seine Entscheidung Architekt zu werden, war damit besiegelt. So begann er 1921 sein Studium zum bautechnischen Ingenieur 242 BERX s174 (0577). 71

74 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur an der Technischen Hochschule in Delft bei den Architekten Henri Evers, Jacob Klinkhamer und Hans van der Laan und erlangte 1925 sein Vordiplom (candidaatsdiploma) (Abb. 5). Schon während seines Studiums machte sich Berghoef als Architekt selbstständig, um praktische Erfahrungen zu sammeln, und festigte sich hierzu ab Mitte der 1920er Jahre in seinem Geburtsort Aalsmeer. Die zunehmenden Aufträge führten dazu, dass der junge Architekt die Weiterführung seines Studiums für viele Jahre zurückstellte. Einen offiziellen Abschluss besaß Berghoef demnach in dieser Zeit noch nicht. Auch ein Versuch sein Studium zwischendurch wieder aufzunehmen, scheiterte durch einen neuen Auftrag, der ihn nach Aalsmeer zurückrief: die Erweiterung der Blumen-Auktionshalle in Aalsmeer ( ) (Abb. 6, Abb. 7). 243 Diese Möglichkeit, den von Michel de Klerk 1922 entworfenen (und später von Jan F. Staal erweiterten Auktionsbau) zu vergrößern, ließ Berghoef sich nicht entgehen. 244 In Zusammenarbeit mit F. Moquette und Sam van Embden entwarf er diesen großformatigen Nutzbau, der unter Anwendung einer Holz-Beton-Fachwerkkonstruktion seine Formgebung der geforderten Raumaufteilung und Konstruktionsweise entlehnt. 245 So wurde beispielsweise durch die Aussparung der Wandsparren (im unteren Bereich), die reine notwendige Baumasse der Konstruktion demonstriert und eine optische Unterbrechung entlang der Außenwände vermieden (Abb. 7) wurde der erste von Berghoef entworfene Erweiterungsbau der Auktionshalle eröffnet, dem in den 1960er Jahren noch ein weiterer folgen sollten (Abb. 7). Abb. 5 J. F. Berghoef. Werkstück für das Examen Handzeichnen an der Technischen Hochschule Delft, Siebers 1931; Friedhoff Die Eröffnung mit dem Anbau Berghoefs (u.a. die hintere Halle) erfolgte im April Einige spätere Umbauten fanden 1963 und 1968 durch das Architekturbüro Berghoef Hondius & Lamers statt. Heute dient das Gebäude einer anderen (kommerziellen) Bestimmung. Für die technische Konstruktion der ersten Erweiterung siehe Schoemaker 1930, Veilingsgebouw Aalsmeer Schoemaker 1930,

75 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Abb. 6 - J. F. Berghoef, Auktionsgebäude der Blumenauktionsgesellschaft Centrale Aalsmeerse Veiling (C.A.V.), Aalsmeer, Erweiterung durch Berghoef (um 1930) im Hintergrund. Im Vordergrund der ursprüngliche Bau von Michel de Klerk, 1920er. Abb. 7 J. F.Berghoef. Dritte Halle der Bloemenlust, Auktionshaus Aalsmeer, Trotz dieses ersten großen Projekts hielt die gute Auftragslage nicht lange an. Die 1930er Jahre als auch die Besetzungszeit im Zweiten Weltkrieg waren magere Jahre für den Architektenbetrieb. Die Zeit wurde gefüllt mit kleinen Aufträgen, Entwurfsarbeiten und dem fachlichen Austausch auf den Doorner Lehrgängen, die auch in den Augen Berghoefs eine Verbrüderung der verschiedenen Architekten bedeutete trat Berghoef dem niederländischen Architektenbund (BNA) bei und konnte seinen Betrieb bis zum Herbst 1944 noch aufrechterhalten, bis die Kriegsumstände eine Niederlegung der Arbeit erzwangen. Die Zeit nach Kriegsende und der Befreiung des Landes im Mai 1945 begann für Berghoef mit einer Reihe umso größerer Projekte, darunter einige Rathäuser, Bürobauten, Wohnungsbau und der Wiederaufbau der Stadt Middelburg. Dies verlief stets parallel zu seiner Arbeit im Hochschulbetrieb. Denn Berghoef arbeitete neben seiner Tätigkeit als Architekt auch als Assistent an der TH Delft ( ) und als Dozent für den Cursus voor Voortgezet en Hoger Bouwkunstonderwijs an der Akademie für 73

76 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Baukunst Amsterdam ( ) 246, doch beendete er erst 1946 offiziell sein eigenes Studium mit dem Abschluss des bautechnischen Ingenieurs. Ein Jahr später trat er schon seine Stelle als Hochschullehrer für Formenlehre an der TH Delft an und führte dort seine Lehrtätigkeit bis 1969 aus. 247 Dies geschah entgegen der eigentlichen gesetzlichen Regelung parallel zu seiner praktischen Arbeit als Architekt, die Berghoef unter keinen Umständen aufgeben wollte. 248 Seine Antritts- und Abschiedsvorlesungen an der TH Delft standen unter den Titel: `Über die architektonische Form und seine Bedeutung (Over de architectonische vorm en zijn betekenis, 1947) und `Zwischen Fleckenplanung und Bebauung (Tussen vlekkenplan en bebouwing, 1969). Zahlreiche Notizen und Dokumente zu seinen Lehrveranstaltungen wie z. B. `Entwerfen für das erste bis dritte Studienjahr oder `Das Wohnhaus (1962/63) sind in seinem Nachlass bewahrt geblieben. 249 Zahlreiche Studienreisen mit seinen Studenten führten Berghoef auch in den Fünfziger und Sechziger Jahren nachi Italien und sogar Marokko. 250 Nach dem Abschied vom Delfter Hochschulbetrieb 1969 verzog Berghoef nach Middelburg, von wo aus er bis 1985, mit einem Lebensalter von 82 Jahren den Beruf des Architekten und baukundigen Beraters ausführte. Die Beschäftigung mit Architektur und Städtebau war für ihn, wie für viele andere seines Faches, eine lebenslange Berufung. Am 9. März 1994 verstarb er im hohen Alter von 91 Jahren in Kouderkerke, in der Nähe von Middelburg. Zusammenarbeit und Engagement Berghoef war ein Architekt des Austausches und der Zusammenarbeit. Während der ersten Jahre als Architekt arbeitete er in Aalsmeer zusammen mit seinen (Studien-)Kollegen Frédéric H. H. Moquette an Wohnhausprojekten und mit Samuel van Embden an den Entwürfen für das Blumen-Auktionshaus in Aalsmeer. In den 1930er entstand gemeinsam mit Johannes J. Vegter der Entwurf für den Wettbewerb zum Neubau des Amsterdamer Rathauses, ein Projekt, das sich bis zu Beginn der 1960er Jahre hinzog. Nachdem er anfänglich sein Architekturbüro noch unter alleinigem Namen führte, rief er 1949 sein erstes gemeinsames Architektenbüro mit Hein Klarenbeek ( ) ins Leben. Nachdem sich die Architekten Berghoef und Klarenbeek 1962 wieder getrennt hatten, übernahmen Jacobus Frans Hondius und J. Lamers ab 1963 die Partnerschaft im Architekturbüro. In dieser Konstellation arbeitete Berghoef bis zu seiner Pension Außerhalb seiner bürogebundenen Projekte war Berghoef zudem in vielerlei Hinsicht aktiv im Entwicklungsbereich der Architektur und des Städtebaus. Als Mitglied des niederländischen Architektenbundes BNA wirkte er im Ausbildungsrat und der Honorarkommission ( ). Ferner war er Mitglied in Verwaltungs- und Studiengruppen für den Wohnungsbau der Nachkriegszeit und Mitglied der schoonheidscommissie in Heemstede, Haarlem und Delft. Seine Einbringung als Supervisor bei verschiedenen 246 Zur ausführlichen Geschichte dieser Ausbildungseinrichtung siehe Wendt Berghoef war von Sekretär der Abteilung Baukunde der Technischen Hochschule in Delft und von Vorsitzender ebenda. 248 Dieses besondere `gentleman s agreement zwischen Ministerium und Dozent wurde auf eigenen Wunsch Berghoefs geschlossen. BERX s 174 (0577). Schon im Zeitraum hatte Berghoef als Mitglied einer Studienkommission zur Architektenausbildung, durch die BNA initiiert, in deren Abschlussbericht eine praxisgebundenere Ausbildung der Studenten gefordert wurde. Wendt 2008, 111, inkl. Anm. 9 und Siehe u.a. BERX s138, s (0573), s173 (0577). 250 Studiereis Marokko

77 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur städtebaulichen Projekten in Rotterdam und Amsterdam zeugen von seinem breiten Interesse an der Gestaltung des städtischen Raumes. Zu dieser räumlichen Gestaltung zählte Berghoef nicht nur das Architekturschaffen an sich, sondern auch das Fördern der Monumentalkunst bzw. der Zusammenführung von Baukunst und Bildender Kunst. Am Beispiel der Zusammenarbeit mit dem niederländischen Künstler Johannes (Jan) Gottfried Goeting ( Den Haag) wird dieser Aspekt an einer Reihe von Bauwerken aus dem Werk des Architekten beleuchtet, um die Art und das Ausmaß dieser künstlerischen Kooperation zu demonstrieren. Bei sieben Bauwerken Berghoefs verwirklichte Goeting die monumentale Kunst am Bau. Für die Pauluskirche in Den Haag (1954), dem Rathaus von Wieringermeer (1955) und der Hauptverwaltung der Heidemaatschappij in Arnheim (1962) fertigte er Sgraffitos und für die Provinciale Griffie in Middelburg (1960) eine Wandmalerei. Großformatige Mosaike des Künstlers sind dahingegen beim ANWB Gebäude in Den Haag (1960), der Markuskirche (1962) und beim Rathaus von Hengelo (1963) zu finden. Die Periode der Zusammenarbeit von Berghoef und Goeting ( ) zeigt exemplarisch den Zeitraum, in der die nachkriegszeitliche Monumentalkunst aufgrund staatlicher Förderung ein Hoch durchläuft. Die Kunst am Bau sollte dabei nicht nur dekorativ, sondern aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung auch erzieherisch wirken. 251 Insgesamt hinterließ Berghoef an vielen Orten in den Niederlanden seine architektonische Handschrift. Nach seinen ersten Bauaufträgen in Aalsmeer (Mitte der 1920er bis in die 1930er Jahre) tauchen in seinem Werkregister u.a. die Orte Amsterdam, Alphen a. Rhein, Beverwijk, Emmen, Hoofddorp, Middelburg, Noordwijk, Rhenen, Rotterdam, Uithuizen, Utrecht und der Wieringermeerpolder auf. Diese frühe Schaffensphase ( ) war hierbei stark geprägt vom Wohnungsbau. Ab 1945 kamen weitere Auftragsorte hinzu, die mit immer größeren Aufträgen verbunden waren: Alkmaar, Arnheim, Barchum, Breda, Den Haag, Groningen, Hengelo, Hilversum, Hoogeveen, Laren, Ouderkerk a.d. Amstel, Terheyde, Vlissingen, Wemeldinge und Westkapelle. Das Bauspektrum Berghoefs, der sich zu Beginn noch als Architekt für den kleineren Wohnungsbau und landwirtschaftlichen Betrieb (Ställe, Scheunen, Garagen, Gewächshäuser u.v.m.) rund um Aalsmeer auszeichnete, erweiterte sich mit dem geografischen Radius auf die Bauaufgaben Rathaus und Kirchenbau, Verwaltungs- bzw. Bürogebäude, Schulen und weitere soziale Einrichtungen. Über 830 Bauprojekte, von denen der Großteil Ausführung fand, sind den Architekturbüros Berghoef & Co. zuzuschreiben. Berghoef muss deshalb zu der Generation Architekten gerechnet werden, die sich in der Zwischenkriegszeit ihre Sporen verdienten und mit dem Wiederaufbau ihr Karrierehoch durchlebten. Diese Architektengeneration sah sich in der Nachkriegszeit mit anderen Anforderungen und Rahmenbedingungen konfrontiert als die modernen Architekten des beginnenden Jahrhunderts. Dadurch begründet sich ihre Architekturauffassung und Baupraxis auf einer anderen Grundlage und war geprägt von verschiedenen Gegebenheiten, denen wir hier am Beispiel des Architekten Berghoef nachgehen wollen. 251 Zeugnis der Diskussion rund um Kunst am Bau sind die zahlreichen Publikationen zu diesem Thema in den Fachzeitschriften Bouwkundig Weekblad, Forum, Katholiek Bouwblad und Kroniek voor Kunst en Kultuur zwischen Beispielhaft siehe Welten 1962; Redactie Ferner sei verwiesen auf Galema

78 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Berghoef und die `Delfter Schule Zu Beginn des vierten Studienjahrs (1924), dem dritten Teil des Abschlussverfahrens, hatte ich an einem Septembermorgen meinen Platz im Lesesaal wieder eingenommen, als der Vorsitzender des Instituts, Prof. Van der Steur, gekleidet in Jackett, mit einer auf den ersten Blick jungen, schmächtigen Person in korrektem grauen Straßenanzug hineinkam, ihn vorstellte an die Bibliothekarin und daraufhin durch den Saal führte. Der Besucher hatte unzweifelhaft etwas Französisches und ein leichtes Funkeln in seinen Augen verriet, dass er sich an der Situation erfreute. Als die Herren gegangen waren und ich die Bibliothekarin fragend anschaute, flüsterte sie über ihren Schreibtisch hinweg Das ist der neue Professor Granpré Molière. (Berghoef, 1981) 252 Granpré Molière und das Studium in Delft Die vorangegangene Beschreibung der ersten `Begegnung des jungen Berghoef mit Granpré Molière findet sich als Retrospektive in seiner bisher unveröffentlichten Autobiografie aus den 1980er Jahren. Damals wie heute kann der Amtsantritt eines neuen Professors für die Studenten von Bedeutung sein, da hiermit immer eine neue Lehrweise Einzug halten kann in das bestehende Institutsleben. So auch Granpré Molières Antritt als neuer Hochschullehrer am 22. Oktober 1924, den er mit einem Vortrag über `Die moderne Baukunst und ihre Versprechen (De moderne bouwkunst en hare beloften) begann. 253 Es handelte sich um eine `philosophisch gefärbte Evokation über die Schönheit des Faches. 254 Überdies umfasste die Rede eine ungewöhnliche lange Ansprache an die Studenten, und noch ungewöhnlicher für das konventionelle Procedere noch vor der obligatorischen Ansprache an die Autoritäten und Kollegen. Diese Art der Antrittsrede war ganz ohne Zweifel etwas Neues für die jungen Studenten; ein Bruch mit den konventionellen Regularitäten der Hochschultradition. Granpré Molière weckte hiermit schon zu Beginn seiner Lehrtätigkeit in Delft die Aufmerksamkeit der Studenten. Berghoef selbst hatte zum Zeitpunkt von Granpré Molières Erscheinen im Delfter Institut den größten Teil seines Studiums absolviert. Seine ersten Studienjahre hatten folglich ohne Granpré Molière stattgefunden. Im strengen Sinne können wir Granpré Molière deshalb nicht als Lehrer Berghoefs bezeichnen. Da Berghoef ferner keine Kurse mehr zu besuchen hatte, kam er mit dem neuen Professor anfänglich nicht in Kontakt. Erst bei einer der Prüfungen Berghoefs für das Examen bei Professor Henri Evers es handelte sich um den Entwurf für ein öffentliches Gebäude und einen mündlichen Test zur Architekturgeschichte war es Granpré Molière, der als Beisitzer der Prüfung fungierte. Wartend auf die Prüfungsergebnisse seines Vordiploms, unternahm Berghoef im Juni 1925 erstmals einen Besuch der von Granpré Molière, Verhagen und Kok entworfenen Siedlung Vreewijk in Rotterdam. Der stille Dorfcharakter, die Intimität und die milde Menschlichkeit dieser Wohnsiedlung, hinterließen bei dem jungen Studenten einen bleibenden Eindruck. 255 Anstatt sein Studium fortzusetzen, unternahm Berghoef im September 1925 eine Reise nach Frankreich, wo er sowohl Paris, mit der zu dem Zeitpunkt stattfindenden `Exposition Internationale des Arts Décoratifs, als auch Amiens, Chartres und 252 Übersetzung JM: Originalzitat siehe Autobiografie Berghoefs in BERX s174 (0577). 253 Granpré Molière BERX s174 (0577). 255 BERX s174 (0577). 76

79 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Rouen besuchte. Auf der Pariser Ausstellung sah Berghoef den Pavillon von Jan F. Staal, Zeichnungen von Ragnar Östbergs Rathaus in Stockholm, sowie den österreichischen Pavillon von Josef Hofmann. Mit Le Corbusiers Pavillon `De l Esprit Nouveau und dem Plan Voisin tat Berghoef sich nach eigener Aussage etwas schwer. 256 Besonders die Verwendung von Beton im Interieur bei den geplanten Maisonettewohnungen für den Plan Voisin, die neben dem Pavillon Le Corbusiers ausgestellt wurde, missfiel dem jungen Architekturstudenten. Die darauf folgenden Jahre waren für Berghoef geprägt von einem stetigen Wechsel zwischen der Tätigkeit als junger Architekt und Entwerfer in Aalsmeer und den regelmäßigen Aufenthalten in Delft zur Fortsetzung des Studiums. Wie bereits erwähnt, hatte Berghoef zum Zeitpunkt von Granpré Molières Antritt als Hochschullehrer an der Technischen Hochschule Delft (1924) sein Studium schon so gut wie abgeschlossen, entschied sich jedoch auf Anraten von Hans van der Laan noch zusätzlich den Kursen Granpré Molières zu folgen. Grund hierfür war u.a., dass Berghoef in der Lehre von Johan A. G. Van der Steur und Henri Evers im dritten und vierten Studienjahr eine intensivere Betreuung vermisste. Die Verarbeitung des Bauprogramms, die Struktur der Masse und räumliche Entwicklung, sowie die Fassadengestaltung wurde laut Berghoef nie explizit an den Entwürfen besprochen. Auch bei den anderen Studenten herrschte ein Bedürfnis nach stärkerem fachlichem und thematischem Austausch, über den eigentlichen Lehrstoff hinaus. Überdies war mit dem neuen Professor Granpré Molière ein frischer Wind in die Ausbildung in Delft gekommen, die sich von dem davor durch Evers praktizierten Akademismus in der Entwurfslehre unterschied. 257 Als einschlägige Neuerung galt die Einführung eines Bauprogramms, im Sinne eines Funktionsprogramms, das an die Stelle der akademischen Standardtypologien im Entwurfsprozess trat. 258 Darum hatte Berghoef bereits 1923 zusammen mit u.a. den Kommilitonen Van den Broek, Co Mulder, Henri Zwiers und Kees Hoeksema gemeinsame Diskussionsabende ins Leben gerufen. 259 Einmal soll es zu einer Diskussion gekommen sein, bei der Berghoef der Kommentar Van den Broeks zu einem Aalsmeerer Landhaus von De Klerk aus dem Jahr 1923 missfiel. Van den Broek, der gerade an seinem Abschlussprojekt (einem kubusartigen Wasserturm in Betonkonstruktion) arbeitete, kritisiert De Klerks Entwurf heftig. Berghoef hingegen konnte sich nicht für Van den Broeks Entwurf für einen Wasserturm erwärmen. Nach eigener Aussage in dieser Anekdote schätzte Berghoef zum damaligen Zeitpunkt sowohl die Architektur von Lloyd Wright, Lutyens, Dudok und der Amsterdamer Schule, war aber selbst mehr auf der Suche nach einer `einfachen, `zeitlosen und vor allem `menschenwürdigen Architektur. 260 In dieser Zeit war von Granpré Molière in Delft noch keine Sprache. Bezüglich der Ausbildung in Delft unterstreicht Berghoef ferner, dass die Lehre zum architektonischen Entwerfen auf traditioneller Formenlehre sei es dabei mehr auf historischen Formen als auf Traditionen und der Architekturkritik basierte. Letztere war diesbezüglich stark abhängig vom Geschmack des jeweiligen Dozenten. Granpré Molière schien nicht nur auf fachlichem Niveau, sondern auch auf geistiger und kultureller Ebene eine große Bedeutung für 256 BERX s174 (0577). 257 Siehe hierzu auch Colenbrander 1993, Colenbrander 1993, BERX s174 (0577). 260 BERX s174 (0577). 77

80 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur die Studenten gehabt zu haben. 261 Das Ästhetikseminar bei Granpré Molière half Berghoef sich zur Studentenzeit einen Weg durch das `Chaos der Begriffe Kultur, Kunst, Schönheit zu bahnen. 262 Als junger Student wurde scheinbar die Vielzahl an Richtungen und Möglichkeiten des Faches als unübersichtlich empfunden. Die wichtigste Studie Granpré Molières über die allgemeine und architektonische Ästhetik habe dabei ihren Ursprung im Studentenkreis gehabt. Das Werk seines ehemaligen Dozenten unterscheide sich von seinen Zeitgenossen durch eine allgemeine Gültigkeit, Einfachheit und Heiterkeit, betont Berghoef und verweist in diesem Kontext immer wieder gerne auf die Siedlung Vreewijk. 263 Auffallend fällt in diesem Zusammenhang nicht der Name Pieter Verhagen, dem letztendlich der Großverdienst der Siedlung Vreewijk zugeschrieben werden kann. 264 Die Referenz scheint nur in Richtung Granpré Molière zu gehen. In seinen (Lobes-)Reden über Granpré Molière beschreibt Berghoef 1947 und 1949, dass dessen Werk durch einen starken Sinn für das wesentlich Monumentale auszeichne. 265 Dabei habe Granpré Molière durch seine besondere Manier der Lehre und Kritik in Delft sicherlich `Schule gemacht. D. h. Granpré Molière habe seiner Lehre in Delft einen persönlichen Stempel aufgedrückt. 266 Doch wie weit ging diese Einflussnahme und das `Schule machen bezüglich Berghoef selbst? Die ersten Studienjahre unter Evers und Klinkhamer hatten den jungen Studenten bereits ein Stück weit geprägt, bevor ein intensiverer Kontakt mit Granpré Molière zustande kam. Berghoef berichtet diesbezüglich in seinem autobiografischen Nachlass von einer prägenden Begegnung mit Granpré Molière im weiteren Verlauf seines Studiums. Nach der Überreichung des Vordiploms (candidaatsdiploma) habe Granpré Molière ihn auf seinen Prüfungsentwurf angesprochen und dabei zu ihm gesagt: Ich glaube, dass unsere Arbeit verwandt ist. 267 Diese unerwartete Aussage machte Berghoef nach eigener Aussage als jungen Studenten im ersten Moment kleinlaut. Für uns manifestiert sich hier ein sehr wichtiger Aspekt bezüglich des Umgangs Granpré Molières mit den Studenten. Der neue Hochschullehrer unterstellt dem Studenten Berghoef eine Art Gleichgesinntheit in der Arbeitsweise, zudem wird Berghoef mit seiner Arbeit auf die Stufe eines Kollegen gestellt. War der erst kurze Zeit am Delfter Institut angestellte Professor auf der Suche nach Studenten, d. h. einer nachfolgenden Generation für seine Lehre? Im übertriebenen Sinne könnten wir daraus interpretieren, dass es sich um eine Art beginnende Hofhaltung, d. h. das Versammeln einer (studentischen) Entourage handelt. Gegenüber dem jungen Berghoef betont Granpré Molière in dieser Anekdote die Gemeinsamkeit in der Manier der Architekturgestaltung, die aus vergleichbaren persönlichen Ansichten heraus Parallelen aufweise. Dann sprechen wir von Gleichgesinnung, nicht von Schulbildung. Abgesehen von der Möglichkeit, dass Granpré Molière auf diese Weise versuchte, den jungen Berghoef charmierend einzunehmen, können wir in den zugrundeliegenden Auffassungen und der Ausführung von Architektur deutliche Unterschiede zwischen Berghoef und Granpré Molière feststellen (siehe hierfür genauer das Kapitel zum 261 Berghoef 1949, BERX s174 (0577). 263 Vgl. Berghoef Siehe hierzu ausführlich die Studie von Steenhuis 2007, Übersetzung JM: Vgl. Originalzitat Berghoef: Berghoef 1949, Berghoef 1947, Übersetzung JM: Vgl. Originalzitat aus Berghoefs Autobiografie: BERX s174 (0577). 78

81 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Rathausbau). Die Denkbilder Granpré Molières und die Architekturpraxis Berghoefs weisen nicht flächendeckend den von der bisherigen Historiografie unterstellten Verband auf. Berghoef selbst kam aus einem reformierten Elternhaus und wird deshalb in der Historiografie häufig als `hervormd architect (reformierter Architekt) bezeichnet. 268 Granpré Molière hingegen konvertierte zum Katholizismus. Dieser Konfessionswechsel hatte sicherlich Einfluss auf die Weltanschauung Granpré Molières, die sich auch in vielen seiner Texte wiederfindet. 269 Granpré Molière befand sich auf der Suche nach allgemeingültigen Regeln und einer auf einem katholisch-christlichen Weltbild basierenden ewigen Architektursprache. Anders ist dies bei Berghoef. Dieser ist in seiner publizistischen Tätigkeit nicht so dogmatisch wie Granpré Molière. Sein Artikel `Het onzienlijke in de bouwkunst stellt bezüglich seiner Thematik eine Besonderheit in seinen Veröffentlichungen dar. In keinem anderen Text wird von Berghoef in diesem Maße die Aufmerksamkeit auf die immaterielle Seite der Architektur gelenkt ganz im Kontrast zu Granpré Molière, dessen Texte durchgängig von einer expliziten geistigen, christlichen Note geprägt sind. In Berghoefs übrigen Texten wird keine derartige religiöse Komponente ausgedrückt. Doch zeigt sich in diesem speziellen Schriftstück die Polemik seines Denkens über Architektur. Auf der einen Seite stehen die Wertschätzung und das Interesse Berghoefs an einer Verbesserung modernen Baumaterials wie Stahlbeton, der von Granpré Molière abgelehnt wurde. Auf der anderen Seite legte er großen Wert auf die Persönlichkeit und die Psyche in der Architektur seiner Zeit. Es galt eine soziale und psychische Funktion von Architektur zu erfüllen. Mit anderen Worten: für ihn war die `Konsistenz der Architektur wichtig und nicht das rein historische Repertoire. Doch ist Berghoef im Unterschied zu Granpré Molières mit dessen sphärischen und abstrakten Texten viel Orts- und Objektsbezogener. Diese divergierende Herangehensweise an Architektur ist ein markanter Unterschied zwischen den beiden Architekten und offenbart sich uns in ihren schriftlichen Auseinandersetzungen mit Architektur. Granpré Molières schriftliche Zeugnisse, seien es Vortragsskripte oder veröffentlichte Aufsätze, behandeln in der Regel auf einer übergeordneten Ebene die verschiedenen Aspekte von Architektur, d. h. Gesellschaft, Religion, Technik u.v.m. Berghoef hingegen nähert sich dementgegen einem bestimmten architekturspezifischen oder städtebaulichen Aspekt mittels eines konkreten Baubeispiels. Der von Granpré Molière häufig angeführte `transzendente Moment in der Baukunst und die Begriffe Geist, Schöpfung und Stofflichkeit sind bei Berghoef nicht anzutreffen. 270 Während Granpré Molière die überkuppelnden, philosophischen Verbindungen zwischen Architektur, Kunst und Gesellschaft projiziert, geht Berghoef ins Detail und an die architektonische Substanz, d. h. die Baupraxis und das Gebaute an sich. Dies unterscheidet Berghoef und Granpré Molière sowohl in der Denkweise als auch in der Architekturpraxis voneinander. Was Granpré Molière als Dozent sicherlich leistete, war der jungen Studentengeneration Anstoß zu geben, über die eigenen Landesgrenzen hinaus zu schauen. So wurde Berghoef 1930 von Granpré Molière dazu ermutigt, eine Studienreise nach Italien zu unternehmen. Die 268 Siehe z. B. Kuipers 2002, Siehe hierzu Granpré Molière 1939 und Woorden en werken van Granpré Molière Siehe u. a. Granpré Molières Vortrag `Over het wezen van de stedebouw (1921) und `Bouwen wij aan de gemeenschap van hoogeschool en maatschappij (1949) in Woorden en werken van Granpré Molière 1949, 12-21, ; sowie seinen Beitrag in Granpré Molière 1941,

82 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Eindrücke dieser Reise äußern sich in seinem Nachlass in bewundernden und faszinierten Berichten über die italienische Architektur und städtebauliche Situation italienischer Städte wie Venedig, Verona, Mailand, Bologna, Florenz und Siena, die wir in den autobiographischen Notizen und Reisezeichnungen Berghoefs zurücklesen können (Abb. 9, Abb. 9, Abb. 10). 271 Die Sympathie und Faszination Berghoefs für die italienische Architekturlandschaft hielt sein Leben lang. Nach seiner Rückkehr in die Niederlande besuchte der junge Architekt vielen Projektarbeiten zum Trotz weiterhin die Veranstaltungen von Granpré Molière zur Ästhetik, Entwerfen und Städtebau und assistierte bei den Entwürfen der Studenten. Dabei sprachen ihn die konkreten Einsichten Granpré Molières bezüglich des Entwerfens sehr an. Granpré Molières ermutigende Ratschläge und die Art der Betreuung waren für Berghoef die `Höhepunkte in dessen Dozentenschaft, so dass er ihn als vortrefflichen Dozent beurteilte. 272 Als wichtigste Tugenden der zwischenmenschlichen Beziehungen habe er den Studenten stets Respekt, Freundschaft und Treue vorgehalten. Das Verhältnis zwischen Berghoef und Granpré Molière war stets ein positives und freundschaftliches. 273 Besonders als sich es sich ab 1947 mit der Anstellung Berghoefs zum Hochschullehrer an der Technischen Hochschule Delft zu einem kollegialen Verhältnis weiterentwickelte. Aus seiner Festrede zum 25-jährigen Jubiläum Granpré Molières als Hochschullehrer in Delft im Jahr 1949 spricht daher die volle Anerkennung und Bewunderung, die Berghoef für Granpré Molière empfand. 274 Doch während Granpré als großer Ideologe bezeichnet werden kann, wusste Berghoef die theoretischen Ansichten modernen Bauens mit den aktuellen gesellschaftlichen Auffassungen zu verbinden und in die Praxis umzusetzen. 275 Abb. 8 J. F. Berghoef. Reisskizzen, Siena (links) und Kirche von Torcello (rechts), Siehe u.a. BERX s174, f BERX s174 (0577). 273 Es fanden regelmäßige Besuche im Hause des anderen statt. Siehe hierzu u.a. BERX s174 (0577). 274 Berghoef Vgl. hierzu ebenfalls die Ansichten Colenbranders: Colenbrander 1993, 71 inklusive Fußnote

83 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Abb. 9 J. F. Berghoef. Zeichnung für Jelle, aus Venedig, Abb. 10 J. F. Berghoef Venedig. Kohlezeichnung, Der eigene Weg Berghoefs Kritik an dem Konstrukt der Delftse School Die vorab beschriebene Wertschätzung Granpré Molières bedeutete für Berghoef keinesfalls eine einseitige Orientierung, sondern das Suchen eines `eigenen Wegs in der Welt der Baukunst seiner Zeit. In seiner ausführlicheren Beschäftigung mit der Charakterisierung der Delftse School in den 1980er äußerte Berghoef schließlich deutliche Kritik an der inhaltlichen Darstellung der Delftse School. Die Andeutungen und Zuschreibungen an die `Delfter Schule 81

84 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur hätten mit der Arbeit Granpré Molières nichts zu tun gehabt. 276 Die mit Naturstein gespickten Backsteinbauten seien nach dem Krieg in jedem Fall entstanden, denn sie vergegenwärtigten den damaligen Drang nach Erhalt und Behaglichkeit. Als wahres Kennzeichen einer `Delfter Schule, wenn man denn davon sprechen wolle, nennt Berghoef das angemessene Annähern an die Formgebung. Leider geht Berghoef diesbezüglich nicht weiter ins Detail. Granpré Molière habe es jedoch geschafft, dass die Delfter Architekten eine gemeinsame Sprache sprechen würden. Durch ihn seien sie konfrontiert worden mit den gesellschaftlichen und psychologischen Problemen um die architektonischen und städtebaulichen Erscheinungsformen. 277 Der Einfluss Granpré Molières auf die Studenten hing diesbezüglich mit seiner besonderen Persönlichkeit zusammen. So habe Molière wie kaum ein anderer Dozent es verstanden, den Horizont zu erweitern. 278 Gegenüber seinem Freund, dem modernistischen Architekten Jan Piet Kloos, machte Berghoef zu Beginn der 1980er Jahre deutlich, dass er trotz der persönlichen Kontakte und den Einfluss, den Granpré Molière als damaliger Dozent und späterer Kollege in Delft auf ihn ausgeübt habe, stets seinen eigenen Weg gegangen sei. 279 Warum betont ein Architekt mit einem so großen schriftlichen und architektonischen Werk diesen Aspekt am Ende seiner Karriere? Das architekturhistoriografische Konstrukt der Delftse School machte es scheinbar auch im Nachhinein notwendig, dass sich die zugeschriebenen Protagonisten wie Berghoef gezwungen sahen, doch noch Stellung zu beziehen. Ihr Werk schien für die Historiografie nicht für sich selbst zu sprechen. Stellt sich deshalb die Frage, wie Berghoef persönlich auf die Polemik reagierte, die die zeitgenössische und spätere Geschichtsschreibung der Architekturentwicklung nach vorn gebracht hatte. Verteidigte er diese, lehnte er sie ab oder nahm er eine versöhnende Zwischenposition ein? Sein Bild von der `Delftse School offenbart sich in einigen privaten Korrespondenzen mit befreundeten Kollegen. Berghoef im Austausch mit Jan P. Kloos und Samuel J. van Embden Die im Nachlass des Architekten Berghoef befindlichen Notizen zu seiner letztlich unveröffentlichten Autobiographie geben Aufschluss darüber, wie Berghoef nach einer langen Architektentätigkeit auf die so genannte Delfter Schule, seine Lehrzeit an der Technischen Universität Delft und Granpré Molière zurückblickte. 280 Den Anstoß für das Verfassen einer Autobiographie gab ein Telefongespräch über niederländische Architektur und Architekturströmungen des 20. Jahrhunderts mit Jan Piet Kloos zu Beginn des Jahres Hierbei bezeichnete Kloos seinen Freund Berghoef als `einen typischen Vertreter der Delftse School : mehr oder weniger der letzte Mohikaner. 281 Berghoef schreibt darauf, dass sie damit Quitt waren, denn er selbst sähe Kloos auch als letzten Überlebenden der unverfälschten Neusachlichen. 282 Im freundschaftlichen Austausch sah man sich folglich als Vertreter zweier 276 Berghoef 1947, Berghoef 1949, Vgl. Berghoef 1958, 514. Auch Alexander Friedhoff vertrat die Meinung, dass die Dozenten in Delft Anleitung zur Entwicklung der persönlichen Talente gaben, ohne jedoch ihren Stempel auf die `ungeformte Masse zu drücken. Dadurch seien in Delft stets `progressive und `konservative Architekten hervorgegangen. Friedhoff und Van den Broek 1956, BERX s174 (0577). Zur architekturtheoretischen Auffassung J. P. Kloos siehe Kloos BERX s174 (0577). 281 Übersetzung JM: Vgl. Originalzitat in BERX s174 (0577). 282 BERX s174 (0577). 82

85 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur unterschiedlicher Richtungen in der Architektur. Doch hielt man wirklich an diesem starren Bild der Zweiteilung fest? Waren die beiden Architekten selbst Opfer der Geschichtsschreibung geworden? Der humoristische Ton, in dem Berghoef diese Anekdote des Gesprächs wiedergibt, lehrt uns besseres. Außerdem war dies für Berghoef ein Anstoß um über die eigene Zugehörigkeit zur Delfter Schule zu reflektieren. Dies zeigt sich in einem anderen Briefwechsel mit Architekt Samuel J. van Embden ein Jahr später. Van Embden schreibt in einem Brief an Berghoef, dass es bei der Beantwortung der Zugehörigkeitsfrage in erster Linie darum ginge, wie man die Delftse School definieren wolle. Anhand der von Granpré Molière vorgetragenen Gedanken, Ideen und Empfehlungen oder der tatsächlich realisierten Architektur? 283 Ferner betont Van Embden, dass sich Berghoef eher als Macher und weniger als Theoretiker gezeigt hat, weshalb es ihn nicht verwundert, dass Berghoef sich selbst nie als Exponent der Delftse School gesehen hat. Laut Van Embden besaßen schon die frühen Werke Berghoefs in Aalsmeer einen Charakter, der Molière ansprechen musste. Wenn man [ ] dich als typischen Vertreter der D.S. [Delftse School] sieht, dann ist das nur deshalb, weil sich die D.S. selbst deutlich in deinen Arbeiten wiedererkennt, schreibt Van Embden Demzufolge wurde Berghoef mit seinem Werk nicht ohne weiteres als ein Resultat der architektonischen Auffassung und der Lehre Granpré Molières an der Delfter Hochschule angesehen. Es folgt hier die Frage nach dem Zirkelschluss: War Berghoef ein typischer Vertreter der `Delftse School und folgte seine Architektur deshalb ihren `Prinzipien? Oder lässt sich deren Inhalt aufgrund paralleler Aspekte zu Granpré Molières Lehre in seinem Werk wiederfinden und wird daraufhin im Nachhinein als Charakteristikum der Architektur der Delfter Schule klassifiziert? Nach den bereits gemachten Beobachtungen rund um das Phänomen Delftse School, tendiert die Antwort zu letzterem, da wir aufgrund mangelnder Grundlage über keine deutliche Definition der Delftse School und einer architekturtheoretischen Unterbauung verfügen. Das Gespräch mit Kloos und die darauffolgende Korrespondenz bewogen Berghoef schließlich dazu, sich ausführlicher mit dem Phänomen der Delftse School zu beschäftigen. In seinen Notizen schlussfolgert Berghoef, dass die Delfter Schule in den Nachkriegsjahren bei den `modernistischen Kollegen und den Architekturkritikern den Kopf habe hinhalten müssen. Berghoef selbst sah zu jener Zeit weder die Notwendigkeit noch sah er sich berechtigt, sich in die Diskussion einzubringen. In seinen Memoiren schreibt der Architekt 1981 letztlich folgendes zur modernistischen Charakterisierung der Delftse School : Was der Delftse School zur Last gelegt wurde, war, dass sie traditionell und antiprogressiv sei: in Formgebung, Bautechnik und Materialwahl, sowohl mental als auch politisch-ideologisch. Letzteres lief zuweilen auf die Verdächtigung hinaus, dass die Delftse School `falsch [gewesen] sein soll; doch auch ohne dies war es schon ein Haufen von Vorwürfen. 285 Berghoef selbst konstatiert außerdem, dass es sehr schwierig sei, die Tendenzen der eigenen Zeit wirklich zu überschauen und richtig zu deuten, weil man eigentlich noch zu dicht 283 Brief Van Embden an Berghoef, 15. Januar BERX s158 (0575). 284 Übersetzung JM: Vgl. Originalzitat in Brief Van Embden an Berghoef, 15. Januar BERX s158 (0575). 285 Übersetzung JM: Vgl. Originalzitat in BERX s174 (0577). 83

86 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur dabei sei. 286 Schlussfolgernd zeigen diese Korrespondenzen, dass Berghoef das historischliterarische Konstrukt der Delftse School in seine Reflektion zur Architektur des 20. Jahrhunderts einbezog, jedoch bezüglich der vorgeworfenen Inhalte und auch der eigentlichen Definition nicht zustimmte. Außerdem sah er sich selbst nicht als Vertreter der Delftse School. Die oben gemachten Beobachtungen erlauben uns nun diverse Schlussfolgerungen, um das Verhältnis von Berghoef zur so genannten Delfter Schule und Granpré Molière zu definieren. Auffallend ist, dass sich Berghoef in der direkten Nachkriegszeit nicht in die Debatte um die Delfter Schule einbrachte und keine Stellung zu den Vorwürfen bzw. Äußerungen der verschiedenen Protagonisten einnahm. Erst im fortgeschrittenen Alter tauchen in der privaten Korrespondenz mit Architektenkollegen retrospektive Einschätzungen der so genannten Delftse School auf. Berghoef sah die Diskussion um die Delftse School recht kritisch und stufte diese auch als ein im Nachhinein formuliertes ideologisches Konstrukt ein, das dazu diente die Traditionalisten nach 1945 zurück zu drängen. Da wir nicht wirklich festmachen können, was die angebliche Delfter Schule im Kern wirklich gewesen sein könnte, gestaltet sich die Einstufung Berghoefs als Produkt bzw. Repräsentant dieser Schule ebenfalls schwierig und muss deshalb zurückgestellt werden. Als äußerst aufschlussreich für die Charakterisierung des Architekten Berghoef zeigt sich die Analyse des Schüler-Lehrer-Verhältnisses zwischen Berghoef und Granpré Molière. Die Bewunderung Berghoefs für seinen Dozenten Granpré Molière ist offensichtlich. Dieser hat an verschiedenen Punkten mit Sicherheit auch seine Architekturauffassung mitgeprägt. Doch darf einem Architekten dadurch das Entwickeln einer eigenständigen Position nicht abgesprochen werden. Die in der historiografischen Literatur der Delfter Schule zugeschriebene Architektur ist heterogen und vielschichtig, und Berghoef hat hierin mit seiner Architekturpraxis eine eigene Position bezogen. Er kann im eigentlichen Sinne des Wortes nicht als `Lehrling von Granpré Molière gesehen werden, weil er den Großteil seines Studiums bereits abgeschlossen hatte als Granpré Molière als Dozent in Delft anfing. Nur ein Teil seines Studiums war von Granpré Molières Lehre geprägt worden. Überdies verfolgte er eine andere Arbeitsweise und brachte ein viel breiteres Œuvre zustande als Granpré Molière, der während seiner Lehrtätigkeit an der TH Delft kaum noch aktiv war im Entwerfen und Planen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Architekten Berghoef und Granpré Molière zeigt sich in den verschiedenen Ansichten über den Gebrauch moderner Baumaterialien und der Anwendung neuester Bautechnik. Berghoef ist bezüglich der technischen Entwicklung als offener und innovationsfreudiger einzustufen. 287 Ferner findet sich im Werk Berghoefs nicht die auffallend religiös geprägte Architektur- und 286 Die retrospektive Betrachtung auf die Entstehung der `Delfter Schule zeigt sich ferner auch in der Korrespondenz zwischen Berghoef und dem Architekten Jan Kuiper in Berghoef erhielt von Kuiper einige Stellungnahmen betreffend das Verhältnis Delftse School und Nieuwe Bouwen. Als ersten Punkt führt Kuiper nachdrücklich an, dass die Diskussion über Mensch und Maschine in den er Jahren zu einer Gegenüberstellung führte aufgrund divergierender Standpunkte bezüglich des Effekts der Maschine auf den sie bedienenden Menschen. Die Theorie des Nieuwe Bouwen sei dabei zu sehr auf einen naiven Optimismus und ein eindimensionales Menschenbild basiert gewesen. Die neue Formgebung des Nieuwe Bouwen war weniger funktional als man eigentlich vorgab und entsprang ebenfalls einem ausgesprochenen Formwillen. Brief von J. Kuiper, März BERX s158 (0575). 287 Die Unterbauung dieses Aspekts ist zu finden in Teil 2 (Rathausbau und Berghoefs Rolle in der Entwicklung des nachkriegszeitlichen Wohnungsbaus). 84

87 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Weltanschauung, wie sie sich bei Granpré Molière in Schrift und Werk offenbart. Weder in Berghoefs Werk noch in seinen Schriften oder seinem Nachlass finden sich Hinweise auf einen solchen `Katholizismus oder starke Glaubensprägung, wie sie durch Vriend für die Delfter Schule unterstellt wurde. 288 Berghoefs Denkbilder über Architektur und Gesellschaft Wie die vorrangegangende Analyse gezeigt hat, wurde Berghoef in der bisherigen Architekturhistoriografie auf einer unzureichenden und begrenzten Kenntnis von Person und Werk in das bestehende polarisierte Bild von Traditionalismus und Modernismus in der Architektur eingeordnet. Was uns darum in diesem ersten Versuch einer Annäherung an seine Person und Werk interessiert, ist der Umgang dieses Architekten mit den Anforderungen der Moderne: den gesellschaftlichen Prozessen der Zwischen- und Nachkriegszeit, dazwischen die Fremdbesetzung und die nationale Identitätssuche, die Befriedigung der Wohnungsnot und die (neuen) Bauaufgaben, mit denen im Verlauf des 20. Jahrhunderts neu entwickelte Materialien und Bautechniken einhergehen. Wie dachte Berghoef über Moral, Modernität und Charakter von Architektur, die von den bekannten Modernisten propagiert wurde? Und welche Stellung bezog er hinsichtlich der Rolle von Architektur als Kulturproduzent? Ferner stellt sich die Frage, die unser heutiges Denkbild von moderner und traditioneller Architektur besonders geprägt hat: welche Rolle spielten Kontinuität und Erneuerung als bestimmende Aspekte der Diskussion um Tradition und Moderne in der Architektur bei Berghoef? Handelte es sich hierbei wirklich um eine unvereinbare Polemik? Aspekte der Funktion, Formgebung, Integration und Distinktion, d. h. der Anpassung oder des Absetzens von der Umgebung des Baukörpers, spielen in diese Frage mit hinein. Dabei wollen wir uns gezielt von der unterstellten tabula rasa der Modernisten distanzieren und die Anforderungen der Moderne aus Sicht des Architekten Berghoef betrachten. Hierzu widmen wir uns im Folgenden auf theoretischer Ebene den architektonischen Schaffensprinzipien (Entwurfsprinzipien) Berghoefs, d. h. seinem Verständnis von Architektur und dem Umgang mit Material, Technik und Bauprogramm. Anhand seines schriftlichen Nachlasses können wir ein Bild davon bekommen, wie er als vermeintlich traditionalistischer Architekt über die verschiedenen Aspekte von (moderner und traditioneller) Architektur dachte. Die Themen Gesellschaft und Zusammenleben, Funktionalität und Technik, Kontinuität und Erneuerung spielten hierbei für ihn eine wichtige Rolle. Da Berghoef nie ein theoretisches Basiswerk verfasst hat, wird hierfür auf eine Reihe publizierter und privater Dokumente zurückgegriffen. Diese werden für diese Untersuchung als programmatische Texte für seine eigene theoretische Herangehensweise an Architektur behandelt. Von den 1930er bis in die 1980er publizierte Berghoef regelmäßig kleine Artikel zu bestimmten Themen wie Bautechnik, Architektur und Gesellschaft, Städtebau oder zu seiner eigenen Arbeit in Architekturzeitschriften (z. B. Forum, Bouwkundig Weekblad, Bouw, De Ingenieur) und bei anderen Herausgebern. Bei der Beschreibung des eigenen Werks argumentierte er mittels gesellschaftsdienlichen und nutzerbezogenen Aspekten aus der eigenen Arbeit heraus. Häufig begleitet von einer historischen Reflektion, um die eigenen architektonische Tätigkeit und 288 Siehe wiederum Kapitel 2 zur Delfter Schule. 85

88 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Arbeitsweise zu begründen. 289 Dies scheint einer der Gründe zu sein, warum Berghoef in der Architekturhistoriografie als Traditionalist eingestuft wird. Seine Beweggründe hierzu werden deshalb im Verlauf dieser Arbeit untersucht. Obendrein schrieb Berghoef auch über ausländische, besonders skandinavische und italienische Architektur wie das Nationalmuseum in Kopenhagen oder die historische Platzarchitektur von Vigevano. 290 Auch die Beurteilung von Restaurationsarbeiten fiel in seinen Interessensbereich, wobei uns Fragen bezüglich seiner Sicht der Art der Wiederherstellung interessieren mögen. 291 Die zahlreichen Publikationen Berghoefs zeigen im Gesamtbild, dass er nicht nur die praktische und die theoretische Arbeit des Architekten miteinander verband, sondern auch Praxis und Lehre miteinander kombinierte. So übernahm er in Delft nach dem Abschied Granpré Molières 1953 das Seminar Het woonhuis (Das Wohnhaus) im zweiten Studienjahr und weitete dies auf das Thema `Wohnumgebung aus. 292 Die Ausweitung des Kursthemas durch die breitere gesellschaftliche Kontextualisierung der Bauaufgabe ist hierbei exemplarisch für das Architekturverständnis Berghoefs. Ein Baukörper stand für ihn niemals losgelöst von seiner Umgebung. Die breitere sozialgerichtete Kontextualisierung von Architektur ist für Berghoef kennzeichnend. Das andere von ihm geleitete Seminar war `(architektonisches) Entwerfen im ersten bis dritten Jahrgang. Hier zeigt sich der praxisbezogene Ansatz, den Berghoef in seiner Lehre verfolgte. So verwendete er für die Proportions- und Maßlehre nicht nur mittelalterliche Vorbilder des Goldenen Schnitts, den Modulor von Le Corbusier und die architektonische Verhältnislehre des Priester-Architekten Dom Hans van der Laan als theoretische Beispiele, sondern auch direkte Beispiele von Raumhöhen aus dem Institut und Universitätsumfeld der Studenten. 293 Daneben begleitete er auch viele Zeichenseminare und Entwurfsübungen für die Studenten, bot im eigenen Architekturbüro Praktika an und organisierte in den 1950er und 1960er Jahren Studienreisen und Exkursionen nach Italien und Skandinavien. Diese Reiseziele hatten ihren Ursprung in der eigenen Prägung und dem persönlichen Interesse Berghoefs, das er seinen Studenten vermitteln wollte. Letztlich war dies nichts weniger als die Vermittlung dessen, was Berghoef selbst unter Architektur verstand. Architektur fungierte als Gestaltungsmittel für den Lebensraum des Menschen. 294 Architektur als Spiegel der Gesellschaft Berghoef betrachtete Bauen 1938 als eine royale Tat, eine Manifestation von menschlichem Mut und menschlichem Handeln. 295 Für ihn formte moderne Architektur den Kader der menschlichen Gemeinschaft, und er bewertete sie als wichtigen Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Da Architektur im Dienste der Gesellschaft stehe, d. h. ihr 289 Besonders deutlich wird dies in den Büchern zum Stadthaus Hengelo (O) und Aalsmeer. Berghoef 1962a; Berghoef Berghoef 1938a; Berghoef 1938b; Berghoef 1946a; Berghoef 1946b; Berghoef Berghoef 1940; Berghoef BERX s174 (0577). 293 Vgl. Dokumente zum Lehrmaterial Berghoefs in BERX s177 (0577). Zur Verhältnislehre von Dom Hans van der Laan siehe: Dom Hans van der Laan, Het Plastische Getal, XV lessen over de grondslagen van de architectonische ordonnantie, Leiden Berghoef formuliert u.a. den wesentlichen Sinn des Bauens als Gestaltung einer eigenen spezifischen Welt. Berghoef 1952, Übersetzung JM: vgl. Originalzitat Berghoef: een royale daad, een manifestatie van menschelijken durf en menschelijk handelen." Berghoef 1938b, 6. 86

89 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur zu dienen habe, betrachtete er Architektur und Städtebau als `Spiegel des Zusammenlebens. 296 Auch in der Retrospektive auf sein Werk formulierte er 1981 diesen Aspekt wie folgt: Grosso modo kann man annehmen, dass Architektur und Städtebau auf vernünftige Weise den menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen an Unterdach dienen sollen, doch gleichzeitig liefern sie damit auch ein konkretes Bild von den Strukturen, Bestrebungen und Potenzen des Zusammenlebens. 297 Mit anderen Worten: Architekturgestaltung leitet sich vom Menschen und dessen Handeln und Bedürfnissen ab. Die Nutzungsbestimmung definiert die Form und den Charakter von Architektur. Ein Wohnhaus zeigte die Familie, die darin lebt, ein Rathaus verbildlichte die Bedeutung der städtischen Obrigkeit und die Kirche stellte das Verhältnis zu Gott zur Schau. Jedes Bauwerk war in den Augen Berghoefs ein Zeichen der gesellschaftlichen Ordnung und musste folglich im Charakter der Architektur zum Ausdruck gebracht werden. 298 In seinem Artikel `Architectuur en Stedebouw (1981) erläuterte Berghoef über welche Aspekte einer Gesellschaft Architektur und Städtebau Auskunft geben können: den Sitz der Machtzentrale, den Einfluss von Religion und Ideologie, der Stand der Kultur, die soziale Hierarchie, das Wohlstandsniveau und den technischen Fortschritt. 299 Hinsichtlich dieses Musters bezog er sich auf historische Fallbeispiele aus dem Mittelalter, Früher Neuzeit etc. Im 20. Jahrhundert sei diese Tradition der Gesellschaftsentwicklung im Zusammenhang mit der Architektur gestört worden, denn schon im 19. Jahrhundert kam es nach Ansicht Berghoefs zu einem Rückgang der Urbanität. Es sei eine Kluft zwischen Gesellschaft und Architektur entstanden, so dass keine klaren Architekturströmungen mehr entwickelt werden konnten und es keinen klaren `Formcode mehr gegeben habe. Die tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft war eine Folge der industriellen Expansion und des vorangehenden Fortschritts in Naturwissenschaft und Technologie. Die De-Personalisierung sei ein Nebenprodukt der zu weit gehenden Industrialisierung gewesen. 300 Berghoef veranschaulichte hier im Wesentlichen seine persönliche Vision auf den viel zu weit gehenden Materialismus und einer zu starken Anonymität im Bauen. 301 Doch finden wir bei Berghoef keine Verherrlichung prämoderner Traditionen. Es handelt sich hier um den Wunsch des Lernens aus der Geschichte. Gemachte Fehler und Lehrstellen z. B. in der Entwicklung des städtischen Raumes sollten als Anleitung zur Verbesserung dienen. Denn Urbanität und Funktion des städtischen Raums hatten in den Augen dieses Architekten einen direkten Einfluss auf die Weiterentwicklung der Gesellschaft. Die Lebbarkeit von Architektur und Stadt solle deshalb eine größere Rolle spielen als die persönlichen ästhetischen Normen des Architekten Berghoef 1980b; Berghoef 1980c. 297 Übersetzung JM: Originalzitat: Grosso modo kan men stellen dat architectuur en stedebouw op redelijke wijze dienen te voorzien in menselijke en maatschappelijke behoeften aan onderdak, maar tegelijk geven zij daarmee een concreet beeld van de samenleving in haar structuren, strevingen en potenties. Berghoef 1981, Granpré Molière 1941, Berghoef 1980b, Berghoef Juni 1980 #245}, Krüger 1983, Berghoef 1980a, 12,

90 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Über schlechtes Bauen und Selbstkritik Schon früh äußerte Berghoef sich kritisch zum schlechten Einfluss einer unkontrollierten Bauindustrie auf die Entwicklung der (ländlichen) Baulandschaft. Einer der ersten Artikel war `Bouwen op het land en in de dorpen (1934), in dem er auf den kontinuierlichen, d. h. unveränderbaren Charakter ländlichen Bauens eingeht, den er aufgrund mangelnder Differenzierung zu städtischer Architektur in Gefahr sah. Kennzeichnend für seine Haltung ist das hierin vorkommende Zitat: Wer an der Zukunft arbeiten will, muss sinnvolle Differenzierung anstreben. 303 Auch bei seinem Rückblick (um 1980/81) auf die Architekturentwicklung gab Berghoef eine kritische und teilweise negative Beurteilung der gesellschaftlichen Entwicklung der Nachkriegszeit. Dies begründet der Architekt u.a. mit den Fehlern, die in der städtebaulichen Planung nach 1945 begangen worden seien, sein eigenes Werk dabei nicht ausgenommen. Dass nach 1945 der städtische Raum in den Niederlanden, besonders in den neu gegründeten Stadtvierteln, bis zur Leere verwässert sei, sah er als ein Zeichen der schlechten gesellschaftlichen Entwicklung. Ursache hierfür war schlechte städtische Bebauung. Die wichtigste Voraussetzung für ein gut funktionierendes Gesellschaftsleben war für Berghoef ein städtischer Raumkomplex, in dem es deutlich markierte öffentliche Räume für den privaten und den zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen Verkehr gibt. 304 Städtebau ist Bau des gemeinschaftlichen Außenraums, denn dies sei der öffentliche Begegnungsraum, so Berghoef in einem Vortragsskript mit dem Titel Freiheit, Begegnung und Gemeinschaft in Architektur und Städtebau (Vrijheid, ontmoeting en gemeenschap in architectuur en stedebouw, Skript für das dritte Studienjahr TH Delft, 1960). 305 Er kritisierte folglich schon in den 1960er, die architektonischen und städtebaulichen Maßnahmen der Nachkriegszeit. In seinen privaten Notizbüchern finden sich Texte zum Wohnungsbau, in denen Berghoef schon 1966 seine Kritik äußerte, die in den Publikationen ab 1980 noch deutlicher in den Vordergrund treten. 306 Die Architekten als Entwerfer des städtischen Raums verloren zunehmend ihren Einfluss auf die Gestaltung der Umgebung, konstatierte Berghoef bei seiner Abschiedsrede an der TU Delft im Jahr Architektur und Städtebau würden nicht mehr als gesellschaftliche Formgebung getätigt, sondern dienten nur noch der reinen Befriedigung der Funktionalität und der Bedürfnisse. Dies war in seinen Augen eine Überinterpretation der reinen Funktionserfüllung von Architektur. Die Umgebung sollte aber nach Ansicht Berghoefs entworfen werden und nicht geplant, d. h. nicht als reine Erfüllung von Notwendigkeiten gesehen werden wie bei den Modernisten. Berghoef differenzierte folglich zwischen dem Entwerfen nach bestimmten gesellschaftlichen Maßstäben und dem Planen nach rein funktionalen Aspekten. Dieser Gedanke Berghoefs leitete sich aus seiner Idee ab, dass Architektur, d. h. der architektonische Entwurf, eine soziale und kulturelle Verpflichtung sei Übersetzung JM: Originalzitat: "Wie aan de toekomst wil werken, moet aansturen op zinvolle differentiatie." Berghoef Berghoef 1980b, Skript für das College des 3. Jahrgangs an der TU Delft, BERX s124 (0570). 306 BERX s171 (0576). 307 Berghoef Berghoef

91 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Seine Gesellschaftskritik verdeutlichte Berghoef diesbezüglich unter Anführung von falschem Gebrauch der Technik und der Vernachlässigung der wahren Bedürfnisse der Menschheit im Bauen. Die Verantwortung hierfür sah er dabei beim Menschen und somit dem Architekten selbst. Denn laut Berghoef sei zu berücksichtigen, dass `wir Kinder unserer Zeit seien und es unsere Aufgabe sei, unsere Zeit zu formen, da wir dadurch den `Zeitgeist bestimmen. 309 Der Architekt besaß demnach eine verantwortungsvolle Rolle. Sich dieser Verantwortung bewusst, scheute Berghoef auch nicht vor einer kritischen Reflexion seines eigenen Beitrags an dem Wohn- und Städtebau der Nachkriegszeit. Selbstkritisch benannte er in den 1980er Jahren die Fehler, die auch in den von ihm entworfenen Amsterdamer Wohnvierteln im Wiederaufbau zustande gekommen waren. 310 Die erwünschte Lebensqualität in den neuen Vierteln des Massenwohnungsbaus war leider im Nachhinein nicht erreicht worden. An dieser Stelle können wir Berghoef explizit von Granpré Molière unterscheiden. Während letzterer mehr vom idealen Bauen predigte, baute Berghoef dort, wo es nötig war, nach bestem Wissen und Gewissen. Er stellte sich den damaligen gesellschaftlichen Anforderungen, und lernte aus den eigenen Fehlern und zog daraus die notwendigen Konsequenzen. Insgesamt wollte Berghoef mittels seiner Architektur zur Schaffung einer humanen Lebenswelt beitragen. Beginn der 1980er Jahre jedoch sah er ein sehr geringes Bedürfnis in der Gesellschaft nach humanen Werten, was seines Erachtens an den sehr ausgeprägten technokratischen und ökonomischen Machteinflüssen der Gesellschaft lag. Eine Beeinflussung dieses etwas pessimistisch scheinenden Bilds durch die allgemeine gesellschaftliche Kritik an den `Architektursünden der Nachkriegszeit darf hier nicht ausgeschlossen werden. Berghoef war schließlich auch mit den international bekannten Schriften zu diesem Thema vertraut. In einer Archivnotiz, einem Skript zum städtischen Raum (ohne Datum) nahm Berghoef beispielsweise Stellung zu Jane Jacobs The death and life of American cities. The failure of town planning (1961). 311 Die Kritik Jacobs an der Bebauungsdichte und der Leere neuerer Wohnviertel, sah er als gerechtfertigt. Der städtische Raum in den neuen Stadtvierteln war auch in den Niederlanden unzureichend entworfen. Dass Berghoef aber keinesfalls als Antimodernist zu verstehen ist, zeigt sich in gleichem Text, in dem Berghoef die dem Modernismus zugeschriebene Lijnbaan im Zentrum von Rotterdam (eine verkehrsfreie Einkaufsstraße nach einem Entwurf von den Architekten Van den Broek & Bakema, 1953) als erfolgreiche moderne Raumplanung lobte. 312 Zusammenfassend handelt es sich demnach beim Verständnis Berghoefs um einen Zirkelschluss: Architektur ist ein Spiegel der bestehenden Gesellschaft, doch gleichzeitig ist die Architektur auch Basis und Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der Menschen, die in ihr leben. Es handelt sich um ein wechselseitiges Verhältnis. Architektur und Gesellschaft waren im Architekturverständnis dieses Architekten eng miteinander verbunden, wobei sich die Architektur der Entwicklung der Gesellschaft anzupassen bzw. dieser zu folgen habe. In diesem 309 Übersetzung JM: Originalzitat: wij slechts kinderen van den tijd zijn, in zooverre wij gevormd, dus opgevoed, werden. En dat aan ons de taak is om, al vormend, onzen tijd te maken. Dat dus wij het zijn, die den geest van den tijd bepalen en niet omgekeerd. Berghoef 1938b, Berghoef. 311 BERX s150 (0573); Jacobs BERX s150 (0573). 89

92 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Sinne soll Architektur sich deshalb so entwickeln, wie die Gesellschaft sich entwickelt, schlussfolgerte Berghoef. 313 Die Struktur der Gesellschaft sah er besonders bestimmend für die Gestaltung der Umgebung. Deshalb werde sich die zukünftige Architekturlandschaft (`architektonische Umgebung ) an die Entwicklung der Gesellschaft halten, für die er eine zunehmende `Technokratisierung und Kollektivierung erwartete. 314 Die Rolle des Architekten, in seiner Tätigkeit als Entwerfer und Baumeister, lässt sich bei Berghoef als die des Mediators zwischen Architektur und Gesellschaft definieren. 315 Als Interpret der gesellschaftlichen Ordnung und des menschlichen Zusammenlebens schafft er Architektur und architektonischen Kulturraum als Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung der Gesellschaft. Charakter und Bedeutung durch Formgebung Berghoef selbst schien das Entwerfen nicht immer schnell und mühelos von der Hand zu gehen. Auch er hatte Momente, in denen er das Entwerfen zeitweise als Herausforderung empfand. 316 Dabei war er zweifelsohne ein sehr praxisorientierter Architekt und in seiner Entwurfs- und Arbeitsweise nach eigener Beschreibung sehr `intuitiv. Auf die Frage von seinem Kollegen Kloos in dem bereits erwähnten Gespräch von 1980, was die Prinzipien und Theorien der Delftse School letztendlich gewesen seien, mahnte Berghoef, dass man mit Prinzipien doch vorsichtig sein solle. Denn Theorien würden von den Architekten meist erst hinterher bedacht. Die Erfahrung lehrt, dass, wenn man beim Erstellen von einem Bauplan von Prinzipien ausgeht, zu erwarten ist, dass diese sich während des Entwurfsprozesses verflüchtigen (Berghoef, 1981). 317 Laut Berghoef bildete schließlich das Bauprogramm die Basis jeder Planentwicklung, wobei die Formgebung für ihn einen eher undogmatischen Prozess darstellte. Die Funktion bildete für Berghoef immer die Grundlage für den Entwurf und die Gestaltung, d. h. die Formgebung eines Gebäudes. Dabei gab es keine festgelegten Theorien oder Entwurfsprinzipien, von denen er ausging, sondern die Idee einer Bauform bzw. des Baukörpers, gebunden an die zu erfüllende Funktion, bildeten den Ausgangspunkt seiner Entwürfe. Folglich seinem Motto: der Architekt geht aus von der Form, der Konstrukteur von der Struktur. (Berghoef, 1956) 318 Diese Haltung entspricht vollkommen der Architekturpraxis des 19. Jahrhunderts, als sich die Aufgabenbereiche von Architekt und Konstrukteur trennten und sich verschiedene Berufsfelder entwickelten. Berghoef verstand sich eindeutig als Architekt. Überdies zeugen sowohl seine Antrittsvorlesung in Delft 1947, mit dem Titel Die architektonische Form und ihre Bedeutung (De architectonische vorm en zijn betekenis), als auch seine Arbeitsweise von der Bedeutung, die er der Formgestaltung beimisst. Für ihn war grundsätzlich das Bauprogramm, d. h. die Nutzung und gesellschaftliche Bedeutung der 313 Berghoef, J. F.: Architectuur en Stedebouw: Spiegel van de Samenleving. In: De Haan 1981, Berghoef, J. F.: Architectuur en Stedebouw: Spiegel van de Samenleving. In: De Haan 1981, Berghoef 1958, Architekt Prof. ir. Piet Tauber (Alkmaar) in Gespräch mit Verfasserin am Tauber absolvierte in jungen Jahren ein Praktikum bei Berghoef & Klarenbeek und wechselte danach ins Büro von J. J. P. Oud. Siehe ferner auch Briefwechsel von Tauber und Berghoef: TAUB d57(0087) im Archiv NAi. 317 Übersetzung JM: Originalzitat vgl.: BERX s174 (0577). 318 Berghoef

93 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Architektur, der essentielle Ausgangspunkt für die Frage der Formgebung. Hierin waren die Forderungen an den Bau festgehalten, die letztlich die Form bestimmen. Im Grunde scheint es keinen Unterschied zu geben zwischen der kreativen Arbeit des freien Dichters und die des gebundenen Architekten, so die Ansicht Berghoefs. Vielleicht benötige letzterer eine längere Anlaufzeit, bevor der Geist ihn beseelt, doch hängt dies eng zusammen mit dem Umfang des Bauprogramms und auch dann erscheint die Muse erst, wenn es ihr behagt. 319 Nach Ansicht Berghoefs versuchte der Architekt aus dem Chaos des Bauprogramms heraus eine Ordnung zu schaffen und zu einer Einsicht zu gelangen, bis sich die Form des Baus herauskristallisiert. Nach dieser ersten Phase des Entwurfsprozesses folgte eine kritischere Periode, in der man Abstand nehme und der Entwurf auf sein Wesen hin beurteilt wird. 320 Darüber hinaus sei ein weiterer wichtiger Aspekt beim Zustandekommen der Formgebung die bewusste Vision von Raum und Zeit, die durch vielerlei Umstände eingeschränkt sei. Dieser Vision gilt es dann Form zu verleihen. 321 Berghoef unterschied dabei zwei Formen von Architektur: 1. die prächtige kompositorische Form und 2. das praktische menschliche Maß. (Abb. 11) Das materialisierte Konzept einer Idealarchitektur war nichts für ihn, denn für ihn stand die Nutzbarkeit und Funktionalität von Bauwerken im Vordergrund. Die Funktionserfüllung von Architektur beinhaltete dabei nicht nur die rein physiologischen, sondern auch psychologischen Aspekte. Der `Wohlfühlfaktor besaß in seinen Augen große Bedeutung bei der Gestaltung und Formgebung von Architektur. 319 Übersetzung JM: Originalzitat: In wezen blijkt er geen verschil tussen de creatieve werkzaamheden van de vrije dichter en die van de gebonden architect. Misschien heeft de laatste een langere aanloop nodig eer de geest over hem vaardig wordt, maar dat hangt nauw met de omvang van het bouwprogramma samen en dan nog verschijnt de muze als het haar behaagd. Berghoef 1947, Vgl. Berghoef 1947, Siehe Vortragsskript von Berghoef BERX s163 (0575), o. J. 91

94 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Abb. 11 J. F. Berghoef. Zeichnungen zur Proportionslehre der optimalen Raumhöhe: zu niedrig (oben links, normale Raumhöhe (oben rechts), repräsentative Räume (unten). Von Berghoef für die Lehre verwendet. In diesem Zusammenhang bestimmte bei Berghoef die Formgebung, als Ausdruck der verschiedenen Funktionsebenen, auch den Charakter eines Gebäudes. Dabei sah er in der Architektur sowohl einen zeitlichen als auch einen örtlichen Charakter. 322 D. h. Entstehungsort und zeitpunkt stellen die Rahmenbedingungen für Funktion, Formgebung und Charakter. Ein Gebäude erhält demnach Charakter durch den historischen und funktionalen Kontext in dem es steht. Die Korrelation von Neubau im Kontext mit bestehender Bebauung wurde deshalb stets bewusst von ihm analysiert. Das Einfügen und Anpassen von neu gebauter Architektur in das Umfeld seines Standorts hatte hierbei einen hohen Stellenwert. Die Geschichte bzw. Tradition eines Ortes wurden bewusst mit dem neu zu bauenden Baukörper in Beziehung gesetzt. In der Praxis handhabte Berghoef dies so, dass seine Architekturformen Anschluss suchten an örtliche Traditionen und historische Formen, ohne das eine Historisierung stattfinden sollte. Er suchte stets allgemein gültige Formen in Anpassung an die Umgebung des Bauwerks. Denn Berghoef vertrat die Ansicht, dass der größte Teil neugebauter Architektur einfach, traditionell und zeitlos sei. 323 Doch zeuge letzteres nicht von Rückständigkeit oder dass solche Architektur keiner Aufmerksamkeit wert sei. Ihm zufolge sei diese Architektur durchgehend gut, menschlich, füge sich in ihre Umgebung ein und sei hinsichtlich der Schönheit nicht unter dem `modernen (gemeint ist das modernistische) Werk einzuordnen. 324 Denn in erster Linie sei die architektonische Form immer ein Spiegel der Gesellschaft und darüberhinaus verkörpere sie umso mehr die gesellschaftlichen Wünsche des Menschen Berghoef 1934; Berghoef 1951b, 20, Berghoef 1958, Berghoef 1958, Berghoef 1947,

95 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Inspirationen aus dem Ausland Berghoef und seine Frau Jellie waren reisefreudig (Abb. 12). Dabei suchte Berghoef neben den baulichen und örtlichen Kontexten der Niederlande stets Inspiration aus dem Ausland und interessierte sich dabei vornehmlich für die Architektur aus Deutschland, Skandinavien und Italien. Das Interesse an einem fachlichen und persönlichen Austausch zeigt sich in Berghoefs Kontakt mit einem bedeutenden deutschen Architekten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Paul Schmitthenner ( ) statteten die jungen Architekten Berghoef und Jo J. M. Vegter ( ), beide in der Zeit ihrer Identitätssuche als junge Architekten, diesem deutschen Architekten gemeinsam einen Besuch in dessen Privathaus bei Stuttgart ab (Abb. 14). Ein Jahr darauf erläuterten sie in einem Artikel in der Zeitschrift Bouwkundig Weekblad Architectura ihre persönlichen Eindrücke von dieser Begegnung. 326 Berghoef zeigt sich insgesamt sehr positiv beindruckt über den Besuch, sowohl von der Person Schmitthenner als auch von dessen Wohnhaus. 327 Die Gestaltung und Einrichtung der Räume inklusive Details wird von Berghoef in diesem Bericht beschrieben, um dem Leser einen Eindruck von der empfundenen `gemütlichen Häuslichkeit zu vermitteln. Hierbei lobt Berghoef Schmitthenners Gefühl für die Wahl der Form und Konstruktionsweise, sowie die Betonung des `guten Handwerks. `Formalismus und `Förmlichkeit seien diesem Architektengeist nach Ansicht Berghoefs fremd, denn `intuitiv seien bei Schmitthenner `lebende Formen verarbeitet (Abb. 14). 328 Schmitthenners Beitrag und seine Suche nach alternativen Produktionslösungen im Bereich des Wohnungsbaus der Zwischenkriegszeit, wurde lange unterschätzt oder gar nicht wahrgenommen. 329 Jüngere Forschungen in dieser Richtung, insbesondere von Architekturhistoriker Wolfgang Voigt und Hartmut Frank, revidieren dieses Bild jedoch zunehmend. 330 Im Verlauf der Dreißiger Jahre wurde der Kontakt zwischen Berghoef und Schmitthenner per Brief noch weitergeführt. So gibt es im Folgenden noch ein paar Hinweise auf Begegnungsversuche. Z. B. bei einer weiteren Reise Berghoefs nach Stuttgart (genauer Zeitpunkt der Reise ist unbekannt), bei der er Schmitthenner aber nicht antrifft. Mit Ausbruch des Krieges brach der Kontakt ab. Erst am Weihnachtsabend 1954 ergriff Berghoef erneut die Initiative und verfasste einen Brief an Schmitthenner anlässlich dessen 70. Geburtstags. 331 In diesem Schreiben erinnerte Berghoef an die erste Begegnung und die Bewunderung, die die Architektur von Schmitthenner bei ihm und Vegter ausgelöst hatte. Doch in seinem Brief wird deutlich, dass das Kriegsgeschehen und die deutsche Besetzung bei Berghoef eine enorme Abneigung gegen die deutsche Bevölkerung und die deutsche Kultur verursacht hatten. 332 In einer knappen Beschreibung wurden die politischen und gesellschaftlichen Geschehnisse in den Niederlanden im Brief an Schmitthenner aus persönlicher Sicht Berghoefs geschildert. Trotz deutscher Fremdbesetzung sammelte Berghoef auch während des Krieges die 326 Berghoef und Vegter Originalzitat:... wie t vindt zal vreugde beleven aan de schoone gestalte, die een rijke geest aan zijn omgeving vermocht te geven. Berghoef und Vegter 1935, Berghoef und Vegter 1935, Vgl. Junghannß 1994, Voigt und Frank Brief von Berghoef an Schmitthenner: Dankend in Kopie erhalten von Prof. Wolfgang Voigt. 332 So schreibt Berghoef in seinem Brief 1954, dass er seit Mai 1940 kein Wort Deutsch mehr gesprochen habe, da ihm die Sprache zuwider war. Brief von Berghoef an Schmitthenner: datiert mit Weihnachtsabend

96 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Veröffentlichungen Schmitthenners, derer er habhaft werden konnte, und schätzte diese sehr, wie er Schmitthenner im Brief berichtet. Ihre Bauten haben mich oft getröstet, sie haben gemacht, dass ich das Vertrauen in den deutschen Menschen nicht ganz und gar verloren habe. Schmitthenner und Tessenow sind für mich kleine Kerzenlichter in der dunklen Nacht gewesen. 333 Schmitthenner, so schrieb Berghoef weiter, gehöre zu den wenigen, von denen er etwas gelernt habe. Er bewunderte die Architektur Schmitthenners um deren `Sauberkeit, um das Zusammenspiel von guten Material, klarer Konstruktion, ehrlicher und menschlicher Form. 334 Dies seien allesamt Qualitäten, die der modernen Architektur häufig fehlten, aber im Grunde überdauernde architektonische Werte seien. 335 Die Art der Begeisterung und Bewunderung, mit der wir es in der Beschreibung der Erstbegegnung zu tun haben, ist die eines jungen Architekten, der sich Vorbilder suchte. Es handelte sich um einen Enthusiasmus des jungen Berghoef für das, was er selbst auch gerne erreichen wollte. Im späteren Briefwechsel der 1950er Jahre zeigt sich, dass sich dies in Wertschätzung gewandelt hatte. Eine weitere architektonische Leistung eines deutschen Architekten, die Berghoef ebenfalls sehr ansprach, war, wie u.a. in dem Brief von 1954 nachzulesen, die des deutschen Architekten Heinrich Tessenow. So betonte Berghoef, dass Tessenow mit seinem einfachen und adäquaten Wohnungsbau `Schule gemacht habe. 336 Durch dessen Tätigkeit als Architekt, Planer und Dozent hatte er großen Einfluss auf den Nachwuchs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Berghoef selbst, der bis zu diesem Zeitpunkt (den 1930er Jahren) hauptsächlich Wohnungsbau und eine große Anzal an kleineren ländlichen Nutzbauten, verwirklicht hatte, sah sich besonders im Bereich des Wohnungsbaus inspiriert. In der Nachkriegszeit und im Kontext seiner Lehrtätigkeit zeigt sich, dass er diese Inhalte auch bei seinem Seminar Het woonhuis 1962/63 vermittelte. Im Abschnitt über das einfache Bauen finden wir den Vermerk, dass die Geisteshaltung hierbei sozialer und bewusst liberal sei. Im Werk der Architekten dieser Richtung, zu denen er Schmitthenner und Tessenow zählt, liege mehr Poesie und wohlwollende Menschlichkeit. Tessenow sei ein asketischer Prophet der intellektuellen geistigen Reinheit und Selbstbeschränkung gewesen. Bei ihm waren Form und Bearbeitung abstrakt, während Schmitthenner Material und Struktur miteinander spielen ließ. 337 Laut Berghoef gab es immer einen einfachen Wohnungsbau als breiten Unterstrom in der Baukunst, mit einem zeitlosen Charakter, der kaum von der jeweiligen Mode oder einem bestimmten Stil durchdrungen werde. 338 Laut Berghoef wurden auf diese Weise auch die Delfter Architekten von der Arbeit Tessenows und von skandinavischer Architektur beeinflusst. Die Auseinandersetzung mit skandinavischer Architektur zeigt sich bei Berghoef schon in frühen Jahren durch seine 333 Brief von Berghoef an Schmitthenner: Brief von Berghoef an Schmitthenner: Auf die Antwort Schmitthenners wird zu einem späteren Zeitpunkt noch eingegangen, wenn dies in den Text der Dissertation passt. Denn im Antwortschreiben Schmitthenners sind keine gezielten Aussagen zu Berghoefs Architektur o.ä. vermerkt. 336 Berghoef 1980b, 61; De Haan 1981, Siehe Manuskript zum Seminar Het woonhuis (1962/63). BERX s145 (0573). 338 Naast alle uitingen van eigen tijd, van het `moderne op ieder moment, bestaat er een brede onderstroom van gewone huizenbouw, die nagenoeg tijdeloos van karakter is. Deze wordt nauwelijks beroerd door de tijdelijke stijl c.q. mode. Vgl. Adalbert Stifter: das sanfte Gesetz in der Kunst. Siehe Manuskript zum Seminar Het woonhuis (1962/63), 41, BERX s145 (0573). 94

97 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Tätigkeit in der Redaktion des Bouwkundig Weekblad ( ). In dieser Zeit schrieb er diverse Architekturbesprechungen skandinavischer Architekten und deren Bauwerke (z. B. das Nationalmuseum Kopenhagen von Morgens Clemmensen, 1937, und das Gebäude der Stockholmer Bauvereinigung von Sven Markelius, 1937). 339 Weitere Hinweise auf den inspirierenden Blick in Richtung Skandinavien, insbesondere Stockholm und die Architektur Ragnar Östbergs, lassen sich in den ersten Entwürfen für das Amsterdamer Rathaus ablesen. 340 Darüber hinaus reiste Berghoef 1952 während des Bauprozesses des Rathauses zu Hengelo mit dem damals amtierenden Bürgermeister Hengelos nach Schweden, um das dortige Rathaus von Stockholm vor Ort zu begutachten. Zweifelsohne fungierte die skandinavische Architektur für Berghoef als Inspirationsquelle und wurde von ihm in verschiedenster Weise rezipiert. 341 Gleiches gilt für die zahlreichen Reisen Berghoefs nach Italien, sowohl während der eigenen Studienzeit als auch später als Dozent. Die italienische Architektur, besonders der noch vom Mittelalter geprägten Städte, hatte nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen. Sowohl die toskanischen Städte, mit Siena als Berghoefs Favorit, als auch Rom bestärkten Berghoefs Sympathie für lokal geprägte Backsteinarchitektur. 342 Abb. 12 J. F. Berghoef mit seiner Frau Jellie bei einer Reise nach Griechenland, vermutlich 1960er Jahre. 339 Berghoef 1938a; Berghoef 1938b. Berghoef schrieb in den 1930er Jahren auch die entsprechenden Kommentare zu diversen Themen und Ausgaben ausländischer Fachzeitschriften, wie z. B. Arkitekten (Dänemark), Arkitekti (Finnland), Byggekunst (Norwegen), Byygmästaren (Schweden), Das Werk (Schweiz). 340 Siehe hierzu ausführlich die Analyse zur Amsterdamer Rathauspreisfrage (Kapitel 5). 341 Dies bezeugen auch seine Aufsätze zur schwedischen Architektur. Berghoef 1946a; Berghoef 1946b. 342 Siehe Autobiografie Berghoefs in BERX s174 (0577). 95

98 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Abb. 13 P. Schmitthenner. Kochenhofsiedlung Stuttgart. Foto aus dem Archiv Berghoef von einer Reise nach Stuttgart, vermutlich Abb. 14 J. F. Berghoef. Skizze mit u.a. dem Lampendesign am Haus des Deutschtums von Architekt Paul Schmitthenner in Stuttgart, Kontinuität: Identität und Nationalität in der Örtlichkeit und dem Material Wie im ersten Kapitel dieses Buchs erläutert, spielte sich die Diskussion und Kategorisierung von moderner und traditioneller Architektur auf verschiedenen Ebenen (Material, Technik, Form etc.) ab. Moderne bzw. im eigentlichen Sinne modernistische Architektur favorisierte hierbei den sichtbaren Beton als Baumaterial. Das Material, mit dem die Bauten Berghoefs in erster Linie in Erscheinung treten, hingegen ist Backstein. In der Architekturhistoriografie wird dies, wie bereits in den beiden vorrangegangenen Kapiteln beschrieben, als Merkmal traditioneller Architektur gekennzeichnet. Warum hatte dieser Architekt so eine Vorliebe für dieses Material? In seinem Artikel `Nederland bouwt bij traditie in baksteen (1962) konstatierte Berghoef, dass die Skelettbauweise (in Holz und Backstein) etwas Altbekanntes in der niederländischen Architektur sei, und verwies diesbezüglich auf die Bauten des

99 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Jahrhunderts und die charakteristisch großen Fenster niederländischer Grachtenhäuser. 343 Die leichte Bauweise mit Backstein entspringe dabei einer pragmatischen Tradition: Backsteinwände sind tragend als auch Raum abschließend und sowohl in thermischer als auch akustischer Hinsicht vorteilhaft. Berghoef betrachtete die Verbesserung der Backsteinproduktion in der Nachkriegszeit und die Anwendung der so genannten spouwmuur eine Weiterentwicklung der doppelwandigen Backsteinmauer als sehr positiv. Die Haltbarkeit von unbehandeltem Beton im `aggressiven Meeresklima der Niederlande erachtete er hingegen als zweifelhaft. Die damit verbundenen Verwitterungsspuren an der Betonoberfläche hielt er für unästhetisch. 344 `Und schlussendlich falle es dem Niederländer, der so gewöhnt sei an die farbigen Aspekte der Backsteinfassade, schwer, das fahle Grau des Betons zu schätzen. 345 Umso höher schätzte er den Gebrauch des Backsteins als umschließendes Mauerwerk ein. Denn je größer und monumentaler ein Bauwerk sei, desto überraschender sei es dann die Hand des Maurers hier zurückzufinden. 346 Die Erkennung des Handwerks, in diesem Fall die Arbeit des Maurers, wird demzufolge von Berghoef insbesondere aus ästhetischer Sicht als wertvoller eingestuft als der sichtbare, schnell verwitternde Beton. Wie die Besprechung seiner Baupraxis im zweiten Teil dieser Arbeit zeigen wird, hat Berghoef hierbei einen Mittelweg verfolgt, bei dem beide Materialien und Bautechniken zu ihrem Recht kommen. Zurückkommend auf die Verwendung des Backsteins können wir konstatieren: Berghoef sah hierin besonders eine ästhetische und lokal gebundene Begründung. Neben dem ästhetischen Wert hinsichtlich der Oberflächenbeschaffenheit, der Haltbarkeit und des Ausdrucks handwerklichen Schaffens sah er in der Verwendung dieses Baumaterials auch einen Traditionsgehalt. Da Berghoef die Tradition als eine Weitergabe von Erfahrung und Wissen an die nächsten Generationen verstand, diente die Verwendung des Backsteins als visuelle Kontinuität im Bauen. In baulichen Kontext bedeutete das Respektieren der Tradition den Anschluss von neugebauter Architektur an den historischen und örtlichen Kontext seines Standorts. Berghoef war kein Vertreter von der Idee, dass sich Architektur von der Umgebung auf spektakuläre Weise absetzen oder herausstechen sollte. Doch unterschied Berghoef auch zwischen verschiedenen Arten von Tradition, die es wert waren übernommen zu werden. In bestimmten Kontexten, wie dem Wiederaufbau der Stadt Middelburg ( ), sprach er von einem Wiederaufbau nach `besten Traditionen. D. h. es sollte nicht alles, sondern eher selektiv übernommen werden. 347 In seinem Werk verarbeitet Berghoef hierzu bestimmte ausgewählte Elemente, die als Symbol auf den demonstrativen Erhalt einer Tradition verweisen. Dabei handelt es sich um bestimmte Gestaltungselemente (z. B. wiedererkennbare Formen zur Charakterisierung eines spezifischen Bautypus wie Rathaus- oder Kirchenarchitektur), denen er einen Wert an Kontinuität zuspricht. Ein unreflektiertes Kopieren oder Imitieren von Traditionen oder traditionellen Elementen entspricht nicht seiner Arbeitsauffassung. 343 Berghoef 1962b. 344 Berghoef 1962b, Berghoef 1962b, Übersetzung JM: Originalzitat: hoe grootser en monumentaler het bouwwerk, des te verrassender is het, de hand van de metselaar, zijn toewijding en zijn hele habitus in het werk telkens terug te vinden. Berghoef 1962b, Berghoef 1951b,

100 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Die traditionellen Materialien und Arbeitsweisen, d. h. insbesondere Backstein und das Handwerk, dienen nach Ansicht Berghoefs dem Architekten als Hilfe beim Entwerfen. Insbesondere der auf dem Land tätige Architekt brauche nicht alles neu zu erfinden, denn die Tradition könne ihm eine große Stütze sein. In der Tradition liege `das Beste, was die Generationen vor ihm erreicht haben. 348 Berghoef sieht die Tradition demzufolge als sinnvolle Inspirationsquelle für den Architekten. Gleichzeitig beinhaltet dies die Auffassung, dass ohne den Blick zurück, die Gegenwart unverstanden und damit Zukunftsentwürfe unbegründet bleiben. Der Tradition als kontinuierliches Element in der Architektur wird demnach nicht radikal abgeschworen, sondern sie wird bewusst reflektiert und verarbeitet. Referierend an Schmitthenner stuft Berghoef die Tradition als `Quelle geistigen Wachstums ein. 349 Die Architektur müsse auf die Tradition bauen, da diese die Seele eines Volkes kennzeichne. Tradition, oder im Sinne Berghoefs, das Verbinden von Kontinuitäten mit Neuem, zeigt sich in diesem Zusammenhang also als wichtiger Bestandteil des niederländischen Volkscharakters, der eine nationale Identität verleiht. Erneuerung: Technik und Moral Erneuerung war das Schlagwort der Moderne. Ein weitreichender Neuheitskultus herrschte vor, in dem die Anwendung neuer Bautechniken, Konstruktionsweisen und neuer Baumaterialien mit dem Begriff der Moral in Relation gesetzt wurden. 350 Berghoef beschrieb 1934 seine Sicht auf diese Aspekte in der Entwicklung der Baukunst. 351 In der Architektur herrsche ein Wirrwarr an Stilen, die zum größten Teil das willkürliche Umspringen mit Materialien und Elementen gemein hätten. Dabei käme der Ausdruck des Wesens zu kurz. Dadurch sei es immer schwieriger ein Rathaus, eine Fabrik oder einen Wohnungsbau voneinander zu unterscheiden. Das Gefühl für den richtigen Materialgebrauch, die logische Struktur und eine deutliche Formgebung mit normalen, auf der Hand liegenden Bauelementen und Materialien ginge langsam verloren. Berghoef kritisierte ferner die damalige Haltung, dass man ein Gebäude einzig durch den Ausdruck der praktischen Funktion charakterisieren könne. Eine Differenzierung des Baukörpers nach seinem funktionsimmanenten Wesen werde nicht nachgestrebt. Dabei gehe es beim Bauen um mehr als die reine Befriedigung materieller Bedürfnisse. Hiermit setzte Berghoef sich deutlich von dem Gedankengut des Funktionalismus seiner Zeit ab. Er sprach sich zu diesem Zeitpunkt gegen eine `Verflachung des Bauwesens durch eine zu große Mechanisierung und Rationalisierung aus. 352 Mit größeren Fenstern erreiche man zwar mehr Licht und Offenheit, doch sei damit nicht automatisch mehr Lebenskomfort und Bewusstsein garantiert. Wie bereits in Kapitel 1 erläutert, orientierte sich die moderne Architektur an der Produktion neuer industriell gefertigter Materialien und der Anwendung neuer Bautechniken. Wie jeder Architekt seiner Zeit sah auch Berghoef sich mit den Vor- und Nachteilen dieser 348 Übersetzung JM: Originalzitat: "Het werk van den plattelandsarchitect is dus nederig, waarin besloten ligt, dat een excessief individualisme hem niet past. Hij hoeft zich niet te vermeten om van voren af te beginnen bij het vormgeven, de traditie zal hem een grote steun zijn, want daarin ligt het beste, dat de geslachten vóór hem bereikt hebben." Berghoef 1934, Brief von Berghoef an Schmitthenner: Siehe hierzu u.a. den Beitrag von Marieke Kuipers in De Back et al. 2004, 18ff. 351 Berghoef Berghoef 1934,

101 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Entwicklung konfrontiert verfasste Berghoef einen Begleittext zu der Broschüre Bouwen in Beton anlässlich der gleichnamigen Ausstellung an der Technischen Hochschule Delft. 353 Schon eingangs trägt er dabei seine Meinung vor, dass er den Einfluss der Technik auf die Bauweise des 20. Jahrhunderts eher für sehr begrenzt halte, denn in den letzten hundert Jahren habe sich in den Baukunst in technischer Hinsicht nicht allzu viel verändert. Doch räumt er ein, dass die Dimensionen von Bauwerken bezüglich der Überspannkonstruktionen und Bauskeletten durch die Verwendung von Stahl zugenommen hätten. Als weitere Errungenschaften durch das neue Baumaterial des Eisenbetons nannte er Lärmabsorption, Isolation und Thermik. Holz und Stein ständen in der Konstruktionsmöglichkeit gegenüber Stahl deutlich zurück. Rückblickend auf die Geschichte des Betons und den immer stärkeren Einzug in die Baupraxis, nannte Berghoef diverse Beispiele und Herangehensweisen, um den Beton in all seinen Facetten zu gebrauchen. In den Vordergrund stellte er dabei, dass der Architekt von der Form ausgehe, der Konstrukteur hingegen von der Struktur. Konstrukteure wie Auguste Perret hält er dabei für phantasievoller, da sie den Beton als vollwertigen Baustoff zu verwenden gewusst haben. Seine Bewunderung sprach Berghoef darüber hinaus besonders für die Bauten des italienischen Bauingenieurs Pier Luigi Nervis aus. Doch kritisierte Berghoef, dass alle Architekten, die Beton verwendeten, häufig nicht weiter denken würden als an ein System von Säulen, Balken und Fussböden, und nannte in diesem Zusammenhang Oskar Niemeyer und Le Corbusier. Einige zeitgenössische Architekten entwarfen nach Ansicht Berghoefs häufig Formen, die meist nur in Beton ausgeführt werden könnten. Man könne deshalb in diesem Falle konstatieren die Form prävaliert über der Struktur 354. Doch schöner seien Gebäude, in denen die Form und die Struktur zusammengingen, so dass mit der Funktion des Gebäudes ein harmonisches Ganzes geformt würde. Technik und Material sollten demnach auf moralisch vertretbare Weise mit der Form zusammengehen. Aus diesem Grund plädierte Berghoef für eine Zusammenarbeit von Architekt und Konstrukteur, um einen guten Bau unter Verwendung des modernen Baumaterials Beton auf die höchste Stufe zu bringen. Als konkretes Baubeispiel wird uns im Verlauf dieser Betrachtung das ANWB Bürogebäude in Den Haag (s. Kapitel 6) dienen. Das einleitende Plädoyer Berghoefs in Bouwen in Beton (1956) bezeugt uns das Interesse des Architekten für das neue Baumaterial, das in der Regel als Kennzeichen modernmodernistischer Architektur gehandhabt wird. Sein Text dabei steht hinsichtlich der Wahl der Architekten- und Architekturbeispiele nicht so weit entfernt von Giedions bekannter Schrift über Stahlbetonbau Building in France. Building in Iron. Building in Ferro-concrete von Bei der Nennung einiger Architekten und Baubeispiele (z. B. Auguste Perret) weisen die beiden Texte Parallelen auf. Berghoefs Text ist ausschließlich bebildert mit aktuellen Bauwerken der Nachkriegszeit aus einem internationalen Spektrum, denn diese Bauten standen im Fokus der Ausstellung und der Betrachtung des zeitgenössischen Umgangs mit dem Material Stahlbeton. Sein Text bezieht sich jedoch nicht gezielt auf diese nachkriegszeitlichen Bauten, sondern widmet sich ähnlich dem Giedions auf eine allgemeine Betrachtung der Geschichte des (Stahl-)Betons. 353 Berghoef Berghoef Giedion

102 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Berghoefs Kennzeichnung des Architekten als Entwerfer und des Konstrukteurs als technischer Ausführer war geprägt von der Trennung der Berufe des Architekten und Ingenieurs im 19. Jahrhundert. Im Kontrast zu Giedions Definition des Konstrukteurs, der ein Design schaffe, das anonym und kollektiv sei und auf künstlerischem Schwulst verzichte, sah Berghoef den Beruf des Konstrukteurs/Ingenieurs nicht als Ablöse für den Beruf des Architekten, der den ästhetischen Entwurf lieferte. 356 Berghoef schätzte die Vorteile der modernen Bautechnik und die Arbeit der Ingenieure, doch er sah desto mehr eine Trennung in der Herangehensweise und der Sicht auf die Baukunst. Folgendes Zitat von 1956 ist hierfür kennzeichnend: Sie, von den sauberen technischen Wissenschaften dringen tief, mit der meist verfeinerten Kenntnis unendlich tief in den Stoff; wir schauen nur ob die Oberfläche schön ist und dann bauen wir damit. 357 Technik und Ästhetik beschaute er folglich als getrennte aber nicht unvereinbare Elemente der Baukunst. In Berghoefs Architekturauffassung zeigt sich ohne Zweifel eine starke Polemik, die auch in seinem Werk wiederzufinden ist. Kontinuität und Erneuerung stehen hierbei in einem interagierenden Verhältnis. Elemente des einen schließen das andere nicht aus. Die gewählte Technik und Material beugen sich der Art des Auftrags. Für seinen Wohnungsbau der Nachkriegszeit galten andere Rahmenbedingungen als für die Kirchen und Rathäuser. Die Positionierung zwischen Kontinuität und Erneuerung ist in seiner Entwicklung deshalb nicht linear, sondern springt je nach Bauauftrag. Oder mit den Worten Lorenzo Gersters ausgedrückt: "Dieses Entweder-Oder, dieses Sowohl-als-Auch sind Momente des Architekturschaffens, die es schon immer gegeben hat, d. h. Bauen war nie eindeutig, weder was Form noch was Inhalt, noch was Konstruktion anbetrifft. 358 Letztendlich engagiert sich Berghoef ab etwa 1940 für eine parallele bzw. ergänzende Anwendung sowohl traditioneller als auch neuester Bautechniken und Materialien. Je nach vorliegender Bauaufgabe, z. B. Kirchenbau, Rathausbau, Bürobau oder groß- und kleinformatiger Wohnungsbau, erachtete er Präfabrikation oder handgefertigtes Mauerwerk, Backstein oder Beton als vorteilhafter. Seine Arbeit zeichnete sich durch die Zusammenarbeit mit anderen Architekten und Ingenieuren/Konstrukteuren, sowie die Anwendung und Förderung neuer Bautechniken in seinen Bauten aus. Unter modernem Bauen verstand Berghoef im Allgemeinen ein zeitloses einfaches Bauen, das gerade durch seine zeitlose Formgebung in Aufbau und Gestaltung stets die aktuellen Anforderungen des Bewohners erfüllen kann. Die Bezeichnung `modern ist bei ihm gleichzusetzen mit zweckmäßig, variabel und veränderbar, und ist gleichzeitig immer der aktuelle Ausdruck der eigenen Zeit und des jeweiligen Moments. 359 Dies bedeutet, dass auch Berghoef seine eigenen Bauten veränderbar und erneuerbar gestaltete, d. h. sie sollten in der Zukunft angepasst und umgebaut werden. Flexibilität in der Nutzung, besonders bei Rathaus- und Bürobauten stand bei den Bauten Berghoefs voran. Denn Modernität in der architektonischen Entwicklung zeichnete sich ihm zufolge durch ein 356 Giedion 1995, Übersetzung JM: Originalzitat: Gij, van de zuiver technische wetenschappen dringt diep, met de meest verfijnde kennis oneindig diep in de stof; wij kijken alleen of het oppervlak mooi is en dan bouwen we ermee. Berghoef 1952, Gerster 1999, Siehe Manuskript zum Seminar Het woonhuis (1962/63). BERX s145 (0573). 100

103 Kapitel 3 Johannes Fake Berghoef und die (moderne) Architektur Anpassen der Architektur an die Entwicklung der Gesellschaft und somit des Nutzers aus. 360 Der Mensch war für Berghoef zentraler Ausgangspunkt jedes Entwurfsprozesses. Stetige Erneuerung war somit in jedem Entwurf inbegriffen. 360 Berghoef, J. F.: Architectuur en Stedebouw: Spiegel van de Samenleving. In: De Haan 1981,

104 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Teil 2 (Architekturpraxis) Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Er zijn dus bouwwerken, die naast een abstracte zuiver architectonische schoonheid een als het ware psychische lading bezitten, waardoor zij iets gaan betekenen. Berghoef, Eine Architekturgeschichte ohne Kirchenbauten ist undenkbar, schrieb der belgische Kunsthistoriker Geert Bekaert 1967 in seiner Publikation In een of ander huis. Kerkbouw op een keerpunt. 362 Denn Kirchenbauten gehören im christlichen Europa zur Baugeschichte und Bautypologie immer dazu. Solange der Kirchenbau als höchste Expression einer homogenen und geschlossenen Gemeinschaft spontan die Synthese der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche verwirklicht, wird ihr Bestehen als selbstverständlich bewertet. Darüber hinaus konstatierte Bekaert für die 1960er Jahre, dass noch nie so viele neue Kirchen gebaut worden seien und dies noch nie problematischer gewesen sei. 363 Was war an diesem Kirchenbau so problematisch? Die Diskussion um traditionelle und moderne Bestrebungen in der Sinngebung und Ausführung des Kirchenneubaus spielte in diesem Kontext eine wichtige Rolle. In einer vom Wiederaufbau und Wachstum gekennzeichneten Nachkriegsgesellschaft stellte sich den Architekten die explizite Frage, welche traditionsgebundenen Aspekte im Kirchenneubau sollten und konnten bewahrt werden und welchen abgesprochen werden sollte. Die kirchliche Bauaufgabe wird in dieser Untersuchung den anderen Bauaufgaben vorangestellt, da es sich hierbei um eine Bautypologie handelt, die mit einer langen Bautradition verbunden ist. Viele konventionelle Vorstellungen von dem äußeren und inneren Erscheinungsbild eines Kirchenbaus, dessen Nutzung und Symbolismus wurzeln in der langen Baugeschichte der Kirchenarchitektur. So wie jedes Bauwerk ist auch der Kirchenbau ein Spiegel der (religiösen) Kultur der Zeit. In den Niederlanden wie auch im Rest Europas durchläuft der Kirchenbau in der Vor- und Nachkriegszeit eine Entwicklung, die eng mit den Fragen nach Tradition und Moderne in der Architektur verknüpft ist. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen viele verschiedene Kirchenbauten zustande. Die Neusachlichen (bzw. Modernisten) wie Frank L. Wright (Unity Temple Chicago, 1906), J. J. P. Oud (Apostolische Kirche Rotterdam, 1929) und Le Corbusier (Nôtre-Dame du Haut, Ronchamp, 1954) haben in diesem Bereich eindrucksvolle Bauten geschaffen, die auch Einfluss hatten auf den weiteren Kirchenbau in den Niederlanden, wie z. B. die Gereformeerde Kirche in Nagele (1960) von Van den Broek & Bakema, die Marathanakirche (1963) in Nijmegen von W. Ingwersen oder die Sionskirche (1963) in Arnheim von M. F. Duintjer (Abb. 15, Abb. 16, Abb. 17). Andere Architekten bauten dementgegen in bekannter und althergebrachter Weise, ohne der Traditionsgeschichte so radikal abzusprechen. Als Vertreter der so genannten Delftse School bzw. der traditionalistischen Architektur entwarfen u.a. A. Kropholler, H. A. und G. Pothoven und Granpré Molière zahlreiche Kirchenbauten. Ihre Kirchenbauten, darunter die St. Paschalis Baylonkerk (1921) in Den Haag und St. Franciscus 361 Berghoef 1952, Bekaert 1967, 7f. 363 Bekaert 1967,

105 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Assisie Kirche in Nijmegen (1949, 1997 abgetragen) von Kropholler, die Opstandingskerk (1965) von den Architekten Pothoven in Bilthoven oder die Onze Lieve Vrouwe Altijd Durende Bijstand Kirche (1952) im Stadtteil Heuvel in Breda und die Onze Lieve Vrouwe van Lourdes Kirche in Amsterdam Slotermeer (1957) von Granpré Molière, sind exemplarische Beispiele einer katholischen Kirchenbaukunst, die sich auf bewährte Traditionen in Aufbau und Formgebung eines Kirchenbaus bezieht (Abb. 18, Abb. 19, Abb. 20). 364 In der kirchentypischen Formgebung der Türme, der Eingangsportale, der Fassaden und des Grundrisses sind bei diesen Bauwerken deutliche Rückbezüge auf die historische Kirchenbaukunst abzulesen. Insbesondere bei Kropholler (Martelaren van Gorcum Kirche Amsterdam, 1929) und seinen Nachfolgern herrschte eine andere Sicht auf den Kirchenbau als die Modernisten dies propagierten. Auf Basis von handwerklicher Einfachheit und Funktionalismus entstanden kurze, breite katholische Kirchen mit freier Sicht auf den Altar und einer sichtbaren Deckenkonstruktion. Laut Kropholler war die Basis jeglicher Baukunst ohne Zweifel ein bestimmter Funktionalismus. Es gäbe stets die Tendenz, um das äußere eines Gebäudes an seine Funktion anzupassen. Doch sei für die Wiederbelebung des Kirchenbaus eine Suche nach neuen Baustilen und neuen Materialien nicht notwendig. 365 Diesem Aspekt hingegen widersprachen die Modernisten, die versuchten mit neuen Formen und Materialien den Kirchenbau auf die nächste Stufe im Modernismus zu heben. Allein die Frage, ob Kirchen auf Dauer in Stahlbeton ausgeführt werden sollten, wurde in katholischen Kreisen rege diskutiert. 366 Dieser Erneuerungsgedanke schied somit die Geister. Neben Formgebung, Baustil und Material waren auch die funktionale Anpassung an neue liturgische Programme und die Einfügung des Baukörpers in das Stadtbild von maßgeblicher Bedeutung. Der große Nachfrage an Kirchenneubauten führte in den 1950ern dazu, dass man schon über konkrete Bauten und deren Einrichtung nachdenken musste, während die so bezeichnete liturgische Frage, d. h. die Formgebung des liturgischen Programms noch ungeklärt in der Diskussion war. Im Kontext dieses zunehmenden Bedarfs an Neubauten in beispielsweise Neubausiedlungen und neu erschlossenen Stadtvierteln, erhielt die Frage nach dem Wesen des neuen Kirchenbaus bedeutende Aktualität. Denn die Anzahl an Kirchenneubauten, Restaurierungen wegen Kriegsschäden oder Verfall und Gebäude mit kirchlicher Funktion stieg nach dem Krieg in die Hunderte. 367 Im Wiederaufbau der Niederlande drehte sich die Kirchenbaufrage in erster Linie um die Anpassung des Kirchenbaus an das neu entwickelte liturgische Programm und die Implementierung der Kirchenarchitektur in das Stadtbild und die Planologie. 368 Die architektonische und städtebauliche Debatte wurde von den 1930er bis in die 1950er durch die polarisierende Diskussion zwischen Modernisten und Traditionalisten beherrscht. Hierdurch 364 Siehe auch Van Oppen und Granpré Molière Siehe Kropholler 1949/50, Siehe u.a. die Diskussionsbeiträge in Katholiek Bouwblad von De Bruyn und Koldewey 1955b. 367 Eine Bemühung eine Übersicht zu bekommen über den nachkriegszeitlichen Kirchenbau in den Niederlanden stellt das Werk von Blankesteijn-Blees und Blankesteijn 1963 dar. 368 Die Bedeutung zur aktuellen Frage des Umgangs mit Kirchenbauten der Nachkriegszeit ist u.a. auch schon in den Publikationen von Bosma 1995; Kuipers 2002 und Doevendans und Van der Harst 2004 zu sehen. Melchers hat diese Frage in ihrer Arbeit ebenfalls aufgegriffen. Siehe Melchers Die Analyse der letzten Jahre zur Frage der Neubestimmung vieler funktionslos gewordener Kirchenbauten zeigt die Aktualität der Untersuchung. 103

106 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef kamen die Diskussionspunkte von Form, Material, Technik, Charakter und Moral in diesem Aufgabenbereich der Baukunst zurecht. Die Zerstörung des Zweiten Weltkriegs als auch die Stadterweiterungen in den 1950er Jahren und die Erschließung von neuen Siedlungen in den neu gewonnenen Poldern führte zu einer steigenden Nachfrage nach Kirchenneubauten. 369 In den neuangelegten Stadtvierteln, wie beispielsweise in Den Haag, formten wijkkerken (Stadtteilkirchen) als kleine Gemeindekirchen die zentralen gesellschaftlichen Angelpunkte der Siedlungen. Der Bauboom jener Zeit bildete dadurch eine Plattform vieler Aufträge, Möglichkeiten und Experimente im Kirchenbau für zahlreiche Architekten. Dabei wurde besonders in Zeiten von Materialknappheit mit den neuen Materialien Stahl und Beton im Kirchenbau experimentiert. Die Verwendung neuer Baumaterialien brachte hierbei auch neue Formgebungen mit sich mit. Die `traditionelle Form des Kirchenbaus, d. h. das gängige Bild einer Kirche, gekennzeichnet durch einen das Stadtbild prägenden Turm, eine repräsentative Eingangssituation, einen hoch aufragenden Baukörper auf einen in der Regel mehrschiffigen Grundriss, geriet durch das Erneuerungsstreben der Modernisten in Zugzwang. Und doch wurden diese den Kirchenbau als solche kennzeichnenden Formelemente (Glockenturm, Fassade, länglicher schiffartiger Aufbau u.a.) immer wieder von den verschiedenen Architekten aufgegriffen, wie die oben genannten Beispiele zeigen. Berghoef, der in der bisherigen Historiografie in den Bereich des Delfter Traditionalismus eingeordnet wurde, hat mit seinen Kirchenbauten noch keine chronologische und analytische Betrachtung erfahren. Gleichwohl sind auch seine Kirchenbauten eine Antwort auf die Anforderungen, die die zeitlichen Umstände und Gegebenheiten auf die Kirchenarchitekturen und deren Entwerfer ausübten. Auch er setzt sich mit den Fragen nach (gesellschaftlicher) Funktion, Charakter und Erkennbarkeit des Kirchenbaus auseinander und befasste sich mit den verschiedenen Möglichkeiten der Raumformung und der Anwendung verschiedener Materialmöglichkeiten seiner Zeit. 369 Durch die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs waren mehr als vierhundert reformierte Kirchen in den Niederlanden zerstört worden. Vgl. Beusekom, H. G. van: Ten geleide in: Van Mourik 1957,

107 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 15 Le Corbusier. Notre-Dame du Haut in Ronchamp, Abb. 16 Van den Broek & Bakema. Gereformeerde Kerk am Ring in Nagele, Abb. 17 W. Ingwersen. Marathanakerk Steenbokstraat in Nijmegen,

108 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 18 A. Kropholler. St. Franciscus Assisie Kirche in Nijmegen (1949, 1997 abgetragen). Abb G. und H. A. Pothoven. Opstandingskerk, Eerste Brandenburgerweg in Bilthoven, Abb. 20 M. J. Granpré Molière. Onze Lieve Vrouwe Altijd Durende Bijstand Kirche im Stadtteil Heuvel in Breda,

109 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Berghoef und sein Beitrag zum niederländischen Kirchenbau im 20. Jahrhundert Berghoef kann nicht als großer Kirchenbauer bezeichnet werden. Doch brachte die Wiederaufbauperiode mit der stetigen Ausbreitung von Städten auch diese Bauaufgabe in sein Werkrepertoire. Darüberhinaus saß Berghoef in verschiedenen Kommissionen, die sich den verschiedenen Fragen rundum Kirchenbau beschäftigten. 370 Und seine Sammlung an Reisezeichnungen zeigen vielfach das Interesse für den Rhythmus und die Harmonie der italienischen Kirchenarchitektur der Städte Siena, Perugia und Torcello. 371 Seine eigenen Entwürfe für diese Bauaufgabe sind repräsentativ für das breite Problem des modernen kleinmaßstäblichen Kirchenbaus der Nachkriegszeit, das Bekaert adressiert. Der erste Entwurf Berghoefs für einen Kirchenbau datiert in das Jahr Bei dem Wettbewerb der Doopsgezinde Gemeinde in Aalsmeer wurde sein Entwurf zwar nicht genommen, sondern der von J. F. Staal ausgeführt, doch führte Berghoef die späteren Umbauten von 1950 aus erhielt Berghoef schließlich den Auftrag für Pläne einer Hervormden Kirche mit anliegender Pfarrei am Oosteinderweg in Aalsmeer. 372 Letztlich kam nur das Pfarrgebäude zustande, und die Kirche wurde in veränderter Form als Notkirche (Abb. 21) ausgeführt, wobei Berghoef teilweise die Regie führte und die Ausstattung mit einer Heizungsanlage versorgte war das Architektenbüro Berghoef &Klarenbeek an Umbauarbeiten der Kirche beteiligt. 373 Abb. 21 Berghoef & Klarenbeek, N.H. Oosterkerk am Oosteinderweg 269 in Aalsmeer, Als erstes vollständig ausgeführtes Kirchenprojekt Berghoefs ist die so genannte Lijnbaankerk (1936) der Christelijke Gereformeerde Kerk in Aalsmeer zu nennen. 374 (Abb. 22) Beginn der 1930er Jahre wurde der bestehende Kirchenbau dieser kirchlichen Gemeinde an der Zijstraat in Aalsmeer zu klein, so dass ein Neubau auf einem Grundstück zwischen Dorpstraat und Oosteinderweg beschlossen wurde. Zwecks Entwurfs trat man an Berghoef heran, dessen erste Pläne jedoch über die Finanzierungskraft der Gemeinde hinausgehen. Berghoef wird 370 Berghoef war als Reichkommissiar Mitglied der Kommission zur Beurteilung der Pläne des Katholieke Cursus Kerkelijke Architectuur. Siehe Kranendonk Siehe BERX s BERX 99, BERX BERX

110 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef hierauf zitiert mit dem Ausspruch: Ein Kirchenbau stellt nun einmal Forderungen. 375 Nach zahlreichen Änderungen wird 1935 ein Entwurf für gut befunden und der Bau 1936 in Gebrauch genommen. Es handelt sich um einen dreiteiligen Baukörper, mit einem rechtwinklig angeschlossenen Bauelement. Die Silhouette wird bestimmt von unterschiedlichen Dachhöhen, wobei der mittlere Saaltrakt überragt. Die Baukörper umschließen einen Vorplatz, der über eine Zugangsbrücke betreten werden kann. Auf dieser Zugangslinie befindet sich auch der nur mit einem Rundbogen und einer Dachkapelle betonte Eingang. Das Interieur des Kirchenraums weist mit seinem offenliegenden hölzernen Dachstuhl den Charakter des schuurkerk-typus (dt. Scheunenkirche) auf (Abb. 23). Sachlichkeit und Einfachheit der finanziellen und materiellen Mittel sprechen aus dieser Behandlung des Interieurs. 375 Übersetzung JM: Originalzitat: Een kerkgebouw stelt nu eenmaal eisen. laut Van Heuvelen 1994,

111 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 22 Berghoef & Klarenbeek, Chr. Gereformeerde Kirche an der Lijnbaan 5 Aalsmeer, Abb. 23 Berghoef & Klarenbeek. Interieur der Lijnbaankerk, Blick Richtung Orgel und Kanzel, Foto: vermutlich kurz nach Anbringung der Orgel Auf diese frühen Bauten folgen erst nach dem Zweiten Weltkrieg zwei weitere Kirchenbauten in Westkapelle in der südniederländischen Provinz Zeeland: Die Gereformeerde Kirche ( , Abb. 24) und die protestantische Moriakirche ( ). Letztere entstand am Marktplatz des Dorfes und unterscheidet sich besonders hinsichtlich der Innenraumgestaltung von ihrem Gereformeerden Pendantbauten in Westkapelle und Aalsmeer 109

112 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef (Lijnbaankerk). 376 Es handelt sich bei der Moriakerk zwar ebenfalls um eine Scheunenkirche mit rechteckigem Grundriss (17 x 24m) und mittig aufgesetztem weißen, hölzernen Glockentürmchen. (Abb. 25, Abb. 26) Seitlich hieran gliedern sich vergleichbar mit dem L- förmigen Grundriss der Lijnbaankirche die Annexräume der Gemeinde und die Küsterwohnung. Diese Anordnung von Hauptbau und anliegendem Langbau ist schon in den frühen Plänen von 1948 zu finden, mit der Absicht durch diese Komposition der Baukörper den Marktplatz an dieser Ecke besonders einzurahmen. Das Innere der Kirche zeichnet sich durch einen rechteckigen Saal aus, der durch eine mittige Säulenstellung in zwei Schiffe geteilt ist. In beiden Raumkompartimenten sind Bankreihen linear auf das Andachtszentrum ausgerichtet, das eine der Hälften besonders in den Fokus nimmt. Die achteckigen von Backstein ummantelten Stahlbetonsäulen lassen in der Kapitellzone am Übergang zum tragenden Balken die innenliegende Betonkonstruktion zum Vorschein treten. (Abb. 27, Abb. 28) Die querliegenden horizontalen Balken unterbrechen die Längsausrichtung des Raums, während die Konsolen an den Wänden die Balkenauflager betonen. Mit diesem Kirchenbau beginnt eine neue Phase in der Raumgestaltung der Kirchenbauten von Berghoef & Klarenbeek. Der Scheunentypus mit der deutlichen Konstruktion des hölzernen Dachstuhls wird verlassen zugunsten einer Formgebung, die stärker den horizontalen und vertikalen Aufbau betont. D. h. unter Verwendung neuer Materialien wie Beton wird der Raum des Kirchensaals überspannt und getragen, denn dieser nahm qua Ausmaß im Vergleich zu den vorherigen Bauten zu. Abb. 24 Berghoef & Klarenbeek Zeitgenössische Aufnahme des Kirchenraums der Gereformeerde Kerk an der Bartstraat in Westkapelle, Diese Art der Raumgestaltung wird als Scheunenkirche (schuurkerktypus) bezeichnet. 376 BERX

113 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 25 Berghoef & Klarenbeek, Moriakirche am Markt 67 in Westkapelle, 1951, Zustand Abb. 26 Berghoef & Klarenbeek, Entwurf zur Moriakirche,

114 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 27 Berghoef & Klarenbeek. Interieur der Moriakirche (kurz nach der Fertigstellung 1948) mit den Backstein-Betonsäulen. Abb. 28 Berghoef & Klarenbeek. Detail zur Ausführung der tragenden Säulenstellung für die Moriakirche in Westkapelle. Parallel zu den Kirchen in Zeeland entstand zwischen 1949 und 1953 nach vergleichbarem Prinzip der schuur-als-schuilkerk (Scheune als Unterschlupfkirche bzw. Scheunenkirche) der Entwurf für die Zuiderkirche an der Hortensialaan in Aalsmeer. 377 (Abb. 29, Abb. 30) Kennzeichnend für die Zuiderkirche ist auch hier die geschlossene kantige Form auf quadratischem Grundriss. 378 An der Eingangsseite brechen eine Reihe kleinformatiger Fensteröffnungen und das runde Dachkapellenfenster die Fassade. Auffallend besitzt die Kirche keinen zentralen, sondern zwei gleichförmige Eingänge mit Holzportalen. Diese sind aus der 377 Der Kirchenbau als Scheunentypus wird besprochen von Mourik, der sich insgesamt drei Kirchenbauten Berghoef & Klarenbeeks widmet. Vgl. Mourik 1957, 129; Eine kritische Rezension hat dieses Buch später erfahren durch Henselmans Betreffende Stücke siehe BERX 278, s

115 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef zentralen Symmetrie nach links verschoben. Das Interieur der Zuiderkirche weist den gleichen offenen Umgang mit den verschiedenen Baumaterialien (Backstein, Holz und Stahlbeton) auf, wie zuvor die Moriakirche. Doch sind hier die vier markanten Stützsäulen ohne Backsteinummantelung in Beton ausgeführt (Abb. 31, Abb. 32). Auf dem quadratischen Grundriss wurde ein flexibel einzuteilender Raum gestaltet, der durch die Positionierung des Gestühls und die Aufstellung der Kanzel seine Ausrichtung erhält. Die Backsteinwände wurden unverputzt gelassen. Abb. 29 Berghoef & Klarenbeek. Zuiderkirche an der Hortensialaan in Aalsmeer, Abb. 30 Berghoef & Klarenbeek. Grundriss der Zuiderkirche an der Hortensialaan in Aalsmeer, Hier noch mit halbrunder Anordnung der Sitzplätze. 113

116 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 31 Berghoef & Klarenbeek. Interieur der Zuiderkirche in Aalsmeer, Blick Richtung Kanzel. Zustand Abb. 32 Berghoef & Klarenbeek. Interieur der Zuiderkirche in Aalsmeer, Blick Richtung rückwärtige Empore. Zustand Nach dem Bau der Zuiderkirche folgte 1956 die Triumphatorkirche (heute Open Hof Kirche) an der Ophelialaan in Aalsmeer. 379 In diesem Kirchenbau ist der Wechsel im Baumaterial und in der Raumstruktur im Vergleich zu den vorhergehenden Kirchen Berghoefs markant. Der Baukörper tritt als Langbau mit flachem Satteldach in Erscheinung (Abb. 33). An der Zugangsseite ist der Bau kaum als Kirche zu identifizieren, nur der rückwärtig liegende, 379 Die Zuiderkerk war bis 2008 in Gebrauch und wartet seitdem auf neue Bestimmung, unter Befürchtung eines möglichen Abriss. Die Triumphatorkirche wurde neues Kirchenhaus der Gemeinde. Vgl. Witte Weekblad, 5 Juli Archivstücke siehe unter BERX 357, s

117 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef kaum aufragende Glockenturm liefert eine Andeutung zu Funktion dieses Gebäudes. Das vorgelagerte in Holz ausgeführte Zugangsportal lässt ferner vermuten, dass es sich hier um keinen gewöhnlichen (Wohnungs-)bau handeln kann. Die Kirche besitzt einen rechteckigen Grundriss (18 x 28m) und bietet mit einem angrenzenden Saal bis zu 800 Sitzplätze. Der Saal mit offenlegender Dachkonstruktion in Stahl wird durch zwei Säulenstellungen von je sechs in ein Hauptschiff und zwei Seitenschiffe geteilt (Abb. 34). 380 Durch die mittige Längsachse erhält der Raum eine starke Ausrichtung auf die Kanzel, die erhöht und prominent das Zentrum des Raumes darstellt. Die Orgelwand hinter der Kanzel tritt hier als großformatiges Kunstwerk in Erscheinung, so dass die Orgel als solche nicht wahrgenommen wird. Es ist auffällig, dass hier keine Abendmahlstafel und Taufbecken prominent in Erscheinung treten. Eine Erklärung dieses Zustands kann an dieser Stelle leider nicht gegeben werden. Ein markantes Merkmal der Kirche ist die Raumwirkung, die der Architekt Berghoef hier mittels der Stahlkonstruktion zustande gebracht hat. Die Pfeiler waren ursprünglich weiß gestrichen, so dass ein starker Kontrast geschaffen wurde zwischen dem Backstein der umschließenden Außenmauern und der tragende Konstruktion der Pfeiler und des Dachs. Die nachdrückliche Offenlegung der Bauweise verleiht dem Raum eine äußerst konstruktive Wirkung. Die basilikale Grundform wird einzig durch die tragenden Elemente der Konstruktion angedeutet. Abb. 33 Berghoef & Klarenbeek. Triumphatorkirche an der Ophelialaan 247 in Aalsmeer, Die zwölf Säulen sollen auf die Zwölfzahl der Apostel verweisen. Siehe Basiliek van Aalsmeer Artikel De Basiliek van Aalsmeer in: Centraal Weekblad, ten Dienste van de Gereformeerde Kerken in Nederland, , 61 (in: BERX 357 (0056)). 115

118 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 34 Berghoef & Klarenbeek. Triumphatorkirche Aalsmeer, Interieur mit Blick auf die Kanzel. Abb. 35 Berghoef & Klarenbeek. Johanneskirche an der Bonedijkstraat in Vlissingen, 1955 (abgetragen 1996). 116

119 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 36 Berghoef & Klarenbeek. Interieur der Johanneskirche in Vlissingen, Blick Richtung rückwärtige Empore Abb. 37 Berghoef & Klarenbeek, Interieur der Johanneskirche in Vlissingen, Blick Richtung Kanzel, In Anschluss hieran entstand die Johanneskirche in Vlissingen (1955) (Abb. 35) In seiner äußeren Formgebung weicht der Bau sowohl von den frühen Kirchen in Aalsmeer als auch Westkapelle ab. So handelt es sich hier um einen beinahe quadratischen Baublock, der sich mit einer kantigen Silhouette, einem auf Eck gesetztem Glockenturm und dezentralen Eckeingang 117

120 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef an der Bonedijkestraat in Vlissingen entfaltet. Auffällig ist das erstmalige Fehlen eines Spitzdaches in der Reihe von Berghoefs Kirchenbauten. Das aufgehende Backsteinmauerwerk schließt an der Oberkante mit nach innen fallenden Dachziegelrändern. Die flache Fassade wird strukturiert von hellen und dunklen horizontalen Backsteinbändern unterschiedlicher Breite. Während sich zur Straßenseite auf Höhe des Erdgeschoß eine Reihe von kleinen Fenstern befindet, sind in der Fassade links des Eingangs drei hochplatzierte rechteckige Bleiglasfenster eingelassen. Ein weiteres Augenmerk fällt auf die Gestaltung des Eingangs. Nicht nur die Ecklage ist ungewöhnlich, sondern auch der in zwei Holzpavillons ausgeführte Vorbau verdeckt den eigentlich Zugang, der in der Achse des flachen aber hoch ausgeführten Glockenturms positioniert ist. Der Innenraum der Johanneskerk in Vlissingen überrascht im Vergleich zu den vorhergegangenen Kirchenbauten durch seine Ausmaße und weitläufige Wirkung (Abb. 36, Abb. 37). Auf beinahe quadratischem Grundriss ist der Kirchenraum von einer Mittelachse orientiert auf ein liturgisches Zentrum, auf dem die Abendmahlstafel zentral steht. Die leicht aus der Achse gerückte Kanzel und das Taufbecken machen die liturgische Dreizahl komplett. Die Bankreihen sind in leicht schräger Anordnung hierhin ausgerichtet, erweitert durch zwei kleinere Bankkompartimente links und rechts der Kanzel. Im Kontrast zum weiß gestrichenen Backstein der Wände stehen die fünf dunkleren hölzernen Tonnengewölbe, die gestützt durch die Pilaster an den Stirnwänden dem Raum den Ansatz einer fünfschiffigen Struktur verleihen. Die Lichtführung zeigt sich in diesem Kirchenraum sehr asymmetrisch. Während zur linken Seite die drei bereits von außen sichtbaren Fenster Lichteinfall gewähren, wird die gegenüberliegende Seite von einer langen Reihe sehr hoher, schmaler Fenster durchbrochen. Der erhält hierdurch einen von außen noch unerwarteten Lichteinfall. Der Bau ist nicht mehr erhalten, sondern musste 1996 einem Wohnungsbauprojekt weichen. Den letzten Abschnitt seiner Kirchenbauertätigkeit hat Berghoef den Wiederaufbautätigkeiten einer der niederländischen Großstädte zu verdanken, die ihm drei Bauaufträge in neuen Stadtteilen in Den Haag einbrachte: die Pauluskirche (1954), die Johanneskapelle (1959) und die Markuskirche (1961). Diese Aufträge unterscheiden sich von den vorherigen insofern, als dass diese Kirchenbauten in einem anderen städtebaulichen Kontext entworfen wurden. Während die frühen Kirchenbauten in Aalsmeer und Westkapelle in kleinstädtischer bzw. ländlicher Umgebung errichtete wurden, waren die Kirchenbauten in Den Haag bestimmt als Gemeindekirchen innerhalb eines neuen Wohnviertels. Erstgenannter Bau, die Pauluskirche am Wielewaalplein im Vogelwijk wurde im Oktober 1954 in Gebrauch genommen. 381 Da der Kirchengemeinde nur ein sehr schmales Baugrundstück zur Verfügung stand, musste der Architekt bei der Ausführung des gewünschten Bauprogramms der sehr geringen Grundfläche Rechnung tragen. Die Gestaltung eines vorliegenden Platzes wie bei der Lijnbaankirche oder der Moriakirche war ausgeschlossen. Diese Kirchenarchitektur bestand darum aus einem hochaufragenden Mittelbau aus gelbem Backstein, um den sich rundherum flache Anbauten anschlossen. (Abb. 38) An der Vor- und Rückseite befanden sich Zugänge via einer jeweiligen Pergola. Ein großes Kreuz an der Vorderseite machte dem Vorbeigehenden 381 Betreffende Stücke im Archiv Berghoef: BERX

121 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef deutlich, dass es sich bei diesem Bauwerk um eine Kirche handelte. 382 Ferner zierte ein mit Kupfer beschlagener Glockenstuhl die Vorderseite. Die Eingangsseite wurde bestimmt durch drei weiße/helle Holztüren, von denen die mittlere betont nach vorne sprang Durch einen Vorraum gelangte man in den Kirchensaal, der Raum für etwa 600 Sitzplätze bietet. Dieser hoch aufragende Raum wurde im unteren Abschnitt von zwanzig viereckigen Betonpfeilern eingefasst, die einen umlaufenden Betonbalken tragen, auf dem das aufgehende Mauerwerk sich erhob. Wie schon bei der Gereformeerde Kirche in Aalsmeer wurde hier ein Kontrast hervorgerufen zwischen dem hell gestrichenen Beton und dem dunklem Backstein. Im oberen Bereich des Saals befanden sich zu jeder Langseite neun große Fenster zu je zwei Reihen übereinander und eine Anzahl kleiner Fenster darüber. An der kurzen Stirnseite des Raums über der Kanzel befand sich ein großes Rundfenster mit verzierter Bleiverglasung. Dass die Anordnung der Fensterreihen nicht zufällig oder aus rein ästhetischen Überlegungen geschah, zeigt eine Studie zum Lichteinfall aus dem Archiv Berghoef (Abb. 41). 383 Die Architekten Berghoef und Klarenbeek haben sich demzufolge auch intensiv mit der Frage nach bestmöglichem Lichteinfall und natürlicher Beleuchtung des Saals und der Nebenräume beschäftigt. Was den Aufbau und die Einrichtung des Saals betrifft, ist anzumerken, dass auch hier der Raum auf das erhöhte liturgische Zentrum längsgerichtet ist. Die hier in der Längsachse befindliche Abendmahlstafel wurde von der Kanzel überragt und zur rechten Seite von dem Taufbecken flankiert. Der hohe Kirchenraum öffnete seine Langseiten zu den viel niedriger gehaltenen Seitenschiffen (Abb. 39). Sie dienten als Erweiterung für den großen Saal und/oder als gesonderte Nebenräume. Zusätzlich gab es weitere Annexräume, die den rechteckigen Grundriss des Gebäudes vervollständigten. Der Künstler Goeting bekam die Möglichkeit in den flachen Anbauten die Wände mit sgraffitos auszustatten und damit das Kircheninterieur lebendiger zu gestalten. Die Pauluskirche erhielt in der zeitgenössischen Besprechung einige Aufmerksamkeit und Erwähnung. So sprach Architekt Gerrit W. Tuynman 1957 in Bezug auf die Pauluskirche seine Überraschung darüber aus, wieviel Freiheit die Tradition gewähre, wenn man das Wesentliche bewahre. 384 Dieser Kirchenbau passte demzufolge in die Tradition des protestantischen niederländischen Kirchenbaus, ohne frühere Kirchen direkt zu imitieren. Denn wir Tuynman richtig bemerkt, ist in diesem Bau nichts eindeutig traditionell. Wegen Leerstand in 2002 wurde das Schicksal dieses Baus ebenfalls mit einem Abriss besiegelt Vgl. auch die Beschreibung bei Van der Weel 1975, BERX 331 (0328). 384 Tuynman 1957, Das Gedenkbuch Griffioen 2002 erinnert an das Gemeindeleben in dieser Kirche. Ferner sind Abbildungen im Beitrag von Fledderus 1958, 191, zu finden. 119

122 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 38 Berghoef & Klarenbeek. Entwurf für die Pauluskirche an der Sijzenlaan 35a in Den Haag, Ansicht Seitenfassade, Abb. 39 Berghoef & Klarenbeek. Interieur der Pauluskirche, Blick Richtung Kanzel, Im Hintergrund rechts ein Sgraffito von Jan Goeting. 120

123 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 40 Berghoef & Klarenbeek. Grundriss der Pauluskirche in Den Haag. Abb. 41 Berghoef & Klarenbeek. Lichtstudie für die Pauluskirche in Den Haag, vermutlich Auf die Pauluskerk in Den Haag folgte 1959 die Johanneskapelle an der Bosbesstraat, die heute den Namen Bosbeskapel trägt. 386 (Abb. 42) Dieser Kirchenkomplex besteht aus einem Saalbau mit angegliederten Nebenräumen und einer Küsterwohnung. Für den Kirchenbaukomplex wurden gelber Backstein und graue Dachpfannen verwendet, so dass sich der Bau von der umliegenden Bebauung mit ihrem (dunkel)rotem Backstein unterscheidet. Als Besonderheit ist die Gestaltung des Mittelteils zu nennen, bei der dunkelbraunes Holzwerk die Fassade in zwölf Fächer gliedert (Abb. 43). Neben dem großen Kopfbau mit der geschwungenen Dachlinie, kennzeichnet ein Glockenhäuschen an der Kurzseite die kirchliche 386 BERX

124 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Funktion der Architektur. Als Inspirationsquelle für diese Formgebung könnte u.a. ein Versammlungsgebäude der Universität Århus/Dänemark gedient haben, denn ein Foto dieses Gebäudes ist als Restant einer seiner Skandinavienreise im Archiv des Architekten zu finden (Abb. 44). 387 Ferner zeigen die Goede Herderkerk (1953, Architekt F. A. Eschauzier) in Oosterbeek und die Bethlehemkerk in IJmuiden (1956, Architect J. Schipper) eine ähnliche Formgebung mit bauchigem Grundriss und geschwungener Dachlinie (Abb. 45, Abb. 46). Den Zugang zur Kirche erhält man durch den mittigen liegenden flachen Bauteil. Von dieser Empfangshalle aus erreicht man sowohl die Gemeinderäume als auch den Kirchensaal. Da es sich hier um eine Verdiepingskerk (dt. Etagenkirche) handelt, muss man eine von Stahlträgern flankierte Treppe empor, bevor man den erhöhten Kirchenraum erreicht (Abb. 47, Abb. 48). Unter dem Orgelbalkon hindurch führt eine Längsachse in den etwas bauchigen achteckigen Raum. Die Seitenwände ziehen sich in Richtung des liturgischen Zentrums etwas ein, so dass der Blick, unterstützt durch die ansteigende Dachlinie, hierhin geführt wird. Die Kanzel nimmt hier ebenfalls die zentrale Position ein. Die Raumwirkung wird des Weiteren stark bestimmt von der sichtbaren Baukonstruktion (Abb. 49). Zehn blaue Stahl-Pilaster, fünf zu jeder Seite, setzen sich als Dachspanten fort und tragen auf diese Weise das Satteldach. Unter dem eigentlichen Kirchensaal, mit einem Bodenniveau, das etwa 80 cm unterhalb der der Straßen liegt, befindet sich eine Anzahl verschiedener Räumlichkeiten zur Nutzung von Gemeindegruppen etc. Durch dieses Raumangebot kennzeichnet sich die Kirche auch heute noch als multifunktionales Zentrum dieses Stadtteils von Den Haag. Abb. 42 Berghoef & Klarenbeek, Johanneskapelle an der Bosbesstraat 7 in Den Haag, 1959, Foto BERX ph3 (0550). 122

125 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 43 Berghoef & Klarenbeek. Johanneskapelle an der Bosbesstraat 7 in Den Haag, links die Küsterwohnung, rechts die Kirche, dazwischen Verbindungsbau mit Gemeinderäumen. Foto kurz nach der Fertigstellung Abb C. F. Møller und K. Fisker. Versammlungsgebäude der Universität Århus in Dänemark, Foto aus dem Archiv Berghoef, einer Skandinavienreise entstammend, ohne Datum (vermutlich Fünfziger Jahre). Abb. 45 F.A. Eschauzier. Goede Herder Kirche am Utrechtseweg in Oosterbeek,

126 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 46 J. Schipper, Bethlehemkirche am Radarweg in IJmuiden, Abb. 47 Berghoef & Klarenbeek. Zugang zum Kirchensaal der Johanneskapelle in Den Haag. Foto kurz nach der Fertigstellung

127 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 48 Berghoef & Klarenbeek, Längsschnitt durch die Johanneskapelle, Beispiel einer `verdiepingskerk. Entwurf Mitte 1950er Jahre. Abb. 49 Berghoef & Klarenbeek. Interieur der Johanneskapelle in Den Haag, Zustand Entlang der Jan Luykelaan wurde 1961 der dritte Haager Kirchenbau des Architektenbüros Berghoef & Klarenbeek eingeweiht: die Markuskirche. 388 Hochgezogen in 388 BERX 450,

128 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef gelbem Backstein, erstreckt sich der mehrteilige Kirchenbau mit seiner breiten Hauptseite an einem kleinen Vorplatz. (Abb. 50) Der mittlere und höhere Abschnitt ist im Erdgeschoß in Glas ausgebildet und stellt den Hauptzugang dar, flankiert von der Küsterwohnung und der Pfarrei. Der Haupttrakt schließt oben mit der vertikalen Front des Pultdachs ab. Diese wird durch zwei übereinanderliegende Fensterreihen rhythmisiert. An der Mauer neben dem Haupteingang ist ein monumentales Mosaik-Kunstwerk des Künstlers Jan Goeting mit einer Markusdarstellung zu sehen. 389 Der Zugang zum Kirchenraum führt links vom Eingang über eine Treppe in die erste Etage. Dieser Kirchenraum erhält seine Wirkung durch das von außen schon zu sehende Pultdach. (Abb. 51, Abb. 52) Gestützt wird dieses Dach von einer stählernen, blauen (heute weiß gemalten) Balkenkonstruktion, die den Raum gleichzeitig optisch mit einer mittigen Achse versieht. Eine Art Seitenschiff bildet sich im rechten Bereich auf etwas erhöhtem Bodennivau aus, getrennt vom Hauptraum durch vier Pfeiler. Ursprünglich sollte dieser Bereich dem Sakrament des Abendmahls dienen, wurde aber schnell als zusätzlicher Raum für Gestühl genutzt. Insgesamt können ca. 500 Menschen einem Gottesdienst in der Markuskirche beiwohnen, wobei das Kirchengestühl getrennt durch einen Mittelgang auf das liturgische Zentrum mit betonter Kanzel, Abendmahlstafel und seitlich stehendem Taufbecken orientiert ist. Die Beleuchtung des Saals geschieht durch eine Vielzahl an Fenstern an den beiden Langseiten des Saals. Eine Neuerung, der wir in der Reihe der Berghoef-Bauten entgegen kommen, sind die weiß gestrichenen Backsteinwände. Der Raum erhält hierdurch eine stärkere Helligkeit. Überdies zeichnet sich in der Markuskirche eine neue Auffassung des Raumes bei Berghoef ab. Es handelt sich um einen Aspekt, den wir bei bei der Johanneskapelle schon bemerken konnten. Der Kirchensaal wird hier im Gegensatz zu der früheren Basilikaform als zentraler einheitlicher Raum gehandhabt. Die räumliche Expression gewinnt in den Kirchenbauten der 1950er und 1960er Jahre bei Berghoef folglich zunehmend an Bedeutung. Es sei an dieser Stelle vermeldet, dass die Archivarbeit zur Markuskirche die stetige Veränderung und Verbesserung eines Entwurfs innerhalb des Architekturbüros Berghoef & Klarenbeek zutage brachte. Die anfänglich noch stark an ein traditionelles Äußeres eines Kirchenbaus erinnernde Fassadenentwürfe von 1950 und 1954 (Abb. 53), verwandelten sich im Laufe der 1950er Jahre zu einem Gestaltungsentwurf, der auch Parallelen zu anderen Kirchen mit Pultdach aufruft. Reisedokumente und Fotos aus dem Archiv Berghoef zeugen für die Kenntnis und den persönlichen Besuch diverser internationaler Kirchenbauten, wie die Andreä Kirche von Otto Jung in Stuttgart und Werner Moser in Zürich (Abb. 54, Abb. 55) Für mehr Details zu dem Kunstwerk siehe Korrespondenzen und Protokolle in BERX 450 (0119). 390 Vgl. ebenfalls Moser Sicht auf die zeitgenössische Situation der Kirchenbaukunst. Moser

129 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 50 Berghoef Klarenbeek, Markuskirche an der Jan Luykenlaan 92 in Den Haag, 19, Foto Abb. 51 Berghoef & Klarenbeek. Markuskirche in Den Haag. Interieur des Kirchensaals, Blick Richtung Kanzel. Foto

130 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 52 Berghoef & Klarenbeek. Markuskirche. Querschnitt, Überarbeiteter Entwurf von Abb. 53 Berghoef & Klarenbeek. Zwei frühere Entwürfe für die Markuskirche, 1950 (links) und 1954 (rechts). Abb Otto Jung, Andreäkirche in Stuttgart,

131 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb Werner Moser, Reformierte Kirche in Zürich Altstetten, 1942, Foto Die Versäulung in den Niederlanden und die Bauaufträge In der Nachkriegszeit waren in den Niederlanden im Wesentlichen drei Glaubensgruppen vertreten: die Hervormde, Gereformeerde und Katholische Kirche. Dieses Phänomen der Versäulung, wie es 1968 durch Arend Lijphart 391 genannt wurde, kennzeichnete sich durch eine Teilung der Gesellschaft in religiöse und politische Auffassungen, die im Sinne einer recht statischen gesellschaftlichen Trennung als Säulen charakterisiert wurde. Resultat war die Entstehung paralleler Institutionen und Organisationen wie Kirchen, Schulen, Krankenhäusern und Vereinigungen jeglicher Art in den einzelnen glaubensorientierten `Säulen. 392 Die Familie als Grundstein des Zusammenlebens fand eine besondere Betonung und äußerte sich auf architektonischer und städtebaulicher Ebene schließlich in der Idee des in sich vollständigen Stadtviertels. 393 Grundidee war, dass sich die Stadtteile als eigenständige Viertel und zentrale Treffpunkte der Gemeinschaft etablierten. Deshalb musste eine entsprechende Infrastruktur berücksichtigt werden. Die Kirche spielte hierbei im Zuge der Wiederherstellung der Gesellschaft nach 1945 zweifelsohne eine wichtige Rolle. 394 Dementsprechend sollte in jedem neu angelegtem Stadtviertel ein Kirchenneubau als neue dauerhafte Einrichtung realisiert werden, in gewünschter Form für jede Glaubenssäule je ein Gottes-Gemeindehaus. Aufgrund der großen Nachfrage wurden in der Folge Kommissionen eingerichtet, die über Architektenwahl und Grundstandards zu entscheiden hatten. Bei der Vergabe der Bauaufträge für Kirchenneubauten oder Restaurierungen wurde in der Regel ein Architekt aus der eigenen ideologischen Gemeinschaft gewählt. Dass der Kirchenbau in der Nachkriegszeit aufblühte hing dabei auch stark mit der Suche der Positionierung der Gemeinden in der modernen Gesellschaft zusammen. 395 Die Wahl des Architekten war in den meisten Fällen auch mit dessen Reputation verbunden. So bestand häufig eine gewisse Erwartungshaltung, in welche Richtung ein Entwurf gehen konnte und sicherlich auch sollte. 391 Lijphart Vgl. hierzu Kuipers über die Erstarkung der Lager protestantisch vs. katholisch, Kuipers 2002, Vgl. Bos Eine aktuellere und kritische Annäherung mit dem Ziel der Nuancierung zum `Mythos der Versäulung und Entsäulung in den Niederlanden entstammt der Feder von Peter Dam. Siehe Dam Vgl. Beitrag von Van der Ploeg 2007, 15. Siehe ferner zur Entsäulung und Modernisierung der Kirchengemeischaften: Kuipers 2002,

132 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Berghoef, der, wie bereits erwähnt, ein Architekt aus protestantischem Hause war, hat um die zwanzig Projekte verwirklicht, die an kirchliche Auftraggeber geknüpft waren. Den eigenen hervormde Glaubenshintergrund des Architekten berücksichtigend, überrascht es deshalb nicht, dass die Hervormde Kerk in den meisten Fällen den Auftraggeber darstellt. Nichtsdestotrotz war er auch ein aktives Mitglied der Beurteilungskommission für den Katholieke cursus kerkelijke architectuur. 396 Wir müssen Berghoef folglich als Architekt sehen, der seinerzeit in den verschiedenen Glaubensgruppen (Säulen) agierte, auch wenn er der eigenen Praxis der protestantischen Interpretation des modernen Kirchenbaus zuzuordnen ist. Theorieformung zum Kirchenbau vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Für die unmittelbare Nachkriegszeit waren drei Publikationen für die Diskussion um den aktuellen und zukünftigen protestantischen Kirchenbau von Bedeutung: Kerkbouw. Ontwerpen van den studiekring Eredienst en Kerkbouw (1942/42) von Daan Jansen, Protestantsche Kerkbouw (1946) von Jan Bakhuizen van den Brink und Protestantsche Kerkbouw (1946) von Karel Sijmons. 397 In der Folge zeichnet sich ab, dass in den Niederlanden die Diskussion über den Kirchenbau in den 1940er-50er Jahren stark hervormd geprägt war. Auf diesen Bereich der Publikationen wird im Folgenden auch das größere Augenmerk gesetzt, aufgrund des Fallbeispiels Berghoefs. 398 Eine Betrachtung der zahlreichen zeitgenössischen Publikationen, Artikel und Beiträge zum niederländischen Kirchenbau der Nachkriegszeit zeigt, dass sich die Diskussion sowohl um die architektonische Formgebung als auch die Bedeutung und Rolle des Kirchenbaus im Allgemeinen dreht. Eine ausführliche Analyse der Beziehung von Liturgie und Kirchenarchitektur in den verschiedenen Säulen der Niederlande lieferte M. Melchers mit ihrer Dissertation Nederlandse Kerkarchitectuur in de 20e eeuw. Functie en betekenis van het kerkgebouw in een veranderde samenleving (2011). Für eine ausführliche Betrachtung der verschiedenen Publikationen, Ausstellungen und Kongresse sei deshalb an dieser Stelle verzichtet und auf Melchers verwiesen. Festzuhalten gilt, dass die Diskussion um den modernen Kirchenbau in den verschiedenen Glaubensrichtungen nicht konstant getrennt voneinander stattfand. So zeichnet sich beispielsweise in den Beiträgen und Veröffentlichungen des R.K. Bouwblad, das 1929 vom Architekten Alphons Siebers gegründet wurde, ab, dass in den ausgehenden Jahren auch auf die protestantische Kirchenarchitektur von Gijsbert Friedhoff und Gerrit Feenstra geschaut wurde. In der Folge wurde ab 1942 auch das Prädikat R. K. weggelassen, um der Vielfalt der Stile gerecht zu werden. Nach dem Krieg wurde die Zeitschrift dann als Katholiek Bouwblad weitergeführt. In erster Linie sollte das R.K. Bouwblad sich der Analyse und Veröffentlichung der Kirchenarchitektur widmen, bestand im Wesentlichen jedoch aus Berichten über und von den Zusammenkünften der Treffen des A.K.K.V. in Huijbergen. 399 Dem gegenüber stand das internationaler orientierte avantgarde Blatt Wendingen ( ), das Organ der Architektengenossenschaft A & A. In seiner letzten Ausgabe erschien eine Themanummer Kerken, in der der Kirchenbau Säulen übergreifend betrachtet wurde. 396 Siehe hierzu Kranendonk Jansen 1942/43; Bakhuizen van den Brink 1946; Bakhuizen van den Brink 1949; Sijmons Für eine viel detailliertere Darstellung der Historiografie rundum den Kirchenbau in den verschiedenen Glaubensrichtungen sei hier verwiesen auf Melchers Siehe hierzu auch Teil 1 Kapitel

133 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Im sprichwörtlichen Zentrum der Diskussion stand das liturgische Zentrum, das sich architektonisch in der Regel als breites Podium im Kirchenraum darstellte. Gerade um dieses so genannte liturgische Zentrum dreht sich auch die Diskussion der Formgebung und Strukturierung des Kirchenraums. Denn mit der Entwicklung der modernen Architektur zeigt sich primär auch ein neues Raumverlangen, d. h. ein neues Bedürfnis nach Raum, das verwurzelt ist in der Erneuerung der modernen liturgischen Idee. Hier zeigt sich nach Ansicht des Architekten Bernardus J. Koldewey der Drang an große Formen anzuschließen und kleine Motive loszulassen. 400 Doch was bedeutet dies nun für die Idee und Bedeutung des `modernen Kirchenbaus? Durch diese neue Fragestellung wird die Kirche befreit vom spezifischen Kirchensein und kommt inmitten der Diskussion der Architekturkonzeption. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden verschiedene Studien und Arbeitsgruppen ins Leben gerufen, die sich mit der Funktion, der gesellschaftlichen Rolle und der Formgebung des `neuen, `modernen Kirchenbaus beschäftigen. Bei einer dieser Studiengruppen, die sich mit der aktuellen Frage nach dem architektonischen Wesen des Kirchenbaus beschäftigte, war Berghoef involviert, wobei sein eigener Anteil hierin aber nicht gut zu fassen ist. Doch können wir folgendes feststellen: 1949 nahm die Bouw- en Restauratiecommissie der Nederlands Hervormde Kerk Kontakt auf mit dem Institut für Baukunde an der Technischen Hochschule in Delft und gab den Auftrag sich der Kirchenbaufrage anzunehmen. Seit der Nachfolge Berghoefs auf die Professur Granpré Molières herrschte hier keine katholische Dominanz mehr in diesem Bereich stellte die Generale Synode der Nederlands Hervormde Kerk eine Kommission zusammen, darunter die Architekten Berghoef, Zwiers und Van den Broek, die damit beauftragt wurde einen Leitfaden für den Kirchenbau zu formulieren, der auch moderne Auffassungen beinhaltete. Das Resultat war Beginselen van Kerkbouw (1954), ein offizielles Dokument für den Umgang mit modernen Bautechniken, Materialien, Form- und Stilfragen im protestantischen Kirchenbau. Es beinhaltet neben allgemeinen Betrachtungen zu Monumentalität und Tradition auch praktische Hinweise über Mobiliar, Zentralheizung und Erläuterungen zu Türmen, Glocken etc. 401 Es ist auffallend, dass in dem Rapport keine konkreten Anweisungen hinsichtlich der zu verwendenden Bauform oder Stilproblemen zu finden sind. Begründet wird dies damit, dass es ein Missverständnis sei, anzunehmen, dass ein bestimmter Baustil, Materialien oder Konstruktionsweisen bestünden, die speziell kirchlich seien. 402 Denn der Kirchenbau sei eine autonome Architektur und solle deshalb auch autonom ihren Stil entwickeln, so der weitere Wortlaut des Rapports. Alle bekannten Bausysteme des 20. Jahrhunderts können als verwendbar in Betracht gezogen werden, weil auch der Kirchenbau die Sprache seiner Zeit spreche. Demgegenüber seien subjektive und modebedingte Formen für den Kirchenbau nicht anwendbar. Wenn möglich solle einer `objektiven, universellen Formgebung nachgestrebt werden. 403 Im Allgemeinen wird gewünscht, dass der Kirchenbau weiterhin `monumental sein sollte, d. h. mehr als nur als reine Nutzform in Erscheinung treten sollte. Dabei sollten nutzlose Experimente ebenso vermieden werden wie ein `verkehrt verstandener Traditionalismus. 400 Vgl. Koldewey 1955a. 401 Batavus: Boekbespreking: Beginselen van Kerkbouw, in: Forum 12 (1957) H. 3, Beginselen van Kerkbouw 1954, Beginselen van Kerkbouw 1954, 7,

134 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Gerade wegen dieser stilistischen Neutralität erlangte die historisierende Richtung im protestantischen Kirchenbau letztlich keine Dominanz. 404 Beginselen van Kerkbouw lieferte in diesem Kontext wichtige Anhaltspunkte und Rat bezüglich liturgischer und architektonischer Probleme. 405 Jedoch kommen in dem Rapport detaillierte Betrachtungen betreffend die Einrichtung und den Aufbau des liturgischen Raums kaum zur Sprache. Es gebe dem Rapport zufolge diesbezüglich keine festen Regeln anzuführen. 406 Da die Kommission den protestantischen Kirchenbau als eine Architektur betrachtete, die im Dienste der Liturgie stand, konnte der Kirchenbau die Liturgie nicht als solche formen. 407 Im Verband mit der Gestaltung der Grundrisse, beschäftigt sich die Kommission auch mit der neuen Form des nichtorientierten Raums. Gemeint sind hier Raumformen wie die Hallenkirche oder die quadratische Raumform. Die Attraktivität dieser Raumgestaltung lag in der gewünschten Einheit des Raums. Die alte, katholische Abtrennung von Altarraum und Chor von dem Raum der Gläubigen sollte explizit aufgehoben werden. Die Orgel sollte beispielsweise ebenfalls einen eher zurückhaltenden Platz im Kirchenraum erhalten und den Raumeindruck nicht dominieren. Im städtebaulichen Kontext sollte, nach Ansicht des Rapports, die Kirche weiterhin einen städtebaulichen Höhepunkt darstellen und sich von der umgebenden Bebauung so weit absetzen, dass auch die bescheidenen kleinformatigen Stadtteilkirchen als Insel des Glaubens erfahren werden können. Obwohl anfänglich noch viele verschiedene Auffassungen bezüglich der Zusammenführung von Liturgie und modernem Kirchenbau, die von sehr traditionellkonservativer bis hin zu stark modernistischen Ideen reichten, herrschten, zeichnet sich ab den 1950er ab, dass der modernistische Stil zunehmende Akzeptanz fand als Ausdruck der modernen Zeit im Kirchenbau. 408 Dies ging einher mit der neudefinierten gesellschaftlichen Rolle des Kirchenbaus Mitte des 20. Jahrhunderts, wie im Folgenden ausgeführt werden soll. Die neue gesellschaftliche Rolle des Kirchenbaus nach 1945 Viele kleine Kirchen der Nachkriegszeit stehen heutzutage leer, warten auf einen unvermeidlichen Abriss oder haben das Glück eine Neubestimmung erhalten zu haben. Durch das Schrumpfen vieler Gemeinden werden sie nicht mehr gebraucht. In der unmittelbaren Nachkriegszeit jedoch war eine große Anzahl von ihnen im Zuge der Urbanisierung des Landes neu gebaut worden. Die Kirchen wurden damals als selbstverständlicher Träger des gesellschaftlichen Zusammenlebens gesehen. Die letzte große Welle sakraler Architektur sowohl katholischer als auch protestantischer Kirchenbauten in den Niederlanden ist in den 1950er und 1960er festzustellen. 409 Die Stagnation von Bautätigkeiten, die der Zweite Weltkrieg mit sich gebracht hatte, war innerhalb weniger Jahre vorüber und nach ersten Restaurationsarbeiten den Wohnungsbau betreffend, begann auch für den Kirchenbau eine neue 404 Van der Ploeg 2007, Eine Erläuterung des Rapport ist nachzulesen bei Van Beusekom Beginselen van Kerkbouw 1954, Siehe hierzu auch die Ausführung von Melchers 2011, Kuipers 2002, startete die Nederlandse Hervormde Kerk eine große Aktion zur Kirchenneugründung. Siehe hierzu Endedijk und Vree 2002, 231ff. 132

135 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Blütezeit. 410 Tatsächlich zählte man Mitte der 1960er Jahre schon mehr als 1600 Kirchenneubauten für die römisch-katholischen und reformierten Glaubensgemeinschaften. 411 Die zunehmende Schwerpunktverschiebung auf das Gemeindeleben wird dadurch deutlich, dass die Platzierung von Kirchenneubauten in den neu entstehenden Stadtteilen der wachsenden Nachkriegsstädte selbstredend war und als bedeutender Faktor für das Zusammenleben angesehen wurde. 412 Besonders in der Nederlandse Hervormde Kerk hatte diese Diskussion über den Stand der Kirche in der modernen Gesellschaft schon vor dem wweiten Krieg begonnen. Die Idee der Volkskirche als ein Refugium und Heimat für jeden führte zur Öffnung der Kirche zum gesellschaftlichen Zusammenleben. 413 Gleichzeitig wurde die Frage gestellt, ob man die Idee der Volkskirche nicht aufgeben sollte. 414 Wichtig ist die Feststellung, dass die herrschende Kirche zu einer dienenden Kirche wurde. Die Kirche übernahm mehr soziale und gesellschaftliche Funktionen und erhielt damit eine Multifunktionalität. Dementsprechend schrieb Vriend 1945, dass das Schwergewicht der Kirchenarchitektur zum damaligen Zeitpunkt auf der geistigen Verbindung mit dem gesellschaftlichen Leben liege. 415 Diesen Aspekt finden wir in der Kirchenarchitektur Berghoefs zurück. Das oben angeführte Zitat Berghoefs, in dem er konstatiert, dass bestimmte Bauwerke durch eine psychische Aufladung eine höhere Bedeutung erhalten, deckt sich mit dem Anspruch, der an den Kirchenbau der Nachkriegszeit gestellt wurde. 416 Glaube und Gesellschaft fanden hier zusammen. Besonders in der Bauaufgabe des Kirchenbaus zeigt sich eines der Grundprinzipien Berghoefs: die Verbindung von Form und Bedeutung. Die (Bau-)Kunst konnte ihm zufolge nur andeuten und ein stellvertretendes Zeichen für das Höhere oder in seinen Worten für das `Nichtsichtbare (het Onzienlijke) sein. 417 Dies geschah in seinen Entwürfen über die Formgebung. Überdies war sich Berghoef der neuen Nutzungsanforderung an den Kirchenbau bewusst, sowohl auf der religiösen Ebene, d. h. als Ausführungsort des Glaubens, als auch des damit verbundenen gesellschaftlichen Lebens der umliegenden Wohngemeinschaft. Die neu definierte Rolle des Kirchenbaus im Zusammenleben wurde von ihm erkannt und in der Entwurfspraxis verarbeitet. Dadurch wurde der Kirchenbau bei ihm mehr als nur ein Ort für die Ausführung des Gottesdienstes. Er verarbeitete die neuen gesellschaftlichen und sozialen Funktionen in seinen Kirchenbauten, wie sich besonders in seinen Haager wijkkerken abzeichnet. Auch sie verfügten über eine hohe Anzahl an zusätzlichen Räumlichkeiten, um den verschiedenen Aktivitäten des neuen Gemeindelebens gerecht zu werden. Dass die Neubestimmung des Kirchenbaus hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Funktion einen 410 Van der Ploeg 2007, Mit dieser Angabe stütze ich mich auf Overbosch Vgl. Endedijk und Vree 2002, S. 223; Ort 1994, Vgl. Van der Ploeg 2007, S. 3. Weitere Erläuterungen zu den verschiedenen Auffassungen und zum Verständnis des Kirchenraumes als sakraler Raum bzw. der lithurgischen Bewegung siehe: Beginselen van Kerkbouw 1954, Vgl. Overbosch Vriend 1959, Übersetzung JM: Originalzitat: Er zijn dus bouwwerken, die naast een abstracte zuiver architectonische schoonheid een als het ware psychische lading bezitten, waardoor zij iets gaan betekenen. Berghoef 1952, Berghoef 1952,

136 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef weitreichenden Effekt auf dessen Charakter und Formgebung hatte, zeigt sich in dem Wandel der Formgebung, die Berghoefs Kirchenbauten in der Nachkriegszeit aufweisen. Funktionserweiterung Multifunktionalität in der Kirchenarchitektur Das wesentliche Kennzeichen von sakraler Architektur ist in der Regel das Vorhandensein eines Saalraums, der als Versammlungsort der Gläubigen und Unterbringung des liturgisches Zentrum (bei den Protestanten die Kanzel, bei den Katholieken der Altar) dient. Beide äußern sich in der Geschichte des Sakralbaus in der Regel als architektonisches und funktionales Zentrum des Baukörpers. Mit der Kirchenarchitektur der Nachkriegszeit, besonders ab 1950, verändert sich dies. Aufgrund der verschiedenartigen Nutzung des Kirchenbaus und seinen verschiedenen Räumlichkeiten erhält der Baukörper einen multifunktionalen Charakter. Dies hängt zusammen mit der bereits erwähnten veränderten Sicht auf die kirchliche Gemeinde, die stärker dienend in den Vordergrund treten soll. 418 Die Gemeinde soll zunehmens einen größeren Beitrag und eine wichtigere Rolle in der öffentlichen Gemeinschaft spielen. Diese Art der Offenheit weist Tendenzen einer De-sakralisierung auf. Die Grenzen zwischen Kirche und Welt werden fließender interpretiert, was eine erkennbare Auswirkung auf die Formgebung der Kirche hat. Der Kirchenbau wird zu einem multifunktionalen Gemeindezentrum. In der Folge erhielt der Saalraum und letztlich der gesamte Bau einen multifunktionalen Charakter. Die Bauprogramme jener Zeit beinhalten überdies auch mehrere Versammlungsräume unterschiedlicher Größe und zahlreiche Nebenräume für verschiedene Zwecke (neben den sonntäglichen Gottesdienst auch Katechese, Gesprächsrunden und diverse soziale Aktivitäten). Ab den 1950er Jahren wird der traditionelle Kirchengrundriss häufig gelockert oder verlassen, d. h. der Kirchenraum wird nicht mehr unbedingt durch den Hauptzugang direkt betreten und auch eine Aufteilung in längsgerichtete Schiffe ist alles andere als obligatorisch. Bei den Protestanten verschob sich der Akzent von der Repräsentation des Kirchenbaus hin zum Kirchenbaus als Ort der Zusammenkunft der Gemeinde, und auch der Gesellschaft außerhalb der Kirchengemeinde, im Kontext einer breiteren Funktionalität. Der Kirchenbau wurde zu einem civic centre. 419 Verstanden werden kann dies auch als moderne Christianisierung, oder umgekehrt: `Sozialisierung des abgegrenzten Sakralen, wie Endedijk und Vree es 2002 in ihrer Bearbeitung zum niederländischen protestantischen Kirchenbau formulieren. 420 Der neue Kirchenbau der Wiederaufbauzeit präsentierte sich als funktionales Instrument zur Formung und Erziehung der Nachkriegsgesellschaft. 421 Der moderne, d. h. der Kirchenbau der Nachkriegszeit sollte sich diesen Anforderungen anpassen. Der erste Kirchenbau des Architekten Berghoef, der einen deutlichen neuen Umgang mit offenliegenden Baumaterialien und dem offenen Raumkonzept aufweist, ist die Triumphatorkirche in Aalsmeer. Als Basilika von Aalsmeer wurde der Kirchenbau bereits kurz nach seiner Entstehung 1956 im Centraal Weekblad der reformierten Kirchen gelobt. 422 Man habe für diesen Auftrag nicht nur den ersten, sondern auch den besten Architekten vor Ort genommen, heißt es in dem Beitrag der Kirchenzeitung. Dadurch sei mit dieser Kirche ein Stück 418 Vgl. hierzu die Ausführung von Ort 1994, Zu diesem Aspekt des Kirchenbaus als civic centre siehe ausführlicher: Endedijk und Vree 2002, Endedijk und Vree G. Hoogwoud, Laveren tussen grenzeloos optimisme en harde realiteit, In: Endedijk und Vree 2002, De basiliek van Aalsmeer

137 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef mehr von Aalsmeer vergegenwärtigt worden. Die Formgebung passe in ein Stadtgesicht, in dem in einem internationalen Blumenzentrum das Gewerbe im Vordergrund stehe. Ein so flacher und breiter Bau könne nur in Aalsmeer stehen. Die Kirche würde als Volkskirche wahrgenommen und erinnere an altrömische Basiliken, so der Wortlaut des Artikels. Alles, was von dem liturgischen Zentrum ablenken könne, sei entfernt. Ferner wolle der Bau durch seine Form das Stadtbild nicht dominieren. Denn der Baukörper besitzt eine stärker horizontale als vertikale Linie. Diese Kirche scheint mit ihrer horizontalen Linie (da zu sein, um) die breite Welt zu empfangen. 423 Der Architekt Berghoef selbst wird zu diesem Kirchenbau zitiert mit: Dass dieser Raum Teil eines Komplex ausmacht, der vollauf im weltlichen Gebrauch ist, scheint mir ein Vorteil: Der eminente Teil erhöht den ganzen Komplex, verleiht ihm eine deutliche Bedeutung. Denn es sei gut, dass bei den weiteren Veranstaltungen der Gemeinde der räumliche Verweis auf den Glauben anwesend sei, um den Menschen die Sinngebung ihres Tuns in der Gemeinde zu verdeutlichen. 424 Zu diesem ersten Beispiel können zwei weitere Kirchenbauten des Architektenbüros Berghoef & Klarenbeek als exemplarisch für diese moderne Nutzung einer Kirchenarchitektur herangezogen werden: die Johanneskapelle und die Markuskirche in Den Haag. Bei beiden Kirchen führt der Zugang nicht unmittelbar in den Kirchensaal, sondern zuerst in ein Foyer, von dem aus der Saal und andere Räumlichkeiten erreicht werden können. Da es sich in beiden Fällen außerdem um so genannte verdiepingskerken (Etagenkirchen) handelt, liegen die eigentlichen Kirchensäle in der ersten Etage und müssen über eine Treppe betreten werden. (Abb. 52) Die ungewöhnliche Aufsockelung des Kirchensaals bedingt sich in der Anforderung, dass in den beiden Kirchenbauten, trotz geringem Baugrundstücks in den Neubauvierteln möglichst viele Räumlichkeiten geschaffen wurden. Unter dem Saal konnten dadurch diverse Zusatzräume untergebracht werden. Bei der Johanneskapelle in Den Haag wurde eine Saalkirche mit Gemeindezentrum und Küsterwohnung gefordert. Es wurde hierbei versucht eine größtmögliche Anzahl an Räume in drei unterschiedlichen Baublöcken unterzubringen. Die größte Herausforderung formte hier allerdings der gewünschte Dualismus multifunktionaler Saal Kirche. Schlussendlich entschieden sich Berghoef & Klarenbeek für den Kirchenraum. Doch sollte dabei der kirchliche Charakter des Raumes so gering wie möglich gehalten werden. Deshalb wurde die Sparrenkonstruktion sichtbar gelassen, die Fenster kaum prononciert und die Raumform fließend gelassen, so die Begründung der Architekten (Abb. 49). 425 Mit seiner bauchigen Grundrissform ist der Raum mittels einer symmetrischen Mittelachse auf ein Podium ausgerichtet (Abb. 56). Die hierauf zulaufende Form bestimmt hier zweifelsfrei die Blickrichtung. Bei der Johanneskapelle verwendete man hellgelben Backstein, unbehandeltes Holz und verputzte und gestrichene Wandpartien als Farbakzente. Die blaue Farbgebung der tragenden Stahlkonstruktion rückt diese besonders prominent ins Bild. 423 Übersetzung JM: Originalzitat. Deze kerk met haar horizontale lijn schijnt er te staan om de brede wereld te ontvangen. De basiliek van Aalsmeer Übersetzung JM: Originalzitat: Dat deze ruimte deel uitmaakt van een complex, dat volop in profaan gebruik is, lijkt mij een voordeel: het eminente deel verheft het gehele complex, verleent het een duidelijke betekenis. Het is goed, dat bij de werkplaats van de wijkgemeente het ruimtelijk offer aanwezig zij, opdat de mens opnieuw aan een zichtbaar teken leze, dat zijn werk pas zin krijgt als hij het onder eeuwig licht weet te stellen. De basiliek van Aalsmeer Berghoef und Klarenbeek

138 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Bei der Markuskirche finden wir ebenfalls die Unterbringung diverser Räumlichkeiten inklusive eines erhöhten Saalraums auf kleinem Grundstück untergebracht. Der bereits erwähnte `indirekte Zugang zum Kirchenraum stellt diesen etwas in den Hintergrund und die Zugänglichkeit der verschiedenen Gemeinschaftsräume im Erdgeschoß in den Vordergrund. Der Charakter eines Gemeindezentrums wird hierdurch mehr unterstrichen als die sakrale Bedeutung der Architektur. Und auch die Pauluskirche zeigt eine enge Gruppierung vieler Nebenräume um den zentralen Saalbau (Abb. 40). Damit spiegeln sich in diesen Kirchenbauten die damaligen Anforderungen an den neuen, modernen Kirchenbau in den auszubauenden Stadtvierteln, die unterschiedliche infrastrukturelle Aufgabe zu übernehmen hatten. Die resümierende Betrachtung aller Kirchenbauten Berghoefs, die hier in den Fokus genommen wurden, zeigt, dass die verstärkte Frage nach zusätzlichen Räumlichkeiten und eines vielseitig zu verwendenden Saalraums besonders in den drei Kirchen in Den Haag zurückzufinden ist. Ein weiteres Beispiel für die neuen Anforderungen an den Kirchenbau ist der Bauauftrag für das kirchliche Zentrum in Overveen, das Berghoef Hondius & Lamers 1968 verwirklichten (Abb. 57). In Overveen bestand die Bauaufgabe darin, an die bereits bestehende Kirche eine Erweiterung zu entwerfen, die administrativen als auch sozialen Zwecken dienen sollte. 426 Innerhalb der bestehenden alten Umfassungsmauern wurden hier verschiedene Saalräume projiziert, die `á multiple usage sein sollten für `jung und alt, wie die Architekten erläuterten. Aufgrund des eingeschränkten Budgets wurde dabei alles so einfach wie möglich aus schlichtem Baumaterialen (in erster Linie Backstein, Holz und Glas) zusammengestellt. Resultat ist ein ebenerdiger, darum einfach zugänglicher Pavillon, der nach außen hin eine geschlossene und zum Innenhof eine offene Fassadengestaltung aufweist. Die Funktionserweiterung des Kirchenbaus war demnach ein gängiges und stets angewendetes Thema in der Tätigkeit des Architekturbüros Berghoefs. Abb. 56 Berghoef & Klarenbeek. Grundriss der Johanneskapelle Den Haag, Berghoef Hondius & Lamers

139 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 57 Berghoef & Klarenbeek, Kerkelijk Centrum Overveen, Foto vermutlich kurz nach Vollendung Der Kirchenraum eine Frage des liturgischen Programms Nach der vorangegangenen Besprechung der neuen Funktionszuschreibungen an den modernen Kirchenbau in seiner Gesamtheit, wollen wir an dieser Stelle noch einen etwas detaillierteren Blick auf den Kirchenraum als solchen werfen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich aus den theologischen und liturgischen Ausgangspunkten, die bereits im Abschnitt über die Theorieformung zum Kirchenbau ansatzweise beschrieben wurden, in der Theorie und Praxis zwei Idealtypen des Kirchenbaus: der Langbau und der Zentralbau. 427 Die Diskussion, welcher Typus bevorzugt werden sollte, spielte sich von etwa 1945 bis Mitte der 1960er Jahre in dem breiten architektonischen Kader zwischen den angeblichen Lagern der Modernisten und Traditionalisten ab. 428 Tatsächlich gab es schon vor dem Zweiten Weltkrieg diverse Versuche dem Kirchenbau in Europa in Aufbau, Form und Grundriss ein neues Aussehen zu verleihen, häufig unter demonstrativer Verwendung neuer Baumaterialien, um dem Althergebrachten einfacher aus dem Weg gehen zu können. Zu nennen wären diesbezüglich Frank L. Wrights Unity Temple in Chicago (1906), Auguste Perrets Notre-Dame du Raincy in Paris (1922) oder Otto Bartnings Stahlkirche in Köln (1928). Da besonders im Kirchenbau, der mit einer so langen Bautradition verbunden ist, Tradition und Konvention als beinahe untrennbar von der Kirche beschaut wurden, schien es besonders zu Beginn mühsam, um das rein utilitäre und sachliche Konzept des Modernismus hierin zu verwirklichen. Doch verhalf die Frage nach Charakter und Form des neuen Kirchenbaus nach 1945 auch zur neuerlichen und intensiveren Auseinandersetzung mit der Bauform (Zentralbau oder Basilika). Welche Achse gewährleistete die beste Ausrichtung auf das liturgische Geschehen im protestantischen Kirchenbau, in dem das Wort zentral stand? Und welcher Aufstellung sollten die liturgischen Elemente wie Taufbecken und Abendmahlstafel im Raum folgen, innerhalb des neu entwickelten theoretischen Konzepts von zentriertem und gerichtetem Kirchenraum? Letztgenannter Punkt war verbunden mit dem Verständnis des liturgischen Programms, d. h. dem Raumprogramm des protestantischen Kultus. 427 An dieser Stelle sei auf Abraham Kuyper verwiesen, der ab ca als einflussreiche kirchliche Autorität seiner Zeit den Zentralbau als idealen Sakralraum favorisiert. Siehe hierzu die Artikel in: Kuyper Demgegenüber stand die mehr auf das Sakrale ausgerichtete Theorie des Pfarrers Jan Hendrik Gerretsen. Siehe Gerretsen In der Folge entwickeln sich detailliertere Studien zum Idealtypus des sakralen Raums. Vgl hierzu u.a. Bekaert 1967, 33-53; ferner den Textbeitrag von Heinrich O. Vogel, In: Weyres und Bartning 1959, Vgl. Van der Harst 2004,

140 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef In der Diskussion um den Aufbau des Kirchenraums und des liturgischen Zentrums plädierte der Architekt Daan Jansen dafür, dass die Kanzel noch stets das unbestrittene Zentrum des Ehrendienstes und somit auch das Zentrum des Kirchenbaus darstelle. 429 Die Kanzel sei das Zentrum der Andacht, doch sei bei Basiliken diese nicht immer auf die Kanzel selbst, sondern eher auf die Kanzelwand gerichtet. Bei einigen Gereformeerde Kirchen finde man deshalb ein erhöhtes Kanzelpodium, das über die ganze Breite des Baus verläuft. Ferner gelte ein Streben nach Offenheit im Kirchenbau, sowohl bei zentrischen Bauten als auch bei modernen Saalkirchen. Zwei weitere Standpunkte wurden um 1940 von den Theologen Oepke Noordmans und Gerardus van der Leeuw formuliert. 430 Während Noordmans die zentrale Position der Kanzel bevorzugte, legte Van der Leeuw das Gewicht auf das Sakrament des Abendmahls und spricht damit der Abendmahlstafel die zentrale Position mittels einer Achsenorientierung im Raum zu. Und auch der ebenfalls an der Theorieformung zum modernen Kirchenbau beteiligte Architekt Karel Sijmons machte seine persönliche Vision auf das protestantische Kircheninterieur mittels Zeitschriftenbeiträgen publik. Seiner Ansicht nach entstand durch den Abschluss des Chors, der Ausrichtung auf die Kanzel und den Wandel des Altars in einen Tisch während der Reformation ein neuer Sakraltyp. Das typische protestantische Raumgefühl bedinge sich deshalb durch seinen auf die Ausführung der Messe gerichteten Charakter. Hier stehen das Wort und das Sakrament zentral, doch gäbe es auch ein zeitgebundenes Raumgefühl, das keiner bindenden Tradition folge, sondern Anpassungen der Elemente im Kirchenraum zulasse. 431 Geltende Tradition für den Kirchenraum sei die Handhabung eines räumlichen Schemas, bei der es ein harmonisches Ganzes zu bilden gelte. Das Problem sei einfach, dass nicht deutlich sei, was eigentlich charakteristisch für einen protestantischen Kirchenbau sei. 432 Mit diesen beispielhaften Beobachtungen zur theoretischen Diskussion rundum den protestantischen Kirchenbau lässt sich folgendes Bild skizzieren. Insgesamt herrschte in der Nachkriegszeit ein positives Klima hinsichtlich der Erneuerung im protestantischen Kirchenbau. Die Bestrebungen gingen dabei aus von einer Überwindung des Historismus, der Anwendung neuer Baustoffe und Bautechniken, der neuen gesellschaftlichen Funktion des Kirchenbaus, was Einfluss auf die Formgebung nahm, und bis hin zu einer liturgischen Erneuerung. Die moderne, d. h. neue Sicht auf den Kirchenbau versah den protestantischen Sakralbau mit einer bestimmten Raumstruktur, die idealerweise entweder einen Longitudinalbau oder ein Zentralbau vorsah. Innerhalb dieser Raumstruktur galt es eine kompakte Formierung der liturgischen Elemente zustande zu bringen, bei der die Blickführung der Gemeinde auf das liturgische Zentrum auszurichten war. Bei den materiellen Voraussetzungen galt es moderne Bautechniken und Materialien zu berücksichtigen, sowie auch den erweiterten Anspruch an das Raumprogramm und die neu definierte Rolle der Kirchenarchitektur in ihrer städtebaulichen Einbindung. Der Kirchenbau wird somit ein architektonisches Objekt der Erneuerung, bei der eine gegenseitige Durchdringung von Zweckerfüllung und Formgestaltung stattfand. 429 Jansen Noordmans 1939; Van der Leeuw Sijmons Sijmons

141 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Berghoef war sich dieser Erneuerungsbewegung bewusst und hat sich ausführlich mit den verschiedenen Aspekten des Kirchenraums auseinandergesetzt. Er war der Ansicht, dass die Ausrichtung auf das Allerheiligste ein wichtiges Kennzeichen des westeuropäischen basilikalen Kirchenbaus war. Doch werde die Basilika im Laufe der Kirchengeschichte zunehmend durch den Typus der Hallenkirche ersetzt. Hierdurch gehe aufgrund der gleichhohen Raumabschnitte die Ausrichtung des Raumes und durch die Verbreiterung des Raumes die Tiefe verloren. Die Folge sei eine `Diffusion des Raumes. 433 Die ersten Kirchenbauten Berghoefs, wie die Moriakirche in Westkapelle, kennzeichnen sich als Hallenkirchen über einen quadratischen Grundriss. Die bereits erwähnte Mittelsäulenstellung bei der Moriakirche rief seinerzeit auch kritische Kommentare hervor, wie von Dirk Roosenburg, der sich im Oktober 1948 als Supervisor skeptisch zum Entwurf Berghoefs äußerte. 434 Kritisiert wurde die Mittelsäulenstellung als auch die zwei kleinen Fenster hinter dem Taufbecken. Berghoef verteidigt seinen Entwurf damit, dass dies das Resultat einer langen Studie und Reflektion über den protestantischen Kirchenbau sei. Aufbau und Form entsprachen seiner persönlichen Vorstellung einer protestantischen Kirche. Er war sich darüber bewusst, dass die Mittelsäulenstellung Irritation hervorrufen und in der aktuellen Zeit auch ein experimentelles Wagnis darstellte. Deshalb verweist er auf formverwandte, zweischiffige Bauten in den Niederlanden wie eine Kirche in Katwijk aan Zee (welche, ist nicht deutlich) und der Bakenesserkirche in Haarlem (15. Jahrhundert). Ferner rechtfertigt er diese Raumform mit einem weiteren historischen Beispiel mit gleichen Grundriss und Aufbau: der Or Son Michele Kirche, die er bei einer Reise nach Florenz entdeckte. Berghoef verwendet demnach die Mittelsäulenstellung, um dem Kirchenraum eine längsgerichtet Wirkung zu verleihen und stützte sich dabei auf historische Vorbilder der Kirchenbaukunst. Die gleiche Absicht, die längsgerichtete Tiefenwirkung beizubehalten, zeigt sich bei seinen späteren Kirchenbauten (die Triumphatorkirche in Aalsmeer und die Johanneskirche in Den Haag). Besonders bei der Johanneskirche wird der Blick des Betrachters durch die zulaufende Form des Raumes und die ansteigende Dachlinie auf das liturgische Zentrum hingeleitet. Der kirchliche Saalraum wird einheitlicher und in seiner Breite, aber noch noch viel mehr in seiner Länge betont. Ferner gilt es darauf hinzuweisen, dass Berghoef, auch wenn er das Raumschema selbst nicht anwendete, die runde Raumform als architektonisches Mittel positiv bewertete. In seinem Artikel Het gedrag van de ronde ruimte (1983) bezieht er sich aus aktuellem Anlass (der Raumnutzung) auf die runde Raumform der Lutherkirche (1668) in Amsterdam von Adriaan Dortsman. 435 Charaktervolle Räume könnten ohne Zweifel eine variierende Nutzung vertragen. Hiermit widersprach er in seinem Artikel gezielt P. Mieras Meinung, dass der Rundraum für den Kirchengebrauch ungeschickt sei. Aufgrund der protestantischen Weise, um während des Gottesdienstes rund um die Kanzel und dem Abendmahltisch der Predigt zu lauschen, war es Berghoef verständlich, dass sich Dortsman für den Rundraum entschieden habe. Dies sei schließlich von der klassischen Theaterform abgeleitet. Einen solchen Rundraum wie den von 433 Ferner schlussfolgert Berghoef etwas zu naive, dass die Entwicklung von der Basilika zur Hallenkirche, d.h. des breiter werdenden Raumes, der ganz im Kontrast zur vertikalen Ausrichtung der französischen Kirchenbaukunst stehe, mit der frommen Volksart und dem Hang zum Realismus der Niederländer zu tun habe. Berghoef 1952, 94f. 434 Siehe Dokumente in BERX 241 (0018). 435 Berghoef

142 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Dortsman finden wir im Werk Berghoefs zwar nicht, gleichwohl aber die gezielte Ausrichtung des Raumes und der Zuhörerschaft auf die Kanzel. Formgebung und Erkennbarkeit Die Rolle des Kirchenbaus im Stadtbild Mit der veränderten Bedeutung und Funktionserweiterung des Kirchenbaus der Nachkriegszeit, vollzog sich auch ein neuer Umgang mit und eine neue Sichtweise auf die äußere Formgebung der Kirchenarchitektur. Nicht nur auf funktionaler, sondern auch auf visueller Ebene machte die Kirche als ehemalige Dominante im Stadtbild Platz für die Kirche als Gemeindezentrum. Dieses sollte sich an das umliegende Wohnmilieu anschließen. 436 Denn schließlich entstanden Kirche und Wohnbebauung in den neu gegründeten Wohnsiedlungen häufig in kurzem zeitlichem Abstand zueinander. Noch immer wurden Kirchenneubauten in den wachsenden Stadtvierteln gut erkennbar und deutlich getrennt von der restlichen Wohnbebauung platziert. Doch bildete das Wohnen als Solches den Schwerpunkt, so dass die Kirche keine dominante Position mehr erhalten musste. Straßenbild und Stadtsilhouette der Nachkriegszeit drängten den früheren Status des Kirchenbaus, verglichen mit den 1950er Jahren, nicht selten zurück. Kirchentürme bekamen Konkurrenz von Wohntürmen und hohen Bürobauten. Der Kirchenbau war jetzt einer unter vielen. 437 Wie Bekaert 1967 beschrieb, gehörte der Kirchenbau zu diesem Zeitpunkt nicht mehr automatisch zum neuen Stadtbild. `Das Bild der Kirche sei verloren gegangen und man wisse kaum noch wie eine Kirche wirklich auszusehen habe. Zumindest nicht, wenn man sich nicht damit zufrieden stelle, dass eine Kirche das Haus der Liturgie sein soll. 438 In den 1920er Jahren wurde der Charakter des Kirchenbaus im städtebaulichen Kontext als markanter Orientierungspunkt verstärkt durch architektonische Mittel, z. B. Turm und hohe Dächer. Doch die in den 1930er beginnende nachgestrebte Einfachheit und Multifunktionalität sollte schließlich nach 1945 in Ausführung kommen. Die Architekten der unmittelbaren Nachkriegszeit mussten sich auch deshalb intensiv mit der Frage nach Erkennbarkeit und Formgebung des Kirchenbaus auseinandersetzen, u.a. weil aufgrund extremer Materialnot der Bau von Kirchentürmen zeitweise untersagt war. 439 Doch die Vereinfachung der Form und die niedriger werdende Bauweise hatten nicht nur mit der finanziellen Situation der Gemeinden und dem Mangel an Baumaterial zu tun. Diese Veränderung in der Positionierung und Formgebung des Kirchenbaus hing auch eng mit dem veränderten Denken über die Rolle des Kirchenbaus und seiner Funktion zusammen. Die Kirche herrschte nicht mehr im Stadtbild, sondern sie diente. 440 Als Beispiele wären in diesem Zusammenhang die ehemalige Hervormde Kerk in Bant (Lange Omgang 1, 1951) von Cornelis Wegener Sleeswijk und die Opstandingskerk in Voorburg (Rembrandtlaan 92, 1964) von Reinder H. Fledderus zu nennen, die aufgrund ihres Wohnhauscharakters kaum in der Stadtbzw. Dorfsilhouette auffallen, besäßen sie keine funktionsverweisende Elemente wie den aufgesetzten Glockenturm (Abb. 58). Auch die Pauluskerk in Nijmegen (Einsteinstraat 122, 436 Vgl. Van Rooy 1960, Keuzenkamp Bekaert 1967, Guido Hoogwoud, Laveren tussen grenzeloos optimisme en harde realiteit, in: Endedijk und Vree 2002, Da den Kirchen eine betont dienende gesellschaftliche Funktion zugedacht war, wurden entsprechende finanzielle Subventionen wie das Gesetz Premie Kerkenbouw von 1961 eingerichtet. Ort 1994,

143 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef 1964) von Nap und Ede und die Thomaskerk in Amsterdam (Prinses Irenestraat 34, 1966) von K. L. Sijmons verraten nicht explizit auf den ersten Blick, dass es sich hier um Kirchenbauten handelt. Die nachkriegszeitlichen Kirchenbauten werden zunehmend niedriger und stechen weniger spektakulär aus der umgebenden Bebauung heraus. Der Turm, wenn vorhanden, verliert seine symbolische Funktion als Verweis zum Höheren, während die Kirchenglocken an gesonderten Aufhängungen auf dem Dach ihren Platz finden. Wie sich bei Keuzenkamp in seiner Publikation Moderne Kerkbouw (1954) nachlesen lässt, scheint die neue Formgebung der Kirchen in den Neubauvierteln erst noch gewöhnungsbedürftig. Es sei sehr auffallend, wie anders die Außenwirkung der Kirchen im Vergleich mit den früheren Kirchenbauten sei. 441 Bei der neuen Formgebung der Kirchenbauten der Nachkriegszeit erhält der Eingang stets mehr Bedeutung im Design, u.a. auch da die Gebäude als Komplexe mit verschiedenen weiteren Funktionen in Erscheinung treten. Häufig musste dieser Eingang Zugang sowohl zum Kirchensaal als auch zu den Nebenräumen bieten. In der Folge zeigt sich der Kirchensaal geschlossener als die Nebenräume. 442 Diese Impression der Geschlossenheit als gängiges Merkmal von Kirchenbauten besonders der ersten zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg konnten wir für die Kirchenarchitektur Berghoefs bereits belegen. Häufig werden die Fenster recht hoch angelegt, so dass man nicht von außen hineinschauen kann. (Vgl. die Zuiderkirche, Johanneskirche und Kirchen in Den Haag von Berghoef & Klarenbeek) Erst in den 1960er Jahren beginnen die Öffnung des Kirchenbaus und ein stärkerer Bezug von außen und innen. Abb. 58 W. Sleeswijk. Ned. Herv. Kirche an Lange Omgang 1 in Bant, 1959, Foto Keuzenkamp 1954, Ort 1994, 13ff. 141

144 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Abb. 59 Berghoef & Klarenbeek. Johanneskapelle an der Bosbesstraat in Den Haag, Geschlossene Stirnseite des Kirchenschiffs mit Glockenstuhl. Foto Die zahlreichen Kirchenbauten der Nachkriegszeit weisen aufgrund der ökonomischen Lage als auch der Neudefinierung der Funktion viele Formexperimente auf. 443 Das Kennzeichen der Kirchen wird in dieser Zeit zurückgebracht auf die Andeutung eines Turms oder die Anbringung eines Glockenstuhls am Eingang, wie bei der Johanneskapelle in Den Haag. (Abb. 59) Diese Bauelemente erfüllen somit ihre reine Funktion, sind jedoch kein herausstechendes Erkennungsmotiv mehr an sich. Der moderne Kirchenbau verliert somit in dieser Phase seine althergebrachte Deutlichkeit und Erkennbarkeit. Seine Funktion als Gotteshaus und Gemeindezentrum soll der Bau zwar weiterhin zur Schau tragen, doch über diese hinaus spielt er eine geringere Rolle im Stadtbild. Nur kleine Zeichen machen den Vorbeigehenden darauf aufmerksam um welche Art von Bau es sich jeweils handelt. Kritische Stimmen wie die von H. Blankesteijn und W. G. Overbosch, die sich in den 1960er Jahren um eine Übersicht aller niederländischer Kirchenbauten bemühten, beklagten, dass das `Nichtsachliche als `un-sachlich verstanden werde. 444 Da der Kirchenbau in dieser Zeit immer weniger den vorgeprägten Vorstellungen entsprach, rief er häufig Unmut und Kritik hervor. Die Formfrage blieb ein Streitpunkt. Studien des Kirchenarchitekten B. T. Boeyingas verdeutlichen die Auffassung, wie wichtig es war, der Kirche selbst eine Form zu geben, die den Baukörper als Kirche charakterisiert, ohne weitere Andeutung oder Hilfsmittel. `Denn dies passe mehr in die aktuelle Zeit, so Boeyinga. 445 Der Turm war seines Erachtens nach zu einer Karikatur geworden. Die ganze Diskussion um die äußere und innere Formgebung der Kirchenarchitektur vergegenwärtigt umso deutlicher, dass die symbolische Bedeutung des Kirchenbaus gebunden ist an die Formgebung. Der katholische Architekt Alphons Siebers konstatierte in diesem Kontext, dass die Symbolik in der Baukunst keine Disposition schaffe, jedoch umgekehrt die 443 Vgl. Westerhuis 1957, Siehe hierzu Blankesteijn und Overbosch 1964, 5; Overbosch 1968; Blankesteijn-Blees und Blankesteijn Siehe Boeyinga 1927,

145 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Baukunst eine Disposition für die Symbolik darstelle. Die modernistische Baukunst negiere die dispositio, da sie fordere, dass sich der Entwerfer von allen traditionellen Aspekten und Erinnerungen der Baukunst freimache, und seine Bauaufgabe so sehe, als würde er das erste Haus von allen bauen. Siebers formuliert die Intention der Modernisten, auf den Ursprung der Baukunst zurückzugehen, doch sei dies mehr als nur Nutzen und Technik. Technik und Nutzen sollen im Kirchenbau zurückgebracht werden an den Platz, der ihnen zustehe, d. h. in den Hintergrund der architektonischen Konzeption. Hierdurch können sich alle historischen Kirchentypen zurückführen lassen auf den Urtypus der Basilika. Die ganze Entwicklung der Baukunst stehe und falle deshalb mit der Entwicklung des Kirchenbaus. 446 Wir können an dieser Stelle deutlich feststellen, dass Siebers eine typisch katholische Auffassung von Kirche als sakralen Raum vertritt. Besonders hinsichtlich dieser Aspekte der Formgebung und Erkennbarkeit befand sich der Kirchenbau im Spannungsfeld von Tradition und Moderne in der Architektur. Berghoef war sich der Verknüpfung von Form und Bedeutung bewusst und bewertet dies als essentiell für den Wert von Architektur. Tatsächlich erhielt bei ihm die Kirche als Bauwerk die gleiche Bedeutung im Zusammenleben wie ein Wohnhaus. Doch leite sich aus der Formgebung die Funktion an. Die kirchliche Baukunst konnte laut Berghoef nie gänzlich die höhere Bedeutung umfassen oder ersetzen, sondern nur ein stellvertretendes Zeichen für sie sein. Das `Nichtsichtbare, gemeint ist der Glaubensinhalt, der letzte Sinn der Dinge bzw. die Ewigkeit, könne in der Architektur nur angedeutet werden, so Berghoef. 447 Er verweist diesbezüglich auf Gerardus van der Leeuw und dessen Wegen en Grenzen: Een studie over de verhouding tussen religie en kunst von Es ist demnach die architektonische Gestalt und die Formgebung, die laut Berghoef einem Bauwerk seine Bedeutung verleihen, und nicht, wie den Traditionalisten vorgeworfen, die übermässige Anbringung von attributiven Ornamenten. Die Bedeutung soll dem Bau entspringen und nicht dem Bildprogramm, das darauf gehaftet ist. Dadurch kommen die Kirchen Berghoefs auch beinahe ausnahmslos ohne überrragenden Turm oder überschwenglicher Ornamentik aus. Die Kirchen in Den Haag als auch in Aalsmeer und Westkapelle sind stattdessen einzig mit kleinen Glockentürmchen versehen und überragen nur um ein weniges die umgebenden Bebaung. Besonders in ländlichen Gebieten zeichne sich seit jeher eine Kirche kaum als solche aus, so Berghoef schon Ein Kreuz am Bau sei ausreichend, um einen Turm zu ersetzen. 449 Berghoef wendete eine Formensprache an, die mittels einer reduzierten und abstrahierten Symbolik, den Bau in seiner Funktion noch charakterisiert. Denn Form, Bedeutung und Charakter von Architektur gingen in seinen Augen stets Hand in Hand. Die Kirchen Berghoefs fügten sich durch ihre Formgebung nahtlos in die neue Rolle der dienenden Kirche, die einen architektonischen und funktionellen Platz innerhalb der Gesellschaft einnehmen sollte. 446 Siebers 1949 und Siebers Vgl. Berghoef 1952, Van der Leeuw Vgl. Berghoef 1934, 136. Ein weiterer Aspekt im Umgang des Architekten mit historischer Kirchenbebauung zeigt sich in dessen Entwurf für die Restauration der Turmspitze der Eusebiuskirche in Arnheim. Der Turmaufsatz weist eine Formgebung auf, bei das obere Stück in keinster Weise dominieren soll. In schlanker, zurückhaltender Form wird weiterhin auf die wirklich historische Substanz des Baus verwiesen. Für die verschiedenen Entwürfe siehe Van Balen 1954/

146 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Kirchengerechtes Baumaterial Neben der Frage zur Erkennbarkeit des Kirchenbaus im Stadtbild und seiner Formgebung sowohl im Innen- als auch Außenraum, wurden auch die verschiedenen Standpunkte hinsichtlich des `Kirchengeeigneten Baumaterials diskutiert. Während die katholische Kirche sich noch etwas schwerer tat mit der Anwendung neuer Baumaterialien, schienen in protestantischen Kreise die Hemmungen geringer zu sein. 450 Die Kirchenbauten Berghoefs weisen durchgängig eine Kombination von verschiedenen Materialien auf, wobei Backstein, Holz, Beton und Stahl im Vordergrund stehen. Kontinuierlich zeigt sich in dessen Werk der prominente Gebrauch von Backstein, sowohl als raumabschließendes Material als auch dekorativ im Interieur. Beton und Stahl werden demgegenüber offenkundig und ersichtlich als tragende Konstruktionselemente verwendet, wie bei der Triumphatorkirche in Aalsmeer und seinen drei Kirchen in Den Haag zu sehen. Berghoef praktizierte demnach in seinen Kirchenbauten eine kombinierte Anwendung neuer als auch bekannter Materialien. Dabei ist ein wichtiger Aspekt bezüglich der Verwendung neuer, moderner Baumateralien und der daran verbundenen Bautechniken nach vorne zu bringen. Während Berghoef bei seinen früheren Kirchen die tragenden Elemente im Innenraum der Kirche, d. h. die Dachkonstruktion im Saal und die Säulen in offener Konstruktion in Holz ausführt, wechselt er in den 1950er Jahren bei den Kirchen in Den Haag als auch der Triumphatorkirche in Aalsmeer zu Stahl. Dies steht im Kontrast zu der Arbeitsweise der bereits genannten anderen Traditionalisten Granpré Molière und Kropholler, bei denen dies nicht vorzufinden ist. Ein weiterer nennenswerter Archivfund bezüglich des Baumaterials, ist ein früher Entwurf Berghoefs von 1952 für die Pauluskirche. In einem Planentwurf zur Wandkonstruktion ist zu sehen, dass neben den verstärkten Mevrietplatten der Dachkonstruktion auch Airey- Platten für die Außenwandverwendet werden sollten. (Abb. 60) Bei diesen Airey-Platten handelt es sich um präfabrizierte Systembauelemente, die Berghoef damals auch im Massenwohnungsbau anwendete. Während außen diese vorgefertigten Betonplatten die Wand verkleiden sollten, sollte innen Backsteinmauerwerk zu sehen sein. Der Grund für diesen Entwurf und warum er letztlich nicht ausgeführt wurde, konnte bisher nicht ergründet werden. Zwischenzeitliche finanzielle Engpässe und der Mangel an Backstein könnten aber zu diesem Lösungsvorschlag geführt haben. Das Vorhandensein des Entwurfs an sich zeugt jedoch schon von der lösungsorientierten Arbeitsweise des Architekturbüros Berghoefs und der Offenheit alle bestehenden Möglichkeiten in den Entwurfsprozess miteinzubeziehen. Ferner wurden auch für den Bau der Johanneskapelle in Den Haag, zur Aufsockelung des Kirchensaals präfabrizierte Betonbauteile verwendet. Wie in Abb. 61 zu sehen, besteht der Boden hier aus so genannten Betonelementen (so genannte kwaaitaalelemente). 451 Kwaaitaalböden wurden von 1965 bis 1981 durch die Firma Kwaaitaal bzw. Manta produziert. Schlussendlich sehen wir im Kirchenbau Berghoefs eine gemäßigte Anwendung der neuen Baumaterialien im Kirchenbau, die zweifelsohne auch mit der Größe der Aufträge, den verfügbaren Mitteln und der Erwartungshaltung von Architekt und Auftraggebern zu tun hatte. 450 Vgl die verschiedenen Standpunkte von De Bruyn ; Koldewey 1955; Beginselen van Kerkbouw 1954, 43f. 451 BERX 436, siehe hierzu auch die Pläne 4A-2 und 2A

147 Kapitel 4 Diffusion des Raumes - Der niederländische Kirchenbau gemäß Berghoef Der eindeutig offene Umgang mit dem Material Stahl bei drei seiner Kirchen (Triumphatorkirche, Johanneskapelle und Markuskirche) zeugt von der gezielten Auseinandersetzung des Architekten mit den verschiedenen Materialmöglichkeiten. An dieser Stelle müssen wir das Werk Berghoef deutlich von der Baupraxis Granpré Molières und Krophollers unterscheiden. Die in der Historiografie unterstellte Materialabneigung der so genannten Traditionalisten ist in diese Falle nicht haltbar. Abb. 60 Berghoef & Klarenbeek. Plan zum Wandaufbau der Pauluskerk, Außenseite Airey- Systembauplatten, Innenseite Backsteinmauerwerk. Abb. 61 Berghoef & Klarenbeek. Planzeichnung und Detailangaben zum angewendeten Montagesystem für den Boden der Johanneskapelle in Den Haag,

148 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Van een belangrijker gebouw vragen we onbewust dat het representatief is voor het spel dat daarbinnen gespeeld wordt, het wint aan betekenis naar de mate, waarin het de zin van dat spel in wijder verband uitdrukt. Berghoef, Aus den zahlreichen Entwürfen, Archivdokumenten, Texten und verwirklichten Rathausbauten Berghoefs zeichnet sich eine Sichtweise auf den Rathausbau ab, der sowohl moderne als auch traditionelle Mittel und Maßnahmen ergreift, um den Anforderungen von Funktionalität, Monumentalität und Charakter eines modernen Rathausbaus gerecht zu werden. In erster Linie sah Berghoef den Rathausbau als gesellschaftliche und kulturelle Bauaufgabe, ganz im Sinne der Bestrebungen moderner Architektur. Nach seiner Vorstellung sollte ein Rathaus in seiner Funktion als Stadthaus die Bedeutung der Gemeinschaft betonen. Dies entspricht der gebräuchlichen niederländischen Bezeichnung des Rathauses als Gemeentehuis (dt. Gemeindehaus). Tatsächlich hat Berghoef diese moderne Sichtweise auf den Rathausbau im Laufe seiner Aktivität als Architekt und durch die gezielte Beschäftigung mit dieser spezifischen repräsentativen Bauaufgabe entwickelt. Das erste Mal, dass Berghoef sich mit dem Rathausbau beschäftigte und für diese Bauaufgabe entwarf, war im Kontext der Amsterdamer Rathauspreisfrage ( ). Auch wenn die Entwürfe, die Berghoef gemeinsam mit seinem Kollegen J. J. Vegter anfertigte, keine Ausführung fanden, so lässt sich innerhalb dieser Entwurfsreihe die Entwicklung des Rathausbaus im Werk Berghoefs und im Kontext der Architekturentwicklung exemplarisch demonstrieren. Der national ausgeschriebene Wettbewerb zum Rathausneubau von Amsterdam von 1936 war nach den Jahren der ersten Etablierung der `neuen, modernen Architektur, dem Nieuwe Bouwen, die erste Möglichkeit für niederländischen Architekten einen Bauauftrag für eine großformatige und monumentale Bauaufgabe zu erlangen. Die Ausschreibung für ein so bedeutendes Bauwerk, das internationale Reputation versprach, war dabei sicherlich auch eine Art `Kraftmessung unter den Architekten. 453 Die Architekturhistoriografie pauschalisiert in diesem Kontext gerne den Machtkampf zwischen den Modernisten und den Traditionalisten der Delftse School. 454 Die im Folgenden vorgestellten und erläuterten Entwürfe von Berghoef und Vegter weisen verschiedene Aspekte auf, die in der Diskussion rundum Moderne und Tradition in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen diskutiert wurden. Neben Stilfragen und Aspekten der Formgebung wurden von den Zeitgenossen Funktionalität und symbolische bzw. gesellschaftliche Bedeutung des neuen Rathausbaus kritisch begutachtet. 455 Die Entwicklung des Rathausbaus zwischen 1930 und 1965 zeigt, dass die Schlagwörter Monumentalität, Repräsentation und Charakter in der Formgebung dieser Bauaufgabe eine 452 Berghoef 1952, Colenbrander 1993, 242. Hier ist ebenfalls eine kleine Auswahl der eingereichten Entwürfe zu sehen. Eine gezieltere Betrachtung der Entwürfe die von Mitgliedern der Groep `32 eingereicht wurden, liefert Manfred Bock, Bock Ferner ist zu verweisen auf Prijsvraag voor het nieuwe Raadhuis te Amsterdam 1939b; Boeyinga 1939; Sleeboom 1974; De Haan 1988; De Jong und Mattie Heijder 1990; Bosma 1995, 195ff; Buch 1997, Für die Analyse dienten neben der Fachliteratur in erster Linie die Archivdokumente aus dem Nachlass Berghoef: BERX s 1-21, s23, s52, s90, s97, s112, s172, ph1, ph19, ph32, s

149 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau wichtige Rolle gespielt haben. Zur Expression dieser formalen Anforderungen bedienten sich sowohl die Traditionalisten als auch Modernisten eines traditionellen, d. h. überlieferten rathausspezifischen Formvokabulars (Turm, Eingangs- und Fassadengestaltung, räumliche Disposition u.v.m.). Auch das städtische Wappen, eine Uhr und der Fahnenmast sind bei fast allen Rathausbauten zu finden. In welchem Maße diese Formelemente allerdings ihre Ausführung finden, variierte von Architekt zu Architekt und von Bau zu Bau. Es existierte ein Stilpluralismus. Unterschiede lassen sich überdies hinsichtlich des Vermittlungspotentials von Architektur feststellen. Ein Bauwerk musste nach Ansicht der Traditionalisten sprechen durch Formcodes (d. h. basierend auf traditionellem Material und traditionsorientierter Formgebung). Die Modernisten hingegen schienen die Rathausarchitektur durch die teilweise radikale Reduktion der rathausspezifischen Formelemente beinahe sprachlos werden zu lassen. Die in der Literatur kategorisch angewendete Plakatierung von traditionell und modern basiert in der Regel auf der stilistischen Einordnung der Rathausarchitektur. Anhand der im Folgenden untersuchten Rathausbauten soll jedoch deutlich gemacht werden, dass Berghoef eine Rathausarchitektur entwarf, in der sich ein äußerst funktionaler Baukern bestehend aus der neuesten Bautechnik und neuestem Baumaterial mit einem traditionell verwurzeltem Formenvokabular arrangierte. Ein weiterer Aspekt der Formgebung von Rathäusern im 20. Jahrhundert war die Wahl zwischen dem geschlossenen und mehrteiligen Gebäudekomplex, um die beiden Funktionen Administration und Repräsentation unterzubringen und auszudrücken. Die folgende Analyse soll zeigen, wie Berghoef in seinen Entwürfen mit beiden Lösungen experimentierte, sich aber letzlich die Ausführung eines (Raum-)Konzepts in seinem Werk durchsetzte. Die Amsterdamer Rathauspreisfrage ( ) Die chronologische Übersicht der Entwürfe von Berghoef und Vegter für die Amsterdamer Rathauspreisfrage hat gezeigt, dass die lange Laufzeit und die zwischenzeitliche Stilllegung des Projekts ( ) einen Bruch bzw. Umschwung in der Entwicklung der Entwürfe verursacht haben. Der Kontrast zwischen den Vorschlägen, die vor und nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, ist nicht zu übersehen. In den zwei Jahrzehnten scheint sich nicht nur das Formdenken, sondern auch die Auffassung von räumlicher Struktur und der technische und funktionale Anspruch der Architekten an den Rathausbau enorm gewandelt zu haben. Belfort Nachdem im April 1929 der alte Palastbau (Paleis voor Volksvlijt) am Frederiksplein in Amsterdam abgebrannt war, erachtete man das neu gewonnene Bauterrain als geeignet für einen neuen repräsentativen Rathausbau der Stadt. Im Dezember 1936 konnten schließlich die Programme für die Ausschreibung an die interessierten Architekten verschickt werden. Jeder Entwurf sollte bis zum 10. August 1937 unter einem Motto eingesandt werden und einen Situationsplan, Grundrisse, zwei Querschnitte, eine Perspektivzeichnung und ein Erläuterungsschreiben enthalten. 457 Bei dem Preisausschreiben zum Neubau des Amsterdamer 456 In der Literatur läuft dieser Entwurf teilweise auch unter der Bezeichnung Belford. Veröffentlichte Abbildungen siehe u. a. in: Prijsvraag voor het nieuwe Raadhuis te Amsterdam 1939b, 64f. Im Berghoef Archiv sind die betreffenden Dokumente und Entwürfe der Anfangsphase des Wettbewerbs zu finden unter BERX s1 - s21 (0147). 457 Eine detaillierte Beschreibung zum Ablauf des Wettbewerbs geben Heijder 1990 und Takkenberg

150 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Stadthauses, in dessen Jury u.a. Granpré Molière saß, traten 1937 Berghoef und sein Studienkollege Johannes J. Vegter als Architektenduo an, um einen gemeinsamen Entwurf unter dem Motto `Belfort (I) einzureichen. 458 Der erste Entwurf, den die Architekten Berghoef und Vegter 1936 unter dem Motto `Belfort einreichten, hat in der bisherigen Architekturhistoriografie keine Berücksichtigung gefunden und ist deshalb kaum bekannt (Abb. 62). Das von der Stadt Amsterdam 1936 ausgeschriebene Bauprogramm für das neu zu entwerfende Rathaus beinhaltete die Anforderung, dass in diesem beinahe alle städtischen Abteilungen, die zum damaligen Zeitpunkt an verschiedenen Orten ausgelagert waren, Unterbringung finden sollten. 459 Dabei wurde eine Trennung von Administrations- und Repräsentationstrakt ebenso gewünscht, wie das Begrenzen des Publikumverkehrs auf das Erdgeschoß. Die Bevölkerung sollte nicht ohne weiteres zum repräsentativen Trakt, d. h. den Büroräumen der höhergestellten Beamten (Bürgermeister, Abgeordnete) und dem Ratssaal, durchdringen. Möglichst ein zentraler Eingang und nicht mehr als drei Nebeneingänge sollten die Kontrolle der Besuchermassen und die Sicherheit gewährleisten. 460 Im Anschluss an dieses Bauprogramm entwarf das Architekturduo eine mehrflügelige Anlage mit einem unregelmäßigen, trapezoidalen Grundriss (Abb. 63). Die nach außen hin dreigeschoßige Anlage verfügt im Entwurf über zwei offene Innenhöfe und zwei überdachte Lichthöfe unterschiedlicher Grundfläche. Im Zentrum wurde ein massiver Turm projiziert, an den vier Eckpunkten des Gebäudes je ein niedriger Eckturm mit je einer eigenen Formgebung. Aufgrund der im Bauprogramm geforderten räumlichen Trennung der verschiedenen Funktionen des Rathauses befinden sich die repräsentativen Räume mit aufwendiger, exklusiver Ausstattung (zwei Säle, Bürgermeisterzimmer, Beigeordnetenbüros und Trausäle der beiden oberen Kategorien) im ersten Obergeschoß rundherum des großen Innenhofs. Diese Räume waren über ein Vestibül, eine Halle und eine breite Treppe erreichbar. Das Raumkonzept erinnert in seiner Formgebung an das Rathaus von Stockholm. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren in Skandinavien zwei große Rathausbauten entstanden: das Kopenhagener Rathaus von 1905 (Architekt Martin Nyrop) und das Stockholmer Rathaus von 1923 (Architekt Ragnar Östberg) Diese beiden Rathäuser besaßen nach ihrer Fertigstellung einen hohen Bekanntheitsgrad und dienten im 20. Jahrhunderts als Inspirationsquelle für viele Architekten. Als eine der deutlichsten Verarbeitungen des Stockholmer Rathauses kann das Rathaus in Enschede (1933) von Gijsbert Friedhoff gewertet werden (Abb. 64). 461 Im vergleichbaren Maße wie beim Enscheder Rathaus scheint auch bei Berghoef und Vegters erstem Entwurf die Formgebung der Fassade mit der exzentrischen Arkade und dem längsgerichetem Satteldach inspiriert von dem Stockholmer Rathaus. 462 Inspirativ erscheint auch der seitliche Abschluss mit den Ecktürmen. Eine Variation zeigt sich darin, dass Berghoef 458 Gerade wegen der Mitgliedschaft Granpré Moliéres in der Jury wurde eine Bevorzugung traditionalistischer Architekten unterstellt. Weitere Jurymitglieder waren: W. de Vlugt (Bürgermeister der Stadt Amsterdam), S. Rodrigues de Miranda (Beigeordneter der öffentlichen Angelegenheiten), W. A. de Graaff und A. R. Hulshoff. 459 Siehe BERX In Teilen war das ausgeschriebene Bauprogramm des Wettbewerbs noch undeutlich, so dass einige Fragen seitens der Architekten öffentlich in Bouwkundig Weekblad beantwortet wurden. Siehe zusammenfassend Heijder Siehe ferner Enschede Vgl. auch Heuvel 2001,

151 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau und Vegter den großen Turm zentral in den Grundriss positioniert haben und nicht als Eckturm handhaben wie es beim Rathaus von Stockholm der Fall ist. Im Vergleich dazu orientierte sich der Architekt Gijsbert Friedhoff mit seinem Rathaus in Enschede (1933) besonders bezüglich der monumentalen Erscheinung des Turmes und der Backsteinfassade noch näher an dem Stockholmer Vorbild. Auch das Museum Boymans Van Beuningen in Rotterdam (1935) von Ad van der Steur zeigt in Grundriss und Aufbau, besonders dem Turm, eine Verarbeitung der Stockholmer Rathausidee. Der unregelmäßige Grundriss von trapezoidaler Form und die Abfolge von Arkatur, Innenhof, Vestibül und Halle in Stockholm waren mit Sicherheit auch Ideen gebend für die Gliederung des ersten Rathausentwurfs des Architektenduos. Insgesamt weist der Entwurf Belfort I eine Verdopplung dieser schwedischen Grunddisposition auf (Abb. 63). Der Grundriss beinhaltet je zwei Innenhöfe und je zwei Hallen, um die sich die jeweiligen Räume gruppieren. Von dem zentral stehenden Turm verlaufen verbindende Bauelemente kreuzförmig zu den außenliegenden Flügeln. Die bürgerlichen Dienste sind in diesem Entwurf im hinteren (nördlichen) Trakt untergebracht. Die Auswertung der ersten Runde ließ nicht all zu lang auf sich warten. Die Jury bat schließlich vier der 225 eingereichten Entwürfe zu einer geschlossenen Runde, die 1938 stattfand. Hieran nahmen Jan F. und Arthur Staal (No. 189, Motto ANAΓKH), Marius F. Duintjer und Auke Komter (No. 159, Motto Meron), Henri T. Zwiers (No. 72, Motto 13659) und nicht zuletzt auch Berghoef und Vegter (No. 201, Motto Belfort) teil. 463 Der von den Architekten gewählte Titel für den eingereichten Entwurf `Belfort besitzt von sich aus bereits eine historische Referenz. Belforts (franz. beffroi) waren besonders im flämischen Raum städtische Wachttürme mit einer Sturmglocke. Die einzige niederländische Stadt mit einem Belfort waren die Städte Sluis und Middelburg Die Nummern der Entwürfe (No) verweisen auf die Nummerierung der Einsendung. 464 Siehe auch: [eingesehen am , 14:23h]. 149

152 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 62 J. F. Berghoef und J. J.Vegter. Erster Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses (Motto Belfort), Städtebauliche Situation am Frederiksplein (oben) und Hauptfassade (unten). 150

153 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Erster Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses (Motto Belfort), Grundriss: Erdgeschoß (unten) und Beletage (oben). 151

154 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 64 G. Friedhoff. Rathaus von Enschede an der Langestraat 24, Belfort II Der zweite Entwurf, den das Architektenduo für die folgende Runde des Wettbewerbs einreichte, ist der wohl bekannteste Entwurf, mit dem der Architekt Berghoef in der Architekturhistoriografie in Verbindung gebracht wird (Abb. 65). Aufgrund seiner außergewöhnlichen, auf eine italienische Formtradition bezugnehmenden Formgebung hat dieser Entwurf stets das Interesse der Kritiker geweckt und wurde als beinahe stigmatisierendes Merkmal von Berghoefs frühen Werk in der Architekturhistoriografie etabliert. Der unter dem gleichen Motto eingereichte Entwurf (`Belfort II ) zeichnet sich jedoch sowohl in Grundriss als auch im Aufbau durch ein gänzliches neues Konzept aus. Die Idee der kompakten Anlage mit den zwei offenen und zwei überdachten Höfen wurde fallen gelassen. Stattdessen entwarfen die Architekten einen langen Baublock als Repräsentationstrakt, an dessen Rückseite sich vier gleichförmige Bürotrakte anschließen (Abb. 66 bis Abb. 74). Den Übergang zu diesen bilden zwei Verbindungstrakte, die in eine lange Fluranlage enden, an dessen Außenenden sich die zwei hoch aufragenden Türme befinden, die auch die Frontansicht des Baukörpers kennzeichnen. Der Hauptblock ist der Platzseite, dem Frederiksplein, zugewandt. Die geschlossene Fassade sollte die geforderte Monumentalität und Massivität ausdrücken. Eine Perspektivskizze zur räumliche Anordnung auf dem Platz zeigt, dass das Rathaus freistehend als mächtiger Block in Erscheinung treten sollte, gerahmt von den zwei hohen Türmen, die ein vertikales Gegengewicht zur Horizontalen des Hauptblocks liefern (Abb. 69). Die viergeschossige breite Anlage des Repräsentationstrakts besitzt einen zentralen Prospektionspunkt in dem klein gehaltenen, mittig platzierten Eingang, der durch Figurenkompositionen und einen Balkon betont wird. Darüber befindet sich eine die Dachlinie durchbrechende Reihe von Zwillingsfenstern, die dem Bau einen unmissverständlich italienischen Charakter verleihen. Gleichzeitig lässt die Struktur des Backsteinmauerwerks eine Inspiration seitens der dänischen Architektur vermuten, wie dem Kopenhagener Rathaus und den Linoleum Wohnungen von 152

155 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Povl Baumann an der Ågade in Kopenhagen (1930). 465 Diese weisen eine vergleichbare Ausführung der Backsteinfassade in Rautenmuster auf. Markant an diesem zweiten Entwurf ist die vorherrschende Mauerfläche, in denen die kleinen Rundbogenfenster zweitrangig wirken. Die Jury kritisierte diesen Aspekt, schien die ruhige Monumentalität der mittelalterlichen venezianischen Fassade jedoch geschätzt zu haben. 466 Verschiedene Hallen, Treppen und Flure sollten den Verkehrsfluss innerhalb der Gesamtanlage und innerhalb der Trakte steuern. Der Zugang zu den vier Bürogebäuden geschieht in diesem Entwurf über die Ecktürme und nicht über den Hauptblock. Doch scheinen die von der Jury kritisierten Zugänge tatsächlich recht klein für große Besuchermassen. Um in die oberen Etagen des Bürobaus zu gelangen, sollte es Aufgänge in der langen Galerie und an den Kurzseiten der jeweiligen Bürotrakte geben. Zur geplanten Bautechnik gibt es bei diesem Entwurf aufgrund seiner Vorläufigkeit wenig zu sagen. Als einzige Angabe findet sich in der Entwurfsbeschreibung, dass die vier Büroflügel nach Angaben der Pläne mittels eines Betonskeletts errichtet und die Wände mit Backstein und Muschelkalkstein (für Dekorationselemente) verfüllt werden sollten. 467 Der Querschnitt durch den Hauptblock zeigt die geplante Decken-Raum-Konstruktion von Gewölben bzw. dem offenen vorgeführten hölzernen Dachstühlen in der großen Halle (Bürgersaal) (Abb. 70; Abb. 71). Die massive Wand wird nur von einer Reihe Rundbogenfenstern in der zweiten Etage durchbrochen und verleiht der Architektur deshalb einen geschlossenen Charakter. Nach dieser Runde, die in erster Instanz keinen zufriedenstellenden Entwurf hervorbrachte, kamen die Vorschläge von Berghoef und Vegter mit dem Entwurf `Belfort II sowie Duintjer und Komter mit `Meron in die engere Auswahl der Jury. Die beiden Architektenduos wurden gefragt, ihre Vorschläge zu definitiven Entwürfen umzuarbeiten. Abb J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Zweiter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses (Belfort II), Ansicht der Hauptfassade mit zentralem Hauptzugang und der darüber angeordneten Fensterreihe des Bürgersaals. 465 Detailzeichnungen von Belfort II, siehe BERX ph1 (0550). Wie Van Heuvel darlegt, könnten die genannten Bauten eine insprirative Rolle für Berghoef und Vegter gespielt haben. Heuvel 2001, 152f. 466 Siehe zum Juryrapport: De Amsterdamsche stadhuisprojecten 1939; [zuletzt eingesehen am :39h]. Ferner auch Sangster Darüberhinaus sollten die Materialen Holz, Marmor und Granit verbaut werden. Siehe BERX ph1 (0550). 153

156 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 66 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Zweiter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses (Belfort II), Seitenansicht (oben) mit links den Bürotrakten und rechts dem Haupttrakt und Rückansicht (unten) mit den vier parallel angeordneten Bürotrakten. 154

157 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 67 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Zweiter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses (Belfort II), Grundrisse: Erdgeschoß (unten), erstes Obergeschoß (mittig), darüberliegende Etage (angeschnitten, oben). 155

158 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 68 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Zweiter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses (Belfort II), Modell: Vorderseite zum Frederiksplein und Rückansicht. Quelle: BERX ph1 Abb. 69 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Perspektivskizze für Belfort II, Fassade am Frederiksplein, Studie (links) und der für die Jury eingereichte Entwurf (rechts). 156

159 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 70 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Entwurf Belfort II, Querschnitte durch den längsgerichteten Hauptblock am Frederiksplein, Im Erdgeschoß die Zugangshalle, im Obergeschoß der zweistöckige Bürgersaal. Abb. 71 Berghoef & Vegter. Zweiter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses (Belfort II), Ansichtsskizze: Interieur des Bürgersaals. Belfort III Da keiner der überarbeitetenen Entwürfe der ersten geschlossenen Runde von 1938 die Jury überzeugen konnte, reichten die beiden auserkorenen Architektenduos 1941 neue Vorschläge ein, doch forderte der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine Unterbrechung des Wettbewerbs. Erst 1945 wurde der dritte Entwurf (Belfort III) von Berghoef und Vegter offiziell mit dem ersten Preis bekrönt und zur Ausführung empfohlen. Für diese dritte Runde des Wettbewerbs nahm das Architektenduo Berghoef & Vegter eine gänzliche Umarbeitung des Entwurfes `Belfort II vor. Wie zuvor wurde der bisherige Entwurf bezüglich Grundriss und Aufbau verworfen und der neue Vorschlag von Grund auf neu geplant. Der hieraus resultierende Entwurf `Belfort III besitzt im Vergleich zu Belfort II einen erhöhten monumentalen Charakter durch seine großen architektonische Ausmaße, seine mehrteiliges Bauvolumen und die lange 157

160 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau geschlossene Platzfassade (Abb. 72). In diesem Entwurf bestimmt das geplante Rathaus den Platz, indem es diesen zu zwei Seiten einrahmt. Als neues Element taucht ein alles überragender frei stehender schlanker Glockenturm auf, der den vorliegenden Platz markiert. Der Grundriss von Belfort III weist vier verschiedene Bauelemente auf: einen großen Bürotrakt (Administration), den Bürotrakt des Bürgermeisters und der Beigeordneten (Regierungsblock), einen repräsentativen Bautrakt mit Saalräumen (Haupttrakt) und schließlich den Turm. Die Zusammenführung dieser hierarchisierten Bauelemente fand über die Arkaden statt. Begründet wurde dies damit, dass hierdurch eine absolute Trennung aller Funktionen eines Rathauses in diversen Bautrakten sichtbar würde, die nur durch Verbindungselemente zu einer einheitlichen Architektur zusammengefasst würde. Dies sollte der Anforderung der Baukommission nach einem administrativen, semi-repräsentativen und repräsentativen Trakt innerhalb der Rathausarchitektur entsprechen. Laut Erläuterung der Architekten sollte das Bauwerk in dieser Ausführung einen markanten Punkt im städtebaulichen Kontext Amsterdams darstellen. 468 Der frei stehende Turm von überragender Größe (mehr als 100 m) war für diesen Intention essenziell (Abb. 73). Die Architekten interpretierten ihre Architektur als vornehmes Bauwerk, das seinen Charakter insbesondere durch seine Umgebung erhalte. Betont wurde die harmonische Verbindung von Übereinstimmung und Gegenüberstellung der verschiedenen Bauteile mit einem dominanten Punkt, dem Turm, der die ganze Platzsituation beherrschen sollte. Ziel war es, den Turm mit einem Lift zu versehen und als Aussichtspunkt der Stadt zu etablieren. Desweiteren verfolgten die Architekten mit diesem Entwurf die Idee, mit der Anlage einen großen Raum zu schaffen, so dass eine Platzfläche von ca m² projiziert werden sollte. Die Schmalseite des Hauptblocks erhielt einen eigenen Vorplatz, der via Treppen mit dem großen Platz in Verbindung stehen sollte. Als Kontrast zum großen gepflasterten Platz wurde zwischen dem Hauptblock und dem Bürgermeistertrakt eine Gartenanlage entworfen. Der Zugang zum Hauptblock sollte über Wasser und Straßenverkehr erreichbar sein, wobei sich der Eingang an der Grachtenseite des mittelalterlich inspirierten, quadratischen Ratsturms befand. Ein monumentaler Zugang zum Repräsentationstrakt wurde an der Platzseite in Form einer doppelläufigen Freitreppe geschaffen. Jeder Bautrakt besaß im Schnitt zwei bis drei Zugänge. Der publike Trakt mit den Bürgerdiensten weist in seiner trapezoidalen Grundform eine Verwandtschaft zum Entwurf Belfort I bzw. dem Grundrisstypus des Stockholmer Rathauses auf. Zwei Hallen bzw. Lichthöfe werden mittig durch ein Vestibül getrennt und gleichzeitig von vier Flügeln gerahmt, deren Ecken durch rechteckige kleine Türme betont werden. Die beiden Lichthöfe sind als Knotenpunkte für die Verteilung der Besuchermenge vorgesehen und sollen gemeinsam mit dem Vestibül als publiker Verkehrs- und Warteraum funktionieren. Die Ämter mit geringerem Zulauf werden in der ersten Etage untergebracht. Der Verkehrsfluss innerhalb des Gebäudes soll über vier Treppenaufgänge geleitet werden. Als Baumaterialien hatten die Architekten roten Backstein und französischen Kalkstein für die Fassade vorgesehen sowie Granit für die Säulen. Das Dach sollte mit schwarzen Dachpfannen gedeckt werden, während der Turm eine Kupfer- und Bleibedeckung erhalten sollte. Ferner sollten die Fensterrahmen allgemein in Bronze ausgeführt werden. Während die Ausstattung der Büroräume keine gesonderte Erwähnung fand, wurde von den Architekten 468 Vgl. Berghoef und Vegter 1947,

161 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau betont, dass die repräsentativen Räume mit wertvollen Materialien ausgestattet werden sollten. Überdies hoben die Architekten in ihrer Entwurfserklärung nachdrücklich die vorgesehene Variabilität der Büroräume hervor, da sich im Laufe der Zeit die Anforderungen an den Bau verändern könnten. 469 Abb. 72 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Dritter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses (Belfort III), 1941). Modell: Bürotrakt (links) und Repräsentationstrakt mit dem Bürgersaal und dem Ratsturm rechts hinter dem freistehend projizierten Turm. 469 Berghoef und Vegter

162 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 73 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Dritter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses (Belfort III), Perspektivzeichnung des Rathausvorplatzes: links der Hauptflügel mit den Büroräumen, daran anschließend der Ratsturm (Hintergrund links) und der Repräsentationstrakt mit dem Bürgersaal. rechts der freistehende Aussichts-Glockenturm. Abb. 74 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Dritter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses (Belfort III), Perspektivzeichnung: Sicht in den Bürgersaal. Die Entwürfe von 1958 und 1961 Die letzte Entwurfsphase der Amsterdamer Rathauspreisfrage setzt sich aus einer Reihe von Entwürfen zusammen, die das Architektenduo zwischen 1958 und 1961 anfertigte. Das Kriegsgeschehen bedingte die Suche nach einem neuen Bauplatz, da der ursprünglich vorgesehene Bauplatz am Frederiksplein nicht mehr geeignet war. Das neue Bauterrain am Waterlooplein an der Amstel wurde 1954 für gut befunden, erforderte jedoch eine Überarbeitung und Anpassung des Entwurfs. Die lange Verzögerung durch die Kriegsereignisse, andere Bauaufträge von größerer Wichtigkeit für den Wiederaufbau des Landes (vorrangig Wohnungsbau) und das Suchen der Stadt Amsterdam nach einem neuen Baugrundstück, ließ die bis dato ausgearbeiteten Pläne lange in der Schublade verschwinden. 160

163 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Bei der Wiederaufnahme des Rathausprojekts im Jahr 1954 entsprachen die inzwischen mehr als fünfzehn Jahre zurückliegenden Pläne jedoch nicht mehr den aktuellen Ansprüchen und Zeitumständen der Nachkriegseit. Die Gesellschaft war verändert, so auch das Verhältnis zwischen Bürger und Stadtverwaltung, das durch eine geringere Distanz im Vergleich zu den Jahren vor dem Krieg gekennzeichnet war. Weitere Aspekte, die eine Interpretation des Rathausbaus notwendig machten, war die zunehmende Technisierung der Bürgeradministration, das Bevölkerungswachstum und eine Ausweitung der Funktionen, die ein neuer Rathausbau zu erfüllen hatte. Als neuer Bauplatz war ein Gelände am Zwanenburgwal an der Amstel vorgesehen, wo sich heute die so genannte `Stopera, ein Komplex von Rathaus mit Oper, befindet. Dementsprechend mussten sich die beiden Architekten Mitte der Fünfziger Jahre erneut von Grund auf mit dem Bauauftrag befassen. Die vorherigen Pläne bildeten keine Basis mehr für den ersten vorläufigen Entwurf von 1958, der für die Baukommission und für die Öffentlichkeit in der Fachzeitschrift Bouwkundig Weekblad erläutert wurde erging der Beschluss, Berghoef und Vegter einen detaillierteren Entwurf anfertigen zu lassen, der 1958 als vorläufiger Entwurf eingereicht wurde. Der Entwurf trug nun keinen Mottotitel mehr, d. h. das Belfortthema wurde in dieser Überarbeitug gänzlich fallen gelassen. Wir können an dieser Stelle folglich eine Distanzierung des Architektenduos von der früheren traditionsorientierten Auffassung einer Rathausarchitektur feststellen. Dies schlägt sich in einer neu gewählten Formgebung nieder (Abb. 75). Der neue, 1958 vorgelegte Entwurf beinhaltet einen Vierflügelbau mit quadratischem Grundriss (100x120m), der sich um einen freien Innenhof (40x50m) orientiert (Abb. 75, Abb. 76). Während an der Ostseite des Baus ein geräumiger Platz für Veranstaltungen etc. vorgesehen war, sollte auch genügend Platz für den Verkehrsfluss rund um das Stadthaus freigehalten werden. Die Galerien rund um den Bau sollten zur Lebendigkeit und Offenheit der Architektur beitragen. Diese Offenheit des Baukörpers, im Sinne eines Sich-Öffnens und Sich- Anbietens, entspricht dem allgemeinen Trend der nachkriegszeitlichen Rathausarchitektur. Der neue moderne Rathausbau nach 1945 musste zugänglicher werden und gleichzeitig auf eine repräsentative Weise Würde und Autorität ausstrahlen. 471 Diese verschiedenen Funktionen des Rathauses wurden von Berghoef und Vegter im Entwurf in den differenzierten Baumassen (Repräsentations- und Bürotrakte) untergebracht, während die integrative Baumasse in der Intention der Architekten alles wieder zu einem Ganzen vereinen sollte. Die im Kontrast zu den vorangegangenen Entwürfen hier in einem Baublock vorgeschlagene Rathausarchitektur sollte die Einheit der Rathausfunktionen und somit der städtischen Gemeinde verbildlichen. Studienzeichnungen Berghoefs verdeutlichen dessen Suche nach einem geeigneten Grundriss (Abb. 77). Viele Möglichkeiten und Varianten wurden auf dem Papier ausprobiert. Die räumliche Struktur hatten die Architekten so angelegt, dass die äußere und innere Ordnung des Verkehrsflusses durch den Platz, die Galerien und den Innenhof miteinander verflochten wurde. Der Zugang zum Gebäude sollte über den Innenhof geleistet werden und führte in das Foyer mit royaler, monumentaler Treppe (Abb. 78). Dieses Foyer wurde vom Besucher über eine Arkade an der nordöstlichen Seite (Waterlooplein) 470 Siehe hierzu Amsterdams Stadhuis aan de Amstel Vgl. Damus 1988,

164 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau erreicht. Als Hauptfassade wurde entgegen jeglicher Erwartung und traditioneller Handhabung nicht die Platzseite, sondern die Fassade zur Amstel von den Architekten genannt, da sich hier der Bürgersaal befinden sollte. Eine besondere städtebauliche Integration der Architektur in den Kontext seiner Positionierung an der Amstel wird hierdurch deutlich (Abb. 75; Abb. 79). Am Außenbau sollte die Struktur des Betonskeletts durch eine plastische Behandlung der Glas- und Säulenflächen und das sichtbare, nackte Pfeilersystem im Erdgeschoß offen gelegt werden. Für die größeren Wandflächen war eine Verkleidung aus Backstein und Naturstein vorgesehen. 472 In dieser Beschreibung lassen sich die modernen Bestrebungen der beiden Architekten ablesen, die die neuen Baumaterialen Glas und Stahlbeton sichtbar und auf ästhetische Weise in Kombination mit verschiedenen Materialien handhaben wollten. Die Fassade sollte an vielen Stellen möglichst offen gestaltet werden, d. h. durch die Verwendung von Glasflächen ein fließender Übergang von Außen- und Innenraum kreiert werden. Das von der Stadt geforderte Glockenspiel wurde in diesem Entwurf (1958) in einem freistehenden Turm berücksichtigt, der in der östlichen Ecke des Waterlooplein positioniert wurde. Da dieser aber nicht wie bei den ersten Entwürfen Belfort I-III als Kulminationspunkt der Stadt verstanden wurden, sondern nur rein funktional als Glockenspielträger und verlebendigendes Element des Stadtbilds verstanden wurde, besitzt er eine geringe Höhe, die in keiner Konkurrenz zur Baumasses des Rathauses selbst stehen sollte. In dieser Maßnahme ist das neue nachkriegszeitliche Verständnis von Rathausarchitektur abzulesen. Die beiden Architekten gaben mit ihrem Entwurf dieser neuen Auffassung der Bauaufgabe Rathaus Form. Es gibt hier keinen alles überragenden, Platz beherrschenden Turm mehr, die Belfort-Idee ist fallengelassen. Der neue Rathausbau soll in erster Linie über seine Zugänglichkeit und seine gesellschaftliche Funktion für sich sprechen und den Anforderungen an einen modernen Rathausbau gerecht werden. Aufbauend auf diesen eingereichten vorläufigen Entwurf von 1958 wurden Berghoef und Vegter von der Stadt gebeten einen definitiven Vorschlag einzureichen. Da allerdings andere Bauaufträge im Kontext des Wiederaufbaus für die beiden Architekten Priorität hatten, wurde die Überarbeitung erst zwei Jahre später eingereicht. Dieser von dem Architektenduo 1961 präsentierte definitive Entwurf unterschied sich sehr vom anfänglichen Plan, besonders bezüglich des monumentalen Eingangs. Die Folge war eine Welle an Kritik seitens der Kommissionsteilnehmer und Architekten an den Stadtrat. Wie das Modell vom überarbeiteten so genannten `definitiven Entwurf 1961 zeigt, waren vor allem kleine Veränderungen in der Außenstruktur vorgenommen worden (Abb. 80) Die Maßeinteilung wurde unwesentlich verändert und manche Räume und Treppen anders im Innenraum positioniert. 473 Insgesamt besaß die in diesem Entwurf geplante Architektur aufgrund der vergrößerten durch die Stahlbetonkonstruktion ermöglichten Glasfronten eine noch größere Transparenz und Leichtigkeit im Erdgeschoß und ersten Obergeschoß. Die darüber aufgehenden Büroetagen dagegen erhielten eine viel massivere und geschlossene Formgebung. Die umlaufende Balustrade (bzw. Balkone) dazwischen bildeten eine akzentuierte Horizontale und betonten die 472 In der zweiten Ebene forderte die Funktionalität des Baus nach Trennwänden anstelle von offenen Pfeilerräumen. Diese Trennwände sollen mobil, d.h. flexibel zu versetzen sein. Vgl. die Beschreibungen der Architekten in Amsterdams Stadhuis aan de Amstel Maße der Entwürfe: Außenmaße: 102 x 120 m, Innenhof 40 x 50 m, H 23 m; Definitiver Entwurf 1961: Außenmaße 90 x 122, Innenhof 40 x 62, Höhe 28 m. BERX ph1 (0550). 162

165 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau eingesetzten Zwischenböden des Skelettbaus zwischen dem Erdgeschoß und der Beletage. Die Ornamentik in diesem Entwurf beschränkt sich auf die städtische Wappenverzierung an den Pfeiler im Eingangsbereich und gaubenartige Vordächer bei einer kleineren Anzahl an Fenstern der Beletage. Im Gegensatz zum vorläufigen Entwurf von 1958 kam es bei der Überarbeitung von 1961 zu einer stärkeren horizontalen Differenzierung von einem repräsentativen, d. h. zielgerichtet öffentlichen und administrativen Trakt. Da überdies von der Jury am Entwurf von 1958 eine mangelnde Zugänglichkeit der Architektur kritisiert worden war, erfuhr die Platzseite in der überarbeiteten Version einen betonteren Eingang, d. h. eine deutliche Zugangssituation. 474 Des Weiteren wurde der Turm in diesem `definitiven Entwurf gänzlich zurückgenommen und erfuhr eine enorme Verkleinerung. Durch seine breite, kantige Formgebung markierte er aber weiterhin eine Ecke des Rathausplatzes. Die Konstruktion beim Entwurf von 1961 weist eine fortgeschrittene Loslösung der Raumaufteilung von den vertikalen und horizontalen statischen Achsen des Bauskeletts auf. D. h. beim Übergang von der Beletage zu den darüber liegenden Büroetagen findet eine Umverteilung der Lasten über die doppelte Bodenplatte statt. 475 Nur an wenigen Stellen gibt es eine durchlaufende statische Achse. Hierdurch macht der Entwurf deutlich, dass der Bau seine funktionelle Zweiteilung (administrativ und repräsentativ) nach außen hin ausdrücken sollte. Während sich im Erdgeschoß die publike Ebene befindet, sind darüber die repräsentativen Räume positioniert und darüber in drei Etagen die große Anzahl an Büroräumen. 476 Die Büros sind dabei größenteils entlang der Außenkante angeordnet. Ferner gibt es in diesen Etagen eine Kantine von ca. 650 m², außerdem ein Gymnastik-, Musik- und Ausstellungssaal. Diese Räume sind zur besseren Funktionalität über extra Zugänge erreichbar, damit sie nicht an die Büroöffnungszeiten des Rathauses gebunden sein sollten. Der Innenhof sollte jedoch nach Wunsch der Architekten nicht abgeschlossen werden, damit er auch dem öffentlichen, gesellschaftlichen städtischen Leben dienen konnte. Die allgemeine Zugänglichkeit und Offenheit der Architektur sollte hierdurch garantiert werden Vgl. Definitief ontwerp 1961, Siehe hierzu die Pläne in BERX s123 (0150). 476 Eine Fassadenskizze zum Entwurf 1961 zeigt, dass die verschiedenen drei horizontalen Zonen nach oben hin in der Höhe zunehmen, d.h. in der Proportion 1:2:3. BERX s52 (0547). 477 Laut dem Bauprogramm für das neue Rathaus sollten hier fünfzehn Abteilungen der Gemeindedienste untergebracht werden. Dazu war unter dem Rathaus eine Garage für ca. 400 Autos mit direktem Zugang zum Gebäude geplant. BERX s123 (0150). 163

166 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 75 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Vierter Entwurf (ohne Mottothema) für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses, Perspektivskizze: Sicht auf die von den Architekten definierte Hauptfassade an der Amstel. Abb. 76 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Vierter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses, Grundriss der Beletage: um den Innenhof und die das Foyer (links) gruppieren sich in dieser Etage verschiedene Repräsentationsräume und Säle, der Ratssall und als größter Raum der Bürgersaal. 164

167 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 77 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Wettbewerb für das Amsterdamer Rathaus. Grundrissstudien für die Entwurfsreihe , o.a. Abb. 78 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Vierter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses, 1958, Perspektivzeichnung: Blick in das große Foyer mit der ausladenden Treppe in das erste Obergeschoß, links der Hauptzugang zum Gebäude. 165

168 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 79 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Vierter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses, Fassadenansichten: Amstelseite (links) und Waterlooplein (rechts). Abb. 80 J. F. Berghoef und J. J. Vegter. Vierter Entwurf für den Wettbewerb des Amsterdamer Rathauses, Überarbeitung Modell: Rathaus am Waterooplein. Blick gen Norden mit der Amstel links vom Rathausbau. Entwurf Da auch die Überarbeitung von 1961 die städtische Kommission nicht zufrieden stellen konnte, wurde vermutlich noch ein letzter Versuch unternommen, einen zufriedenstellenden Entwurf anzufertigen (Abb. 81). Da bis auf ein Foto eines Modells, veröffentlicht durch das Het Nieuwe Instituut, keine Dokumente hierzu im Berghoef-Archiv aufzufinden sind, liegt die Vermutung nahe, dass Berghoef hierzu keinen aktiven Beitrag mehr geliefert hat. Es handelt mit diesem der Baukommission vorgelegten Vorschlag um ein noch stärker modernistisch überarbeitetes Konzept des Rathauses. Dieser letzte Entwurf, der in seiner Formgebung bzw. Grundidee vermutlich eher Vegter zugerechnet werden darf, steht ganz im Zeichen der Auflösung des Baukörpers. Die Auflockerung der Architektur mit gestaffelten Baukörpern, die die gesamte 478 Bisher wurden im Archiv noch keine Pläne bzw. Zeichnungen zum Entwurf 1964 gefunden. Als einzige Quelle dient bisher nur das Foto der Webpräsentation auf der Homepage des Het Nieuwe Instituut. Dessen Quellenverzeichnis (Bron: Archief Berghoef) konnte bisher noch nicht bestätigt werden, da keinerlei Dokumente bisher im Berghoef-Archiv auffindbar waren. Die Autoren der Webpräsentation konnten bisher auch noch keine Auskunft geben. Es steht folglich noch weiterhin die Suche nach handgreiflichen Anschauungsmaterial zu diesem Entwurf aus. Ein nächster Schritt wäre eine Einbeziehung des Archivs Vegters in die Analyse dieser Entwurfsreihe. 166

169 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Baumasse optisch verringern, deckt sich mit der gemeinsamen Entwicklung der Rathausarchitektur der 1960/70er. Eine Erläuterung zum letzten eingereichten Vorschlag durch Vegter ist im Sitzungsprotokoll der Baukommission des Rathausprojektes ( ) nachzulesen. 479 Die Annahme, dass es sich folglich in erster Linie um einen eigenständigen Entwurf Vegters handelt, ist darum naheliegend. 480 Der neue Plan umfasste einen Komplex bestehend aus mehreren Bautrakten. Die Idee des einen Baublocks wurde schließlich nach reiflicher Überlegung fallen gelassen, aufgrund der offenen Bauform, die das neue Rathaus benötige. Die Idee des Innenhofs wurde ummoduliert in eine überdeckte Halle. Der Bürotrakt sollte über Gangelemente mit dem Repräsentationstrakt verbunden sein. Die größere Offenheit der Architektur solle nach Aussage Vegters eine bessere Integration des Baukörpers in die Umgebung ermöglichen. Markant ist, dass dieser letzte Vorschlag eine völlig neuartige Formgebung und Auffassung des Bauvolumens für den Rathausbau aufweist. Der besonders im Model sehr anschauliche Entwurf ist vollkommen losgelöst von der Formgebung der vorangegangenen Entwürfe. Zwei im rechten Winkel zueinander gesetzte offene Flügel mit Bauelementen unterschiedlicher Höhe umfassen zu je zwei Seiten den Platz des Waterlooplein. Der in der Diagonale liegende Eckpunkt an der offenen Seite des Platzes wird durch den freistehenden Turm markiert. Die Flügel mit Glaswänden erscheinen als lose Gruppierung, so dass die Funktion der Räumlichkeiten und die Frage nach Haupt- und Nebentrakt (repräsentativen und administrativen Räumen) nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Entgegen aller Bemühungen der Architekten leitete ein Beschluss des Amsterdamer Gemeinderates im Herbst 1964 die Beendigung der Zusammenarbeit mit Berghoef und Vegter ein, da eine zufriedenstellende Zusammenarbeit zur Erstellung eines endgültigen Plans nicht in Aussicht war. 481 Auch der zuletzt eingereichte Plan habe nicht überzeugt, weil sich die Architekten zu weit vom letzten Entwurf entfernt hätten, und die Karreeform nicht beibehalten worden war. 482 Drei Jahre später, 1967, kam es zu einer erneuten Ausschreibung, dessen Resultat den heutigen Rathauskomplex darstellt, eine Kombination von Stadthaus und Theaterbau, entworfen von den Architekten Wilhelm Holzbauer und Cees Dam. 479 Eingesehen im Stadsarchief Amsterdam Inv.nr. 5216, Nr P. van Buijtenen vermutet, dass nach zwanzig Jahren die Voraussetzungen für eine gute Zusamenarbeit an einem gemeinschaftlichen Projekt von Berghoef und Vegter auch nicht mehr gegeben waren und begründet dies in deren konkurrierenden Positionen: Berghoef war Hochschullehrer, Vegter arbeitete als Reichsbaumeister. Siehe Essay von Van Buijtenen 1994 (eingesehen unter am :32h). Eine Bestätigung dieses Aspekts konnte im Archiv Berghoefs jedoch nicht gefunden werden. 481 BERX s112 (0567). 482 Einige der Kritikpunkte seitens der Kommission sind nachzulesen im Sitzungsprotokoll der Kommission vom Eingesehen im Stadsarchief Amsterdam Inv.nr. 5216, Nr

170 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 81 J. J. Vegter (Anteil der Mitarbeit Berghoefs unsicher), Letzter Entwurf für den Wettbewerb der Amsterdamer Rathauspreisfrage, Modern oder traditionell? - Die Entwicklung der Entwürfe Berghoefs und Vegters und ihre Rezeption in der öffentlichen Kritik Die Betrachtung der Entwurfsreihe zur Amsterdamer Rathauspreisfrage hat deutlich gemacht, welche Umstände und notwendigen Anpassungen die neue Sichtweise auf den Rathausbau hervorgerufen und begleitet haben. In den zahlreichen Überarbeitungen zeigen sich die Bemühungen der Architekten sich stets an den aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen zu orientieren um der öffentlichen Bauaufgabe eines modernen Rathausbaus gerecht zu werden. Dabei zeigen die Vorschläge der Nachkriegszeit im Kontrast zu den Belfort-Entwürfen der Dreißiger Jahre eine viel offenere Architektur, die über viel weniger Mauerfläche und weniger Dekor verfügt. Viel markanter ist jedoch der Wechsel von einer mehrteiligen Baumasse (Belfort II und III) zu einem kompakten rechteckigen Vierflügelbau ( ). Ferner zeigt sich in den Entwürfen von eine andere Hierarchie, die den verschiedenen Gebäudetrakten zugrunde gelegt wurde. Beim Entwurf `Belfort III wird der Turm von den Architekten noch als markanter Punkt der Architektur genannt, der den Komplex der verschiedenen Baukörper zusammenhält und beherrscht. 483 In den nachkriegszeitlichen Entwürfen erhält der Turm eine ganz neue städtebauliche Funktion, und muss sich dem Hauptbau in Höhe und Bedeutung unterordnen. Insbesondere in der Erläuterung des definitiven Entwurfs von 1961 wird betont, dass der Turm den eigentlichen Baukörper des Rathauses nicht mehr überragen soll. In diesen städtebaulichen und räumlichen Aspekten liegt der moderne Charakter dieser Rathausentwürfe begründet. Die Funktion des Turmes als zentraler Bezugspunkt wird zugunsten einer zentralen Halle bzw. Innenhof fallengelassen. In den nachkriegszeitlichen Entwürfen sind alle Bautrakte (repräsentativ und administrativ) in einer Baumasse verschmolzen. Dieser Gedanke der Zusammenführung der beiden Funktionen des Rathausbaus und der Ausdruck von Einheit ist 483 Berghoef und Vegter

171 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau in den ersten, d. h. frühen Entwürfen ( ) noch nicht erkennbar, sondern wird erst im Entwurf 1958 als geschlossene Bauform eingeführt. Im Bauprogramm jedoch wird immer wieder eine Trennung der beiden Trakte gefordert. Die Bauform des Entwurfs 1958 weist sich aufgrund seiner funktionalistisch Quadratform und seiner rationalisierten Ausgestaltung mit wenigen Details eher als Verwaltungsgebäude und nicht direkt als Rathausbau aus. Parallel dazu macht sich in dieser Entwurfsphase (1958/61) die würdevolle Monumentalität des Baus unabhängig von traditionellen Formen und steigert dadurch ihren Allgemeinheitsanspruch. Im letzten Entwurf von 1964 wurde diese geschlossene Bauform jedoch wieder verworfen und eine erneute Auffächerung in mehrere Baukörper zu einer offenen Architektur wird verfolgt, jedoch unter sachlicher, modernistischer Formgebung. Der Vergleich der drei der Öffentlichkeit am bekanntesten Entwürfe Belfort II, III und Entwurf 1961 zeigt, dass Berghoef und Vegter mit ihren Entwürfen einen enormen Wandel in der Form, der Intention und der Funktionalität des geplanten Rathausbaus vollzogen haben. Dieser Wandel gleicht einer Entwicklung vom italienischen Palastbau hin zum modernen Stadthaus der Nachkriegszeit. Dies wurde auch von den Kritikern wahrgenommen. 484 Trotz dieser Entwicklung, die eindeutig ein Loslassen traditioneller Formgebung zu verzeichnen hat, unterliefen die Entwürfe zahlreichen kritischen Bemerkungen in Presse und Fachzeitschriften. 485 Der Entwurf von Berghoef und Vegter erhielt dabei nicht immer eine positive Beurteilung. In einem Zeitungsartikel des Algemeen Handelsblad vom äußert sich beispielsweise Architekt Dr. Dirk Frederik Slothouwer negativ über Berghoefs und Vegters Entwurf Belfort II. Bezüglich des Grundrisses und des Aufbaus seien sehr ernste Bedenken anzuführen, die hauptsächlich mit dem italienisch-mittelalterlichen Charakter zu tun hätten. Dieser passe laut Slothouwer nicht zur städtischen Architektur Amsterdams. Duintjers Entwurf hingegen hielt er für originell. Auch Architekturjournalist Vriend befürwortete den Entwurf von Duintjer, während Le Corbusier die vier von der Jury gewählten Entwürfe als zu traditionell verwarf. 486 Die so genannten Modernisten sahen folglich die ersten Entwürfe Berghoefs und Vegters als Ausdruck einer traditionalistischen Architekturauffassung. 484 Laut Architekturhistoriker Bernard Colenbrander ging es bei den ersten Entwürfen zum neuen Amsterdamer Stadthaus um die Darstellung von Macht und Monumentalität, während es gleichzeitig zu einem Wettkampf zwischen Traditionalismus und Funktionalismus kam. Der Entwurfsauftrag umfasste die Darstellung von Symmetrie, Hierarchie, Axialität und Ornament 484, welche im ersten Entwurf von Berghoef und Vegter, eingesendet unter der No Motto Belfort, wiederzufinden sei. Auch die folgenden Entwürfe weisen diesen Schwerpunkt in der Formgebung auf. Als Verantwortlicher für diese Formauffassung ist sicherlich die Auftraggeberschaft, die Stadt Amsterdam zu sehen. Der Amsterdamer Bürgermeister W. de Vlugt sprach 1939 bei der Ausstellungseröffnung für die eingereichten Entwürfe noch von einem Rathaus als große Manifestation der zeitgenössischen Baukunst und der Stadt Amsterdams als Einheit und Mittelpunkt der städtischen Verwaltung. Das Rathaus als Haus der Bürgergemeinschaft tritt hier noch nicht in Erscheinung. Vgl. Colenbrander 1993; Vgl. Sleeboom 1974, Eine Bewertung der Entwürfe von 1939 bis 1961 ist in zahlreichen Zeitungsartikel der damaligen Zeit zu finden. Das öffentliche Interesse wurde auf diese Weise geweckt und gelenkt. Ein insgesamt reges Resümee über die Preisfrage und die Ausstellung der eingereichten Entwürfe im Stedelijk Museum im Jahr 1939 lässt sich in den zeitgenössischen Zeitungen nachlesen. Siehe u.a. Sleeboom 1974; diverse Zeitungsartikel im Stadsarchief Amsterdam Inv.nr. 5216, Nr.74; BERX s 19 (0148). Weitere positive wie auch kritische Reaktionen von Wegener Sleeswijk und Vriend zu den letzten Entwürfen sind im Bouwkundig Weekblad von 1958 zu finden. Vgl. Wegener Sleeswijk 1958; Vriend Siehe Vriends Beitrag in Algemeen Handelsblad vom und Le Corbusiers Beitrag in De Telegraaf vom

172 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Doch auch aus `eigenen Reihen kamen Kritik und Verbesserungsvorschläge. Ein Brief von Granpré Molière vom 12. Juli 1958 an Berghoef und Vegter nach Betrachtung des Entwurfs bzw. Modells verdeutlicht dessen kritischen Blick an diesen Entwurf. 487 Zum einen vermisste er einen eindeutigen Zugang, z. B. in Form eines Portikusmotivs. Zum anderen fehle so etwas wie ein monumentaler Turm und weitere Nebenmotive. Insgesamt hielt er den Bau für zu `funktional und `dematerialisiert. Granpré Molière schlug deshalb an der Fassade ein durchgehendes Motiv (beispielsweise eine Balustrade) vor. Die Außenseite erschien ihm zu offen (ein Kennzeichen für modernistische Architektur). Dies sei mehr als die Belichtung des Innenraums erforderlich mache. Bei der Gestaltung der Hofseite vermisste er ferner `Intimität, ein Begriff den wir bei Berghoef im Zusammenhang mit Rathausarchitektur nicht begegnen. Es zeigt sich an diesem kritischen Kommentar der Symbolfigur des niederländischen Traditionalismus, dass die Arbeit Berghoefs und Vegters auch hier nicht traditionell genug war. Weitere positive wie auch kritische Reaktionen von Wegener Sleeswijk und Vriend zu den letzten Entwürfen sind im Bouwkundig Weekblad von 1958 zu finden. 488 Ein Interview mit J. H. van den Broek vom 6. Oktober 1961 lässt verlauten, dass Berghoef wohl stets vor Augen hatte, dass ein Rathaus aus einem großen empfangenden Innenhof besteht, der zu einer Empfangshalle führt und weiter über eine stattliche Treppe hin zu den repräsentativen Räumen, die sich um die Halle gruppieren. Van den Broek sah den Entwurf 1961 nicht als definitive Version vom vorläufigen Entwurf 1958, sondern mehr als Variante von diesem. 489 Eine weitere Kritik am Bauentwurf von 1958 ist bei Blijstra nachzulesen, der den Entwurf zwar als moderner aber keineswegs zeitgemäß einstuft. 490 Begründet wird diese Aussage jedoch nicht. Insgesamt soll der Entwurf harte Kritik ausgelöst haben, da der Innenhof zu undemokratisch und überholt sei. 491 Auch sei die Bauform immer noch zu geschlossen, was schließlich zum letzten Entwurf von 1964 führte. Welche Schlußfolgerung können wir jetzt aus dieser Reihe an Kritiken, ausgeübt von Architekten unterschiedlicher Architekturichtungen ziehen? So wirklich konnten die Entwürfe kein Lager überzeugen. In großen Teilen können wir uns der Sichtweise des Kunsthistorikers F. J. Sleeboom anschließen, der 1974 darlegte, dass sich an der Amsterdamer Rathauspreisfrage exemplarisch der Charakter der Architekturkritik in den 1930er Jahre deutlich machen läßt. 492 Die Kritik über die eingereichten Entwürfe wurde zum damaligen Zeitpunkt ausschließlich von Architekten in den Architekturzeitschriften ausgeübt. Zielpublikum waren wiederum die Fachleute. Dabei wurde alle Kritik im Kader der Verbesserung der Baukunst (`verheffing der bouwkunst ) positioniert. Die Beanstandung war besonders gegen einen bestimmten Stil und die daran verbundene Symbolik gerichtet. Die Polarierisierung in ein modernistisches und traditionalistisches Lager wurde auf diese Weise gehegt und gepflegt. Entsprechend häufig wurde allein die innere und äußere Form und deren Bedeutung interpretiert, während die 487 BERX s90 (0548). 488 Vgl. Wegener Sleeswijk 1958; Vriend BERX s90 (0548). 490 Vgl. Blijstra 1960, Siehe: [zuletzt eingesehen am :52h] 492 Sleeboom 1974,

173 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau politischen und sozial-gesellschaftlichen Implikationen des Bauauftrags keine Berücksichtigung fanden. 493 Dies änderte sich im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre. Die Kritik wurde jetzt öffentlich ausgetragen und erhielt andere Inhalte. Kennzeichnend an der ganzen Diskussion rund um die Amsterdamer Rathauspreisfrage und sicherlich deren Entwürfe der Nachkriegszeit ist die Vielfältigkeit der Kritik aus allen `Lagern. Diese verdeutlicht umso mehr, dass in dieser Zeit keine einheitliche Meinung (communis opinio) mehr Bestand wie ein Rathausbau auszusehen hatte in der `modernen Gesellschaft. 494 Das Rathaus als Monument und Ausdruck von (städtischer) Macht hatte keine Basis mehr, der Weg zum Rathaus als Haus der städtischen Gemeinde wurde gerade erst beschritten. Berghoef und Vegter hatten versucht dieser Entwicklung Ausdruck zu verleihen, mussten sich aber hinsichtlich zu großer Kritik geschlagen geben. Grund hierfür war die noch nicht abgeschlossene Diskussion über Charakter und Formgebung des neuen modernen Rathausbaus als wichtige gesellschaftliche, d. h. öffentliche Bauaufgabe. Der Rathausbau der Nachkriegszeit Diskussion über Monumentalität und Charakter Der städtische Wiederaufbau machte in vielen Städten Europas den Neubau eines Rathauses notwendig oder wünschenswert. Da der Bevölkerungszuwachs auch eine Zunahme der städtischen Verwaltung bewirkte, wuchs auch die Größenanforderung in diesem Bereich an die neu zu entwerfenden Rathausbauten. Im Gesamtbild wurde das Rathaus deshalb noch mehr zum Verwaltungsgebäude. Gleichzeitig erhielt das Rathaus in der Nachkriegszeit eine zunehmende Bedeutung als Zentrum der Gemeinde und Ort der bürgerlichen Demokratie, so dass es idealerweise eine Manifestation der bürgerlichen Selbstverwaltung darstellen sollte. Dies machte die Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen verwalterischer und repräsentativer Funktion des Rathauses umso bedeutender. Mit der Funktionsverschiebung änderte sich auch der Charakter des Rathauses. Ein architektonisches Mittel, um das Rathaus als Sinnbild der demokratischen Selbstverwaltung darzustellen, war hierbei die Betonung des Ratssaals in der Architektur, wie das Rathaus von Architekt Johannes J. Konijnenburg in Arnhem (1968) zeigt (Abb. 82). Nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen die Architekten zunehmend mehr Freiheit, Obrigkeitsbauten weniger konventionell zu entwerfen. Trotz allem blieben die meisten Rathausneubauten groß und beeindruckend in ihrer Form, kurzum repräsentativ und monumental. Die Schwelle zwischen Autorität und Bürger wurde geringer, während im gleichen Zuge die Architektur nicht mehr so stark Anschluss an die Umgebung suchte. Dies verdeutlicht sich beispielweise in den Rathausbauten von den Architekten Van den Broek & Bakema im deutschen Marl ( , Abb. 83) und im niederländischen Terneuzen ( , Abb. 84). Das Rathaus von Marl musste sich nicht wie andere innerstädtische Rathäuser in einen bereits bestehendem städtischen Kontext einfügen. Die Gemeinde Marl bestand Ende der 493 In den Reaktionen der Fachzeitschriften über die eingereichten Vorschläge offenbarte sich die Vorzugshaltung gegenüber ein bestimmtes traditionistisches oder modernistisches Design. Das R.K. Bouwblad bevorzugte Berghoefs Entwurf, wohingegen De 8 en Opbouw dies als reaktionär verurteilte. Siehe auch Sleeboom 1972, Sleeboom 1974,

174 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau 1950er Jahre nur aus kleineren Ortschaften. Der Rathausneubau sollte eine neue städtische Dominante im zukünftigen Wachstum der Gemeinde darstellen. Die Architekten konnten deshalb ein weiteräumiges Gelände mit einem mehrteiligen Baukomplex gestalten. Von den ursprünglich vier geplanten Punkthochhäusern wurden jedoch nur zwei ausgeführt. 495 Zu diesen Bürohochhäusern gesellten sich ein flach gestalteter Repräsentationsbau und ein flacher Zentralbau mit den publikumsstärksten Ämtern. Das Rathaus fügt sich mit seiner auflösenden Masse nahtlos in das Konzept der aufgelockerten Stadt der 1950er Jahre ein. Die Intention der Architekten, dass der Besucher das Funktions- und Organisationsprinzip des zweckrationalen Baus erschließen und sinnlich wahrnehmen würde, hatte in der Realität leider keinen Bestand. 496 Während das Architektenteam in Marl eine deutliche architektonische Trennung von Repräsentations- und Administrationstrakt verfolgte, wurde diese funktionale Trennung in einem späteren Rathausprojekt wieder aufgehoben und in einem Gebäude vereint: dem Rathaus von Terneuzen. 497 In Terneuzen waren die Architekten ebenso wenig von umgebender Bebauung in ihrer Formgestaltung eingeschränkt, denn auch hier entstand der neue Rathausbau außerhalb des städtischen Zentrums. Die Fassade kennzeichnet sich durch betont horizontale, verschobene Betonflächen und tiefliegende Fensterbänder, die dem Bau eine unregelmäßige Silhouette verleihen. Die bürgerlichen Dienste sind hier ganz dem gängigen Konzept folgend im Erdgeschoß untergebracht, während sich der Bürgersaal in der fünften Etage befindet, von wo aus ein Balkon und eine große Fensterfront einen weiten Ausblick bieten sollen. Den Wunsch nach einer möglichen Ausbreitung der Architektur wegen der stetig wachsenden Verwaltung haben die Architekten in Terneuzen in einer Pergola als offene, erweiterbare Konstruktion im dritten Geschoß zu berücksichtigen versucht. 498 Ein gänzlich neuer Bau entstand jedoch zu einem späteren Zeitpunkt neben dem bestehenden Rathaus. Auffällig ist, dass Terneuzen nicht über eine zentrale Halle als Orientierungspunkt verfügt. Ferner erschweren die Halbetagen nicht nur die Beschreibung, sondern auch die Orientierung des Besuchers innerhalb des Baus. 499 Ein weiterer Aspekt der z. T. fehlgeschlagenen Funktionalität des Rathauses von Terneuzen zeigt sich die Doppelnutzung des Bürgersaals als Personalkantine und Ausstellungsraum. Bei einer umfangreichen Gestaltung einer Ausstellung in dem Saal ist die multifunktionale Nutzung als Kantine und Versammlungsraum nicht mehr möglich, da sich die parallele Nutzung aufgrund der räumlichen Verfügbarkeit und des Mobiliars ausschließt. 500 Als Bautechnik wandte man hier eine Stahlbetonkonstruktion an, die aus prefabrizierten Bauelementen zusammengesetzt wurde. Den Kern des Gebäudes bildet der Bauteil, der die Lifte, die Toiletten und die Diensträume beherbergt. 501 In der Form einer Spirale führt eine Treppenanlage zu vier Seiten zu den auskragenden Fluren auf unterschiedlicher Geschoßhöhe. Über dem Eingang, der auf den ersten Blick schwer auszumachen ist, springt der Ratsaalblock hervor. Dies wirkte dem eigentlichen Anspruch modernistischer Architekturauffassung an die Zugänglichkeit und Offenheit von 495 Zur Anschauung der Bautechnik mit dem System der abgehängten Stützen siehe Meyer-Bohe 1984, 193 Abb Damus 1988, 191f. 497 Der erste Entwurf zum Projekt in Marl stammt aus dem Jahr Hagemann 2004, Koenraad 1991, Koenraad 1991, Caso, O: Rathaus Terneuzen, In: Prast et al. 2007,

175 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Architektur stark entgegen. Denn insgesamt zeigt sich in der Entwicklung der Rathausbauten der 1960er Jahre, dass ein offener Charakter der Architektur bevorzugt wurde. Die `traditionelle`, geschlossene Rechteckkiste schien zu diesem Zeitpunkt recht unbeliebt. Ein weiteres Bauwerk aus dem Bereich des Rathausbaus, vor dessen Hintergrund wir im Folgenden die nachkriegszeitlichen Rathausbauten Berghoefs bewerten müssen, ist das Rathaus in Renkum (1963, Abb. 85) von Granpré Molière. Bei diesem Rathausbau handelt es sich um einen dreiflügeligen, U-förmigen Bau, dessen klein gehaltener, repräsentativer Hauptzugang an der Langseite positioniert ist, während der rückwärtige, im Hof liegende Eingang in erster Linie dem Erreichen der öffentlichen Dienste und als alltäglicher Zugang dienen soll. 502 Diverse Nebeneingänge sollen nach Wunsch des Architekten die Offenheit des Baus zustande bringen. Der hohe schlanke Turm mit quadratischem Grundriss steht vollkommen losgelöst von der Architektur an der offenen, rückwärtigen Seite des U-förmigen Grundrisses. Er wurde von Granpré Molière als bedeutsames, überliefertes `Vaterlandsmotiv bezeichnet. 503 In seiner Erläuterung des Rathausbaus kennzeichnet Granpré Molière das Rathaus als Haus der Gemeindebeamten. Der Akzent falle dabei stärker auf den Gebrauch und weniger auf die Bedeutung als Sitz der Autorität, dadurch erhalte das Rathaus den Charakter eines Bürohauses, das aber einen vertrauten und einladenden Charakter besitzen müsse. 504 Bezüglich seines Bauprogramms betont Granpré Molière weiterhin, dass es bei kleineren Gemeinden nicht nötig sei, dass sich Administrations- und Repräsentationstrakt voneinander trennen. In Renkum soll sich der repräsentative Teil des Rathauses zwar abzeichnen aber nicht absondern. Die Aufteilung der repräsentativen und administrativen Räumlichkeiten folgt daher dem gängigen Prinzip, dass sich im ersten Obergeschoss die zeremoniellen Veranstaltungen abhalten lassen und der rege Publikumsverkehr auf das Erdgeschoss begrenzt wird. Der auffällig fehlende Bürgersaal wird vom Architekten damit begründet, dass der Ratssaal als solcher ebenso seinen Dienst tun kann, und eine Doppelfunktion dieses Saalraums in einer kleinen Gemeinde zureichend sei. 505 Bei der Ausführung des neuen Rathausbaus stellte sich im Kontext der polarisierenden Diskussion von Modernisten und Traditionalisten folglich wiederholt die Frage nach der Formgebung und des Charakters eines neuen, modernen Rathausbaus. Insbesondere die Aspekte der gesellschaftlichen Funktion, d. h. Repräsentation und Monumentalität wurden rege diskutiert An dieser Stelle muss vermerkt werden, dass sich die heutige rückwärtige Seite des Renkumer Rathauses ursprünglich auf einen neuen Platz und eine städtebauliche Erweiterung öffnen sollte. Zu dieser städtebaulichen Planung kam es jedoch nicht, so dass der intendierte Charakter des Baus nicht zu seinem Recht kam und das Rathaus heute umso geschlossener über dem Parkplatz thront. 503 Granpré Molière 1966, Granpré Molière 1966, Granpré Molière 1966, Siehe die hier verwendeten Beiträge rund um die Amsterdamer Rathauspreisfrage, sowie die zahlreichen Artikel zu diversen Rathausbauten in Bouwkundig Weekblad und Forum der 1950er und 1960er Jahre. Ferner stellvertretend Mieras 1954, 77ff; Bleeker

176 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 82 Johannes J. Konijnenburg. Rathaus von Arnheim, Abb. 83 Architekten Van den Broek & Bakema. Rathaus von Marl (Westfalen), 1967, Modell (oben) und Ausführung mit zwei der vier Bürotürmen. (unten). 174

177 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 84 Architekten Van den Broek & Bakema. Rathaus Terneuzen, Abb. 85 Marinus J. Granpré Molière. Rathaus von Renkum (1963). Fassade am Rathausplatz (oben) und Rückansicht (unten). 175

178 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Monumentalität als menschliches Bedürfnis Mit dem Aspekt der Monumentalität in der Architektur setzen sich in der Nachkriegszeit u.a. Giedion (1943, 1956) und Moore (1965) theoretisch auseinander. Während Giedion betonte, dass monumentale Wirkung nicht an ein spezifisches Formvokabular gebunden ist, sondern unter dem Begriff der `neuen Monumentalität die Zusammenführung von bildender Kunst mit der Baukunst avanciert 507, gehören nach Moore öffentlicher Raum, Urbanität des Orts und Monumentalität zusammen, da es sich hierbei um etwas kollektiv Geteiltes handle. 508 Laut Moore gab es keine festen Rahmenbestimmungen für den Ausdruck von Monumentalität. Die Würdeform eines Rathausbaus im 20. Jahrhundert unterlag ab den 1930er Jahren dem Gestaltunganspruch gleichzeitig modern und monumental zu sein. Im Sinne des Modernismus sollte der moderne Rathausbau eine offenorientierte Sachrationalität aufweisen und zu gleichen Teilen eine Verhüllung bzw. Transparenz von Konstitutionsbedingungen und Autorität zustande bringen. Giedion beschaute in Neun Punkte über: Monumentalität ( ) (1948) Monumente als Ausdruck eines `menschlichen Bedürfnisses und einer kollektiven Kraft der Gemeinschaft. Dabei sollten Monumente ein Bindeglied zwischen der Vergangenheit und der Zukunft formen und nicht mehr so wie zu Beginn des Modernismus als isolierte Einheit im Stadtgefüge gehandhabt werden. 509 Monumentalität erweist sich in dieser modernistischen Anschauung als gesellschaftliche Konnotation von Architektur. Auch die Stadtgemeinden ließen die Forderung nach Monumentalität in der Architektur nicht fallen, da diese nationale Größe und städtische Identität zum Ausdruck bringen sollte. 510 Als traditionelle, architektonische Mittel zur Erzeugung von Monumentalität im Rathausbau boten sich der Turm, die Arkade, der Balkon und ein repräsentativer Eingang. Dudok hatte bei seinem Hilversumer Rathaus Teilemente dieses Repertoires wie den Turm engwendet, sprach bei seinem Entwurf für das Hilversumer Rathaus aber von einer notwendigen Monumentalität für den Rathausbau. 511 Manche modernistische Architekten, wie Van den Broek und Bakema, lösten dieses Problem, indem sie den Rathausbau zwar als Bürobau interpretierten und damit traditionelles Formvokabular wegließen, jedoch mit einer imposanten Baumasse Monumentalität erzeugten. Letztendlich hatten das Zurückdrängen der Traditionsformen und vieler traditionsbezogener Elemente seit den 1950er Jahren zur Folge, dass das Rathaus häufig nicht mehr als solches im Stadtbild erkennbar war. Damit verbunden stellte sich die Frage nach der Identifikation der Bürger mit dem modernen Rathausbau. Rein funktionale Verwaltungsgebäude kamen nicht in Frage. Eine einladende Offenheit des Baukörpers musste also im Sinne des Sich-Anbietens den Bürger auf sich beziehen. Die neue Zugänglichkeit des Baus wurde das Motto der neuen, offenen Architektur der 1960er. 512 Gleichzeitig gefährdet diese fehlende Abgrenzung des Baukörpers wiederrum die Repräsentation, die Würde und den Anspruch auf Autorität. Eine auf staatliche Repräsentation abzielende Architektur konnte scheinbar nur schwerlich auch gleichzeitig die demokratische Gesellschaftordnung 507 Vgl. Giedion 1956, 27-38, 40ff. 508 Vgl. Moore Giedion 1956, In diesem Zusammenhang sei auch auf die Studie von Cusveller, Provoost und Wagenaar hingewiesen. Cusveller Van Bergeijk 1995a, 21; Vgl. auch Van Bergeijk 1995b. 512 Siehe hierzu ausführlicher Damus 1988, 177ff. 176

179 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau verbildlichen. Das Idealbild einer selbstständig gewordenen, nach Funktion aufgefächerten und demokratischen Rathausarchitektur unterschied grundsätzlich nicht mehr zwischen Rathaus und Bürogebäude. Im Verlauf der 1960er Jahre entwickelte sich das europäische Rathaus zum civic centre, d. h. ein Zentrum der öffentlichen Verwaltung und Unterhaltung, ganz im Sinne der Massendemokratie. Das Rathaus dokumentierte dabei aber stets die übergreifende und umfassende Zuständigkeit des Staats und die Rolle des Bürgers als Konsument und Mandant wurde veräußerlicht. Die Rathausarchitektur transformierte in diesem Prozess zur Verkörperung des neuen Gemeinwohls. Als zunehmendes formales Problem zeichnete sich in dieser Zeit die Formgebung von Rathausarchitektur ab. Je stärker sich nach 1960 im Rathausbau die `Moderne, d. h. das Zurückdrängen traditionellen Formenvokabulars, durchsetzte, umso geringer wurden die Möglichkeiten, das Rathaus als solches zu kennzeichnen. Daraus ergab sich bei vielen Architekturen als Stilisierungsmerkmal das Exponieren des Ratssaal bzw. Ratstrakts aus der Baumasse. Parallel dazu wurde das Rathaus zum Kulturzentrum der Stadt und der Bürgersaal zum Multifunktionssaal. Als Verkehrsraum und Vielzwecknutzraum für die Gemeinde soll er die Offenheit der Architektur demonstrieren. Diese betont gesellschaftliche Komponente hatte unweigerlich eine Auswirkung auf den Charakter des modernen Rathausbaus. Der `richtige Charakter Monumentalität in der Baukunst wurde von modernistischer Seite, wie oben dargelegt, als menschliches Bedürfnis und Ausdruck einer kollektiven Kraft definiert. Entsprechend bestimmt die Funktion, mit der Monumentalität als wichtigen Bestandteil, den Charakter eines Gebäudes. Doch wie erlangt die Architektur eines Rathauses eine monumentale Wirkung und dient damit einer kollektiven Erfahrung der Gemeinde? Die Diskussion über den Charakter und die (monumentale) Wirkung von Architektur ist kein Phänomen des 20. Jahrhunderts, sondern besitzt eine lange Vorlaufzeit. Kunsthistoriker Hanno-Walter Kruft widmete sich 1986, mit der Veröffentlichung des Faksimile-Neudrucks der Leipziger Ausgabe von 1788 Untersuchungen über den Charakter der Gebäude; Über die Verbindung der Baukunst mit den schönen Künsten und über die Wirkungen, welche durch dieselben hervorgebracht werden sollen, der Frage nach dem Charakter von Architektur. 513 Der anonyme Verfasser dieses Textes verdeutlichte den Wirkzusammenhang zwischen Bewohner, Architekt, Gebäude und Betrachter. Der Charakter des Gebäudes zeichne dabei den Zustand des Menschen nach. D. h. die Baukunst drücke die Empfindung aus, die das Gebäude im Menschen wecke. Soll der Mensch Anteil an dem Gebäude nehmen, so muss der Bauherr den Betrachter auf die Spur des inneren Zustands bringen. Dies formulierte der anonyme Autor mittels eines Postulats an die Architektur, dass die Fassade Ausdruck des sozialen und ökonomischen Status des Menschen (des Bewohners bzw. Nutzers) sein soll. Nach Ansicht Krufts nähert sich der anonyme Verfasser bereits hier dem Phänomen, auf das hundert Jahre später Louis Sullivan mit seinem form follows function abzielte. Dies werde aber häufig "im Sinn eines konstruktiven Funktionalismus fehlinterpretiert" Vgl. Kruft 1986, V-XXII. 514 Vgl. Kruft 1986, XIII. 177

180 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Der Charakter eines Gebäudes lässt sich festmachen an der Expression der Architektur in Bezug auf seine Tradition und Funktion. Tatsächlich stellt sich in unserem Zusammenhang mit der Rathausarchitektur die Frage, ob es (das Gebäude) den Character hat, den es haben sollte, ob es ihn so stark hat, als man es erwarten kann, und ob es Widersprüche" gibt. 515 Aber um zu wissen, welche Wirkung ein Gebäude auf den Betrachter hat, muss man wissen, welchen Anteil die Menschen an seiner Bestimmung nehmen. Im Falle des Rathauses im 20. Jahrhunderts ist dies die Nutzung der öffentlichen Dienste des Staates für den Bürger, die Möglichkeit der Zusammenkunft für kulturelle, politische und soziale Veranstaltungen, und der symbolische Sitz der staatlichen Autorität, verkörpert durch den Bürgermeister bzw. den Gemeinderat. All dies kann mittels einer spezifischen Formgebung der Architektur den Charakter eines Rathausgebäudes formen. Architekturhistoriker und kritiker Adolf Behne führte 1925 diesen Aspekt in seinem Diskurs über den Modernen Zweckbau weiter aus, in dem er den Zweckbau und den Formbau einander gegenüberstellte. 516 Der Mensch sei nicht nur Utilitarist, sondern besitze einen starken Spieltrieb, wodurch über den Zweck hinaus auch weitere Formen zustande kämen. Dadurch werde das Zurückfallen auf den reinen Zweck immer als revolutionär empfunden. Behne beschrieb den Wandel in der Ästhetik und des Formgefühls um 1900 als grundsätzliche Änderung der Einstellung. "Der Charakter als Werkzeug macht den Bau zu einem Relativum. Der Charakter als Spielzeug macht ihn zu einem Absolutum." 517 Man sah, so Behne, "in der architektonischen Form eine Gefahr und in der Erfüllung des Zweckes schon fast eine Garantie für das Entstehen eines guten Baues." 518 An die Stelle einer formalen Auffassung zum architektonischen Charakter trat eine funktionale. Architekt Kropholler, der in der Historiografie als einer der prägnantesten Vertreter des Traditionalismus gesehen wird, verwies 1953 auf den Aspekt des richtigen Charakters von Architektur (Het juiste karakter) 519. Dieser hänge mit der Formgebung zusammen. Während beispielsweise ein Wohnhaus ein gewisses Maß an Diskretion für den Bewohner besitzen müsse, forderte Kropholler für öffentliche Bauten `ein sicheres Grandeur und das Zeigen von nationalen Merkmalen. `Richtiger Charakter und traditionelle Formgebung waren für Kropholler untrennbar miteinander verbunden. Im Gegensatz zu dieser Auffassung verliehen die modernistischen Architekten, wie Van den Broek und Bakema, ihren Rathausbauten die Formgebung eines Büro- bzw. Verwaltungsbau. Das will meinen, eine Formgebung, die das Rathaus nicht direkt von dem Verwaltungsgebäude einer Versicherungsgesellschaft unterscheidet. Der `richtige Charakter wurde folglich verschieden interpretiert und äußerte sich in einer unterschiedlichen Formgebung. Berghoefs Lösungsvorschlag unterscheidet sich deutlich sowohl von dem Krophollers wie auch von dem der Architekten Van den Broek und Bakema. Die ursprüngliche räumliche Trennung von repräsentativen und administrativen Funktionen innerhalb des Gebäudes wurden nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst von Berghoef verworfen, da das Rathaus nun das sozial verantwortete und demokratische 515 Vgl. Kruft 1986, Behne Behne 1998, Behne 1998, Vgl. Kropholler 1953,

181 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Zusammenleben der Gemeinschaft verbildlichen sollte. 520 Das Rathaus solle für jeden Bürger zugänglich sein. Berghoef verfolgte deshalb das Ziel einen zentralen Raum zu schaffen, der von jedem Bürger betreten werden könne. Die hohe zentrale Halle wird flankiert von den Administrationsräumen und Repräsentationsräumen und gibt eine Expression von moderner demokratischer Regierungsform. Die Grenze zwischen Obrigkeit und Gemeinschaft soll durch die Gliederung des Baus vollends aufgehoben werden. 521 Um diesen Raum werden die Verkehrsräume konzentriert. Die repräsentativen Räume gelten als royale Räume und werden deshalb in ihrer Gestaltung als solche behandelt, weniger in ihrer Lage. Trotzdem werden sie in allen Rathäusern Berghoefs im ersten Obergeschoß untergebracht. Die Erzeugung von Monumentalität und Charakter als Ausdruck der externen Funktion für die Gesellschaft war für den Architekten leitendes Motiv in der Formfindung. Die zentrale, mulitfunktionale Halle ist hierfür das architektonische und symbolische Leitbild seiner Rathausarchitekturen. Die gesellschaftliche Bedeutung, die Berghoef dem Rathausbau zugrunde legte, war bestimmend für die Form und der sozialpsychologische Aspekt dieses städtischen Gemeinschaftsbaus spielte im Entwurf die wichtigste Rolle: eine deutliche Form mit einer doppelten Funktion. 522 Jeder Besucher des Rathauses sollte etwas von der Bedeutung dieses Bauwerks für die städtische Gemeinschaft erfahren, so die Intention Berghoefs. 523 Dies entspricht dem Thema seiner Antrittsrede in Delft De architectonische vorm en zijn betekenis (1947). In diesem Falle diente die Form als Verbindungsglied zwischen Architektur und Gesellschaft. Die von Giedion 1956 in seinem gleichsam betitelten Werk Architektur und Gemeinschaft geforderte Notwendigkeit zur Überbrückung der Kluft zwischen einem Fortschrittsdenken und einer liegengebliebener Gefühlstruktur, hatte Berghoef, wie auch andere Architekten seiner Zeit (u.a. Vegter, Friedhoff) bereits in der Praxis umgesetzt. 524 Architekten wie Berghoef, die sich in der Nachkriegszeit mit dem Rathausbau befassten, waren sich dieser Notwendigkeit bewusst, doch stellte das für sie nicht den Paradigmenwechsel dar, den Giedion forderte. Der Mensch stand bei Berghoef schon seit jeher zentral im Entwurf und der Baupraxis. Neue gesellschaftliche Ordnungen und neue Werte wurden mit dem noch stets geltenden Anspruch an Monumentalität und Repräsentation der Rathausarchitektur verarbeitet. Mit einem Rathausentwurf mussten somit diverse Anforderungen erfüllt werden. Neben der Schaffung eines neuen, häufig zentralen architektonischen Bezugspunktes in der Stadt, galt es die städtische und gesellschaftliche Ordnung zu repräsentieren und den städtischen Verwaltungsapparat funktional unterzubringen. Darüberhinaus sollte mit dem Rathausneubau ein symbolisches Bauwerk errichtet werden, das als Identifikationsobjekt der Stadtgemeinde und Manifestation der demokratischen Massengesellschaft funktionierte. In der Praxis bedeutete dies die Gestaltung eines Gebäudes der gesellschaftlichen Zusammenkunft und der Zusammenführung von Obrigkeit und Volksgemeinde. Diese Aspekte bedingten eine funktionale und repräsentative Architektur gleichermaßen, für die Berghoef seine eigenen Lösungsvorschläge fand. Diese architektonische Beantwortung auf die Bauaufgabe Rathaus 520 Siehe Berghoefs Erläuterung zur Planung des Rathauses von Aalsmeer in BERX 204 (0011). 521 Vgl.Kuipers 2002, Vgl. auch den Standpunkt Colenbranders, Colenbrander 1998, Berghoef 1950, 778, Giedion 1956, 27, 30ff ; Vgl. ferner Meyer-Bohe 1984, 39f. 179

182 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau entstammt dem analytischen und inspirativen Blick des Architekten auf die historische Rathausarchitektur im In- und Ausland. Der Nachlass Berghoefs zeigt, dass sich der Architekt gezielt mit bereits bestehenden Rathäusern und öffentlichen Großbauten der Niederlande, Deutschland und Skandinavien beschäftigte. Zahlreiche Zeichnungen und Ideenskizzen zeigen Rathäuser und Hallenbauten, in denen besonders die Hallensituation und die Treppenanlagen in den Fokus genommen wurden. 525 Für die spätere Entwurfsphase der Amsterdamer Rathauspreisfrage haben sich die Architekten Berghoef und Vegter mit bereits bestehenden europäischen Großbauten beschäftigt, darunter das Stadttheater Mannheim von Gerhard Weber (1957), die Aalborg Hallen von Arne Kjær, Otto Frankild und Preben Hansen (1953), das Rathaus Århus von Arne Jacobsen und Erik Möller (1941), das Kunstmuseum in Basel (1936) von Paul Bonatz, die bereits erwähnten Rathäuser in Kopenhagen, Oslo und Stockholm. Überdies dienten das Paleis op de Dam in Amsterdam (1648), die Amsterdamer Börse von Berlage (1903) und das Provinciehuis Arnhem von J. J. Vegter (1954) als Vergleichsstücke. 526 Die Sammlung von Grundrissen und Querschnittsskizzen der genannten Vergleichsbauten zeigt die vergleichende Analyse des Verhältnisses von Grundriss, Baumasse, Halle bzw. Innenhof und Saalkomposition, die Berghoef und Vegter in erster Linie interessierte. Die Analyse dieser Bauten hatte sicherlich ihre inspirative Wirkung, diente aber gleichzeitig auch zur Auswertung von positiven und negativen Aspekten dieser bereits verwirklichten Großbauten. Den Architekten Berghoef kennend, überrascht es nicht, dass er in seinen Rathausbauten Formelemente ausländischer Baukunst verarbeitete, die er bei seinen zahlreichen Reisen besuchte und studierte. So ging dem Rathausbau von Hengelo eine Skandinavienreise voran. 527 Die Beschäftigung und Verwertung skandinavischer Vorbilder wurde bereits bei der Amsterdamer Rathauspreisfrage deutlich, zeigt sich aber auch in der fotografischen Dokumentation des Rathauses von Århus durch Berghoef. 528 Das Rathaus von Hengelo und die Entwürfe Belfort II und III, zeigen an einigen Stellen Berghoefs Vorliebe für die mittelalterliche und neuzeitliche Architektur Italiens. Die rathausspezifischen Elemente, wie Turm, Balkon, repräsentativer Eingang mit städtischem Wappen verweisen trotz ihrer formalen Reduktion auf die Funktion und Bedeutung des Baus. Nur durch sie unterscheidet sich der Rathausbau der Auffassung Berghoefs folgend von einem `regulären Verwaltungsbau und erhält dadurch seinen spezifischen, berghoeftypischen Charakter, wie die übrigen Rathausbauten der Nachkriegszeit aus dem Werk des Architekten deutlich machen. Das Rathaus von Wieringerwerf (1955) Die Tatsache, dass die Amsterdamer Rathauspreisfrage lange Zeit auf Eis gelegt wurde, ermöglichte dem Architekturbüro Berghoef & Klarenbeek in der Nachkriegszeit andere Bauaufträge aus dem Bereich des Rathausbaus anzunehmen und auszuführen. Dabei kam das Rathaus von Wieringerwerf (1955) im Wieringermeerpolder als erstes zustande. 529 Als Neubau 525 BERX 394 (0372). 526 BERX s13 (0169). 527 Siehe Zeitungsartikel vom im Algemeen Handelsblad. Eingesehen im Stadsarchief Amsterdam Inv.nr. 5216, Nr.74; `Rapport van de studiereis naar Denemarken en Zweden, in verband met het project voor het nieuwe stadhuis te hengelo (O), BERX 394 (0066). 528 BERX ph Betreffende Archivdokumente im Archiv Berghoef: BERX

183 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau in einer noch recht jungen städtischen Infrastruktur weist dieser kleinformatige Rathausbau verschiedene Merkmale auf, die sowohl dem Traditionalismus als auch dem Modernismus zugeordnet werden können. Der Rathausbau am Loggersplein in Wieringerwerf, einem kleinen Dorf in einem agrarischen Gebiet, erhebt sich als kubischer Baukörper auf einem beinah quadratischen Grundriss, aus dem nur der Turm als erhöhtes Bauelement aus der Architektur herausragt und aus der rückseitigen Fassade hervorspringt (Abb. 86; Abb. 87). Die Gesamtanlage besaß im Ursprung eine Rahmung von kleinen Steinblöcken, die der Architektur eine Distanz und Abgrenzung zur Umgebung verschaffen sollte. Das Rathaus stand zum Zeitpunkt der Erbauung aber noch gänzlich frei und konnte kaum in einen Konflikt mit umgebender Bebauung kommen. Die zum damaligen Zeitpunkt geplante Bebauung erweist sich auch heute noch als niedrige Wohn- und Ladenbebauung mit eher `dörflichem Charakter. Als traditionalistische Elemente lassen sich die Backsteinfassade, die Formgebung des überdachten Eingangs, des Balkons und des Turms, und im Inneren die Gestaltung der Balustrade und der Säulen der Halle anführen. Dabei handelt es sich um einzelne Formelemente, die in reduzierter und abstrahierter Form am Bau Verwendung finden. Sie dienen der Charakterisierung und Identifizierung des Bauwerks. Da die Backsteinfassade mit den mittelgroßen Fensteröffnungen weitgehend profillos gehalten ist, springen der von einem Baldachin überdachte Haupteingang und der mit einem getreppten Unterbau versehene Balkon umso stärker aus der Architekturmasse hervor (Abb. 88). Dass sich in der ersten Etage die repräsentativen Räumlichkeiten befinden, ist an den mit ornamentierten Balustradengittern und Ornamentfeldern ausgestatteten Fenstern abzulesen. Als moderne Kennzeichen des Baukörpers sind die verwendete Bautechnik (Stahlbeton mit Backsteinverkleidung), die an manchen Stellen unverkleidet und im Kontext der Vorführung diverser Baumaterialien zu Tage tritt, sowie die Verwendung modernster Materialien für die Ausstattung der Büroräume zu nennen. Die hohe Funktionalität der Architektur zeigt sich in der maximalen Raumausnutzung des Grundrisses. Aufgrund der kleinen Größe des Rathausbaus wurde deshalb auf variable Elemente wie ein demontierbares Podium für die Halle zurückgegriffen. In den Büros der Kreisabgeordneten wird u.a. auf Wandschränke zurückgegriffen, die sich über die ganze Wand erstrecken und maximalen Stauraum bieten. 530 Kennzeichnend für seinen Status als öffentlicher Bau verfügt das Rathaus über einen Turm, der eine kleine überdachte Aussichtplattform besitzt, und markiert trotz seiner Vergleichsweise geringen Höhe in dem Dörfchen Wieringerwerf einen `städtebaulichen Blickfang. Aufgrund seiner geschlossenen Fassadengestaltung und der kubusartigen Silhouette besitzt dieser kleinformatige Rathausbau einen monumentalen und massiven Charakter. 531 Die Schwere der Architektur wird durch den horizontalen Dachabschluss gekennzeichnet, weil die nach innen abfallende Dachneigung außen nicht ablesbar ist. Bis auf den Turm und den Eingang gibt es keine Hinweise auf die repräsentative Funktion dieses Baus, der den Status der 530 Die Funktionalität der Architektur wird auch hervorgehoben in: Technisch Gemeenteblad 43. Jg. 5, 6. Juni 1957, 65ff. 531 Ein Entwurf von 1952 zeigt noch eine ganz andere Idee zur Gestaltung des Rathauses: eine blockhafte aus mehreren Kubi bestehende, gestaffelte Anlage. Weitere Modifizierungen von August bis Oktober 1952: der Seitenzugang wird verändert und die Halle wie im Rathaus Hengelo (O) innerhalb des Baus längsgerichtet. Siehe BERX

184 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Gemeindeverwaltung verbildlichen sollte. Es scheint, als ob nachgestrebt wurde, um den Bau trotz seiner geringen Ausmaße schwerer und kantiger Formgebung ein gewisses Maß an Monumentalität und Bedeutung als städtisches Gemeindehaus auszudrücken. Denn es gilt zu berücksichtigen, dass es sich bei Wieringerwerf um eine in der Zwischenkriegszeit neu angelegte und zum Zeitpunkt der Erbauung des Rathauses noch verhältnismäßig kleine Gemeinde handelte. Darüberhinaus verfügt das Wieringer Rathaus über keinen Bürgersaal. Die Halle bzw. der Ratssaal sollen in diesem Fall als Versammlungsort dienen (Abb. 89). Die Binnenstruktur zeigt sich als Anordnung der Büro- und Versammlungsräume rund um die zentrale Halle, ganz im Sinne eines Zentralbaus. Ein problematischer Verkehrsfluss bzw. die Frage nach bester Zugänglichkeit stellte sich aufgrund der kleinen Gemeindegröße zum Zeitpunkt der Erbauung kaum. Dem anwachsenden Verwaltungsapparat in der Folgezeit wurde mit einem Anbau an der Rückseite gerecht, der heute allerdings die Wirkung der ursprünglichen Architektur um einiges schmälert. Der lokale Bezug der Architektur zum Standort wurde vom Architekten über die Ausgestaltung des Baus mit Kunstwerken lokaler Künstler hergestellt. Diese beziehen sich insbesondere durch die Thematik von See und Wasser auf die Historie und geographische Lage Wieringerwerfs und des Wieringermeerpolders. Die Ausgestaltung des Innenraums zeigt besonders in den Saalräumen, dass die durchgehenden Betondeckenbalken nur bemalt sind, während die Zwischenräume aus dekorativen und schallisolierenden Gründen mit Holzkassetten ausgestaltet sind. 532 Bezüglich des Baumaterials ist auffällig, dass zwar eine Vorführung diverser Materialien an den Fenstern (Glas, Aluminium, Holz und Backstein) stattfindet, es an manchen Stellen jedoch Unterschiede gibt, die sich vermutlich aus Kostengründen ergaben. So wird z. B. an den Fenstern des Kellergeschoßes der Sturzbalken aus Beton nicht verkleidet, sondern offen vor Augen geführt (Abb. 90). In der ausführlichen Baubeschreibung findet sich die Anweisung, dass aller sichtbare Beton glattgestrichen in Erscheinung treten sollte. Abb. 86 J. F. Berghoef. Rathaus von Wieringerwerf, Foto Fassaden Nord-Westseite (rückwärtige Seite am Loggersplein) kurz nach der Fertigstellung. 532 Die gleiche Form dieser Anwendung findet sich auch im Bürgersaal des Rathauses in Hengelo (O), s. folgenden Abschnitt zum Rathaus Hengelo. 182

185 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb J. F. Berghoef. Rathaus von Wieringerwerf, Grundriss (Erdgeschoß links und Obergeschoß rechts) und Nord-Süd-Querschnitt durch die Halle. Abb J. F. Berghoef. Rathaus von Wieringerwerf, Südfassade am Loggersplein. Zustand

186 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb J. F. Berghoef. Rathaus von Wieringerwerf, Halle mit Sgraffitos des Künstlers Jan Goeting. Abb J. F. Berghoef. Rathaus von Wieringerwerf, Detail der untersten Fensterreihe (Kellergeschoß), Zustand Das Rathaus von Aalsmeer (1961) Das zweite, ausgeführte Rathaus Berghoefs befindet sich im Stadtzentrum der Kleinstadt Aalsmeer, in der Region Amsterdam (Abb. 91). Die für unsere Fragestellung relevanten Aspekte von Monumentalität und Charakter in der Formgebung sowie der multifunktionale gesellschaftliche Nutzen, die Verarbeitung verschiedener Baumaterialien und Techniken finden sich auch in diesem berghoeftypischen Bauwerk wieder. 533 Der städtische Verwaltungsbau sollte gemeinsam mit einem neu angelegten Rathausplatz und einer anliegenden Ladenzeile einen städtebaulichen Knotenpunkt im Zuge der Stadterneuerung der 1960er Jahre hervorbringen. Ursprünglich sollte das Rathaus aus einem repräsentativen Hauptblock und einem administrativen Nebentrakt bestehen, doch die gesellschaftliche Entwicklung der Nachkriegszeit, wie sie vorab bereits erläutert wurde, erforderte ein neues Baukonzept. Berghoef wollte mit diesen Bauentwurf, dass das Rathaus als Sitz der Gemeindeverwaltung und 533 Diesen Bau betreffende Archivdokumente siehe BERX

187 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau als Kulminationspunkt des gesellschaftlichen Lebens das neue sozial verantwortliche, demokratische Zusammenleben in sich integriert zum Ausdruck brachte. 534 Als traditionalistische Elemente des Rathauses von Aalsmeer lassen sich die Anwendung einer Backsteinfassade, die Formgebung des repräsentativen Eingangs mit zweiseitigem Treppenaufgang, der kleine Rundturm und die Fensterformen der Beletage anführen (Abb. 94). Als moderne Kennzeichen dieser Rathausarchitektur sind neben der Anwendung modernster Bautechnik die vielfältige Anwendung neuer Baumaterialien im Innen und Außenbereich zu nennen, sowie das multifunktionale Konzept, das Berghoef mit der Anlegung eines Zentralbaus verfolgte. Die Platzfront sollte rechtwinklig zur Ladenzeile stehen und gleichzeitig tangential zur Achse, die sich von der Zugangsbrücke im Norden an der Van Cleefkade herleitet (Abb. 92). Rückwärtig schließt der Bau aufgrund seines tangentialen Grundrisses mit der Uferkante des Kanals ab. Der Rathausplatz sollte mit dem Rathausneubau ein neues städtisches Zentrum formen. Gute verkehrtechnische Erreichbarkeit und eine `würdige Lage waren die Schlagworte für die Formgebung dieses Rathausplatzes. 535 Markant für den ausgeführten Bau ist das massive Bauelement an der nördlichen Ecke: kein hoher verjüngender Turm, sondern eine hochaufregender Baublock mit einer breiten Aussichtsterrasse (Abb. 93). Die Aufsatzkonstruktion dient zum Anbringen der Uhr und des Glockenspiels. Da dies aber technisch nicht notwendig ist, liegt die Vermutung nahe, dass diese dazu dient, dem Rathaus einen optischen Fixpunkt im Stadtbild zu verleihen. Tatsächlich wird diese Konstruktion als Pergola bzw. offene `Krone bezeichnet. 536 Dieser turmähnliche Baublock, der sich als erhöhter Baukörper aus dem restlichen Baumasse herausschiebt, beherbergt den eigentlichen Ratstrakt. Uhr und Glockenspiel rufen schließlich die Turmassoziation hervor. Das Formelement der Pergola auf dem massiven, turmartig anmutenden Hauptblock des Baus und die Dekorationselemente mit lokalem bzw. historischen Bezug auf die Stadtgemeinde (Wappen an der Fassade und Gedichttafel an der Eingansgtreppe) weisen ebenfalls noch einen Traditionsbezug auf, um diese Architektur als Rathaus zu kennzeichnen. 537 Denn auch beim Rathaus von Aalsmeer fand eine Einbindung bildender Kunst in die Baukunst statt wurden anlässlich des neuen Rathauses sechs Kunstwerke enthüllt, die eine Verbindung der Stadt mit der Materie Wasser und dem lokalen Blumenhandel thematisieren. 538 Offensichtliches Beispiel ist das auf einem zehn Meter hohen Sockel stehende Standbild der römischen Göttin Flora von Bildhauer Jacob Martijn (Teun) Roosenburg ( ) auf dem Rathausplatz. Eine vermutete Referenz von Architekt und Künstler an italienische Platzarchitektur wie in Florenz oder dem Dogenplatz in Venedig, scheint nicht allzu abwegig. 539 Ein weiteres Merkmal des Aalsmeerer Rathauses ist der trapezoidale Grundriss (Abb. 95). Vorbilder hierzu sind im Stockholmer Rathaus und dem Entwurf Belfort I zur Amsterdamer Preisfrage zu finden (s. o.). Im Innenraum zeigt diese Struktur, dass die Glasfront 534 Der Auftrag für einen Rathausneubau erfolgte bereits im Juli Doch erst im März 1953 erging an Berghoef der Auftrag für einen definitiven Entwurf. Berghoef 1962a, 11, 14, Berghoef 1962a, Vgl. Aalsmeer 2003, Zu den ausstatterischen Elementen siehe auch Aalsmeer 2003, 17f. 538 Siehe Vorwort von Piet Tas in: Aalsmeer Siehe Beschreibung von René & Peter van der Krogt. [ eingesehen am :22h] 185

188 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau der breiten Gartenseite durch die großformatige Trichterform eine optimale Lichtführung gewährleistet. Das moderne Motiv der Offenheit der Architektur liegt hierin verborgen. Den Kern des Gebäudes bildet eine große von Galerien gesäumte Halle, die an drei Seiten von Flügeln eingefasst wird, während sich die vierte Seite als große Glasfront nach außen öffnet (Abb. 96). Eine Parallele hierzu zeigt sich bei dem modernen Rathaus von Århus (Architekt Arne Jacobsen), wo sich die mit seitlichen Galerien versehene Halle ebenfalls mittels einer großen Glasfront nach außen öffnet. Während sich im Erdgeschoß die relevanten Anlaufstellen der Bürgerdienste befinden, wurden im Obergeschoß die übrigen Verwaltungsräume und die repräsentativen Versammlungsräume (Ratssaal, Bürgermeisterzimmer) untergebracht. Die Büroräume wurden mit zeitgenössisch funktionalem Büromobiliar ausgestattet, während die repräsentativen Räumlichkeiten eine aufwendigere Behandlung erfuhren (Abb. 97). Die Farbgebung wurde von ruhegebenden Materialien wie Holz, Backstein, Beton und vereinzelten Farbakzenten bestimmt. Nur in machen Räumen wurden kräftige Farben gewählt. 540 Wie auch schon bei dem Rathaus von Wieringerwerf legte Berghoef dem Aalsmeerer Rathaus ein modernes Stahlbetonskelett zugrunde, das mit Backstein, Naturstein und Glas verkleidet wurde. 541 Fotos aus der Zeit kurz nach der Fertigstellung zeigen, dass die Hallenwände zwar mit Backstein hochgezogen sind, sich aber gleichzeitig als Füllmaterial offenbaren, da an vielen Stellen die Betonkonstruktion sichtbar gelassen wurde. 542 Sowohl in der Halle als auch den repräsentativen Räumen wird der verputzte Beton als Vertikale und Horizontale (Stützen und Balken) als ästhetisches Mittel zur Formgebung des Raumes gehandhabt. Besonders der Ausblick aus dem Ratssaal offenbart die vorgeblendete Funktion des Backsteinmauerwerks, das hier vor der eigentlichen Betonkonstruktion als eine Art zweite Haut hochgezogen wurde. An anderer Stelle hingegen zeigt sich ein fließender Übergang von Innen nach Außen. Im Treppenhaus erlaubt die transparente Fassadenkonstruktion (großflächige Glasfenster in Stahlrahmen) den Blick auf das durchlaufende Mauerwerk im Innen- und Außenbereich (Abb. 98). Im Gesamtbild werden in dem Gebäude die diversen verwendeten Materialien (Beton, Backstein, Glas, Holz, Eisen, Naturstein, Kunststoff etc.) zur Schau gestellt (Abb. 99). Die Multifunktionalität der Halle als Verkehrsknotenpunkt, Versammlungs- und Festraum der städtischen Gemeinde bedingen die Notwendigkeit und Brauchbarkeit dieses Großraumes. Der Verzicht eines repräsentativen Turmes führt zur Gestaltung einer Aussichtsterrasse auf einem erhöhten Bauelement der Gesamtanlage. Es zeigt sich hier der Spagat Berghoefs in der zunehmenden Interpretation des Rathauses als Bürobau, erkennbar besonders an der Struktur der rückwärtigen Fassade, ohne jedoch die spezifischen Merkmale einer Rathausarchitektur gänzlich aufzugeben. Die Anlage des Rathauses darf darüberhinaus nicht ohne die parallel geplante Anlegung der Ladenzeile gesehen werden. Im Zuge des Wiederaufbaus sollte als städtebauliche Maßnahme mit der Gesamtanlage von Rathaus, Rathausplatz und Ladenzeile ein so genanntes civic centre in der Stadt entstehen. 540 Berghoef 1962a, Details zur Betonkonstruktion sind zu finden in: BERX 204 (0011). 542 Siehe BERX s96 (0544). 186

189 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 91 J. F. Berghoef. Rathaus von Aalsmeer, Foto kurz nach der Fertigstellung. Platzansicht am Rathausplatz (oben) und Rückseite Blick von der Stommeerkade auf die Nordostfassade (unten). 187

190 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 92 J. F. Berghoef. Früher Entwurf für das Rathaus von Aalsmeer, Längs- und Querschnitt durch die große Halle (oben), Ansicht von Rathaus (links im Bild) und Vorplatz von der Van Cleeffkade aus mit der geplanten Ladenzeile (unten). Heute befindet sich hier u.a. das Hotel Aalsmeer. Abb. 93 J. F. Berghoef. Rathaus von Aalsmeer, 1961, Fassade an der Van Cleeffkade. Foto kurz nach der Fertigstellung. 188

191 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb J. F. Berghoef. Rathaus von Aalsmeer, 1961, Haupteingang am Rathausvorplatz. Foto kurz nach der Fertigstellung. Abb J. F. Berghoef. Rathaus von Aalsmeer, Grundrissentwurf von Hier ist noch eine Podiumstreppe geplant, die letztendlich keine Ausführung fand, sondern durch eine schmale Wendeltreppe ersetzt wurde. Abb. 96 J. F. Berghoef. Rathaus von Aalsmeer, 1961, Halle. Foto kurz nach der Fertigstellung. 189

192 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb J. F. Berghoef. Rathaus von Aalsmeer, 1961, Ratssaal (links) und Trausaal (rechts). Fotos kurz nach der Fertigstellung. Abb J. F. Berghoef. Rathaus von Aalsmeer, Blick ins Haupttreppenhaus mit nach außen durchlaufender Wand. Foto Abb. 99 Rathaus von Aalsmeer, Halle, Bürotüren (blau, Bruynzeel) und Säulen (rot) mit ursprünglicher Farbgebung. Foto

193 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Das Rathaus von Hengelo (1963) Das Rathaus von Hengelo in der Provinz OverIJssel, nahe der deutschen Grenze, ist eines der bekanntesten, wenn nicht sogar das bekannteste Bauwerk aus dem Werk des Architekten Berghoef (Abb. 100). 543 Aufgrund seiner äußeren Gestalt, die mit seiner traditionalistischen Formgebung als überarbeiteter italienischer Palazzo in Erscheinung tritt, wurde dieses Bauwerk sogar als anachronistisch, weltfremd und Verirrung seiner Zeit betrachtet. 544 Schon allein das Design des freistehenden Turmes ist traditionalistisch zu nennen. Aufgrund seiner für den niederländischen Raum untypischen Formgebung mag es auf den ersten Blick als Zeugnis einer traditionalistischen Architekturauffassung gelten. Die Beweggründe des Architekten um diesen Bau, besonders vor dem Panorama der damaligen herrschenden Diskussion rundum Moderne und Tradition zu entwerfen, erweisen sich jedoch als viel komplexer. Denn tatsächlich verfolgte der Architekt Berghoef mit diesem Bauwerk eine zeitgemäße Antwort auf die Anforderungen der damaligen Zeit. Neben der Anwendung moderner Bautechniken und der Verarbeitung moderner (z.t. präfabrizierter) mit traditionellen Materialien, liegt dem Rathaus von Hengelo ein durchdachtes Konzept von vielseitiger Funktionalität einer großformatigen öffentlichen Bauaufgabe zugrunde. Die Planung und Entstehung dieses Rathauses geschah in Verbindung mit dem gesamten Wiederaufbau der Stadt Hengelo in OverIJssel und wurde z.t. als Krönungsbau der Wiederaufbauarbeiten der Stadt betrachtet. 545 Bereits 1950 wurde von Berghoef & Klarenbeek in Bouwkundig Weekblad ein erster Entwurf publiziert, nachdem sie bereits kurz nach Kriegsende von Städtebauer Pieter Verhagen bei der Gemeinde Hengelo als Architekten empfohlen worden waren (Abb. 101). 546 Im traditionellen Sinne städtischer Hierarchie stellt dieses Bauwerk den Kern des Stadtzentrums dar. Der Wiederaufbau des im Krieg verwüsteten Stadtzentrums gab der Stadt Hengelo die Möglichkeit, der durch die Industrialisierung gewachsenen Stadt ein neues städtisches Format zu geben. Die Anlage von drei freien Plätzen und einem neuen Rathausbau sollte das gewünschte Stadtbild aufrufen. Der Rathausneubau wurde auf einem dreieckigen Bauterrain zwischen der Langestraat und der Burgermeester Jansenstraat errichtet. Mit seiner Hauptfassade orientiert sich der Bau auf den vorliegenden dreieckigen Platz, der in die Achse der Enschedesestraat mündet. Der rechteckige geschlossene Grundriss wurde vom Architekten gewählt um den Bau als Masse in Erscheinung treten zu lassen. Durch seine Straffheit und die gezielten Ausrichtung formt der Rathausbau einen betonten Abschluss der breiteren Enschedeser Straße. Die Größe des Rathauses und die Anzahl der Räumlichkeiten wurden hochgerechnet auf das erwartete 543 Diesen Bau betreffende Archivdokumente siehe vorrangig BERX 394, s119, s Siehe Artikel De Wit o.j.; Opdracht uit nabloeitijd van Delftse School Eine kurze Abfassung des Wiederaufbaus unter Van Couwelaar und Pouderoyen ist zu finden bei Jouke van der Werf: De wederopbouw van Hengelo (O), in: Bosma 1995, ; BERX 394 (0064): Der Artikel "Het nieuwe Gemeentehuis te Hengelo (O)" aus dem Hengelosch Dagblad vom verrät die Hintergründe zur Wahl des Architekten. Im Zuge des geplanten Wiederaufbaus von Hengelo (O) wird nicht der eigene Stadtarchitekt in Betracht gezogen, da dieser für kleinere Projekte in Verantwortung genommen wird. Außerdem sei das neue Rathaus ein Bauvorhaben größerer Tragweite. Von einer Wettbewerbsausschreibung wird aufgrund der Nachkriegsumstände abgesehen, da viele Architekten zu sehr eingenommen sind. Berghoef, der im Artikel als herausragender niederländischer Architekt bezeichnet wird, wird schließlich durch u.a. Pieter Verhagen vorgeschlagen. 546 Berghoef

194 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Wachstum der Einwohner Hengelos auf ca in den kommenden Jahren. Als Referenz: Im Jahre 1953 zählte die Stadtgemeinde ca Einwohner. Die Forderung nach einem Glockenspiel seitens der Stadt wurde im Entwurf in einem ca. 65 Meter hohen Treppenturm umgesetzt, der das Uhrwerk beherbergt und als vertikaler Gegenspieler zur breiten Gebäudefront fungiert. Dies sei laut Berghoef ein Gewinn für die Stadtsilhouette, da hiermit neben dem Kirchturm ein weiterer das Stadtbild markiere. Dieser frei stehende Turm wurde in der Architekturhistoriografie das Markenzeichen des Hengeloer Rathauses und somit indirekt auch seines Entwerfers. Einzig eine hölzerne überdachte Zugangsbrücke stellt ein Verbindungselement zwischen Turm und Rathaus dar. Berghoef ging diesbezüglich davon aus, dass der Turm als erster in der Stadt erblickt werde. Darum sollte dieser vornehmlich als Turm der Stadt gesehen werden und nicht als Rathausturm. 547 Darüber hinaus zeigt sich im Konzept des Rathausturms, dass dieser als öffentlich zugänglicher Aussichtsturm genutzt werden sollte; ein Anspruch, den der Architekt an alle vergleichbaren Elemente in seinen Rathausbauten stellte. 548 Erhoben auf einem in Beton ausgeführten und mit Backstein verkleideten Sockel, der aufgrund seiner direkten Lage an der Straße über einen Durchgänger für Fußgänger verfügt, erstreckt sich der in Brabanter Backstein ausgeführte viereckige Turm über sechs Etagen und schließt mit einem ornamentierten Balustradenkranz und einem hochgezogenen tragenden Element für das Glockenspiel ab. Inspirativ für die Formgestaltung dieses Turmes waren die Türme des Palazzo Pubblicco in Siena und des Palazzo Vecchio in Florenz (Abb. 102). Wie aus seinen persönlichen Dokumenten hervorgeht, war Berghoefs von der Stadt Siena und seiner Architektur sehr beeindruckt (Abb. 8). 549 Welchen Wert Berghoef dem Turm als solchen bzw. der Höhe eines Bauwerks beimaß, ist in einer seiner Stellungnahmen von 1942 herauszulesen. Ein wichtiges architektonisches Höhenelement wie ein Turm verleihe einer Architektur eine gewisse `Eminenz, deshalb seien hohe Bauwerke `Kronen der Gesellschaft. 550 In seinem Artikel `Over torens in baksteen en over de Stadstoren van Hengelo (O) (1963) erläutert er expliziter seine Sicht auf die Funktion und städtebauliche Bedeutung von (historischen) Turmbauten. 551 Der Turm funktioniert als vertikaler Akzent, als Zeichen, dass es sich bei diesem Bauwerk bzw. Platz um eine besondere Facette des menschlichen Bestehens und der Gesellschaft handelt. Der Turm von Hengelo soll im Sinne seines Entwerfers durch seine Höhe und Formgebung repräsentativ sein und dadurch dem städtischen Raum um das Rathaus Monumentalität und Charakter verleihen. 552 Die vier verschiedenen Fassaden des Hengeloer Rathauses zeichnen sich durch eine unterschiedliche Formgebung aus. Jeder Fassade liegt ein anderer Aufbau, Rhythmus und eine andere Fensteranordnung zugrunde. Während sich an der Platzseite eine repräsentative Fassade entfaltet, ist die Rückseite durch die monotonere Fensterabfolge viel stärker als 547 Vgl. Berghoef 1963b, BERX 394 (0369). In der heutigen Praxis jedoch nicht mehr gehandhabt, da dieser Teil für den Besucher nicht mehr frei zugänglich. 549 Siehe Autobiografie Berghoef BERX s174 (0577). 550 J. F. Berghoef, Studiegroep architectonische verzorging van na-oorlogse woningbouw, Archiv Nederlands Instituut voor Ruimtelijke Ordening en Volkshuisvesting (NIROV): a94 (275), NAi (jetzt: Het Nieuwe Instituut) Rotterdam. 551 Berghoef 1963a. 552 Berghoef 1963a,

195 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Verwaltungsbau mit gleichförmigen Büroräumen charakterisiert (Abb. 103). Die Gestaltung der Fenster verdeutlicht dementsprechend die Funktion des dahinterliegenden Raumes. Die größeren Fensterformate sind für die repräsentativen Räume, die gleichförmigen kleineren Fenster verweisen auf die dahinterliegenden Büroräume und Treppenaufgänge. Die Raumfunktion wird an der Fassade durch einen ästhetischen Eingriff sichtbar gemacht. Die prächtige Freitreppe und die durch Säulen getragene Bel-Etage mit Balkon lassen keinen Zweifel über die repräsentative Aussage des Baus. Die Archivdokumente zeigen eine Entwicklung des Bauentwurfs von einem sehr traditionellen Fassadenaufbau mit einer zentralen Freitreppe als Zugang - wie in Aalsmeer - hin zu einer asymmetrischen, funktional angelegten Ecklösung der Eingangssituation, wie sie letztendlich Ausführung gefunden hat. 553 Hier führt an der linken Seite der Schauseite eine Treppe zu einer auf Säulen ruhende Terrasse und schließlich zum Haupteingang. Dieser Veränderung scheinen funktionale Aspekte zugrunde zu liegen: der Vorplatz war zum Zeitpunkt der Erbauung aufgrund der Straßenführung recht klein. Mit dem seitlichen Eingang über die Treppe als auch durch den gleichzeitig dadurch ebenerdigen, überdachten Zugang wird eine einfachere Anfahrt mit dem Auto, z. B. für Brautpaare und hohen Besuch gewährleistet. Parkmöglichkeiten werden in Form eines Fahrradstellplatzes zur Verfügung gestellt, die sich im Kellergeschoß des Rathauses befindet. Bezüglich der Ornamentik fällt auf, dass besonders an der Front ungewöhnliche Stellen eine Dekoration erhalten haben. Beispielsweise besitzen die Säulen nur auf der oberen Säulentrommel eine Kannelierung und nicht auf traditionelle Weise über die gesamte Schaftlänge (Abb. 104). Darüberhinaus besitzen diese Säulen im Sinne moderner Formreduktion keine Basis und kein Kapitell. Gleichzeitig verläuft der gänzlich unverzierte Architrav, dessen Betonkern an der Unterkante sichtbar gelassen ist, einfach über die Arkade hinaus in die Backsteinmauer, während sich ein ornamentales Backsteinmuster stattdessen auf der rückwärtigen Mauer der Arkade findet. Auch die Fensterstürze und kleinen Säulen der großen Doppelfenster bleiben ohne Ornament und präsentieren nur den glatten Haustein. Den Kern des Hengeloer Rathauses bildet ein weit überdachter zentraler Lichthof, zu dem sich über drei Etagen die Repräsentations- und Büroräume in Arkaden bzw. Galerien öffnen (Abb. 105; Abb. 106). Ein Blick auf die Gliederung der Architektur offenbart die Unterteilung des Rathauses in einen Haupttrakt und drei Nebentrakte (Abb. 107). Ersterer bildet die dem Vorplatz des Rathauses zugewandte Front und besitzt größere Ausmaße in Höhe und Breite, was in der Außenansicht aber nicht zutage tritt. Hier sind die größten repräsentativen Räumlichkeiten untergebracht, während die drei anderen Flügel Besprechungszimmer, Büround Diensträume beherbergen. Ein im Hengelosch Dagblad (27. August 1958) 554 veröffentlichtes Interview mit dem Architekten beschreibt die Prinzipien der Innendisposition, die Berghoef seinem Rathausbau zugrunde gelegt hat. Der Architekt verfolgte dabei die Zusammenfassung der repräsentativen und administrativen Abteilungen in Übereinstimmungen mit der aktuellen Auffassung bezüglich Obrigkeit und Gemeinschaft. Dies bedeutet für ihn nicht mehr wie früher eine scharfe Trennung von repräsentativen und 553 Siehe BERX 394 (0372). 554 BERX 394 (0065). 193

196 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau ritualbestimmten Räumen (Bürgermeisterzimmer, Ratssaal und Trausaal), Bürgerdiensten und Büros. Die Raumzuweisung folgt diesem Prinzip des fließenden Übergangs von öffentlichen Dienststellen der Gemeinde, Repräsentationsräumen und reinen Verwaltungsräumen. So beherbergt das Erdgeschoß die sozialen Ämter und die Garderoben für die Angestellten, die hier auch das Gebäude betreten sollen. Das erste Obergeschoß umfasst die große Halle, das Sekretariat und die bürgerlichen Dienste und soll den regen Publikumsverkehr aufnehmen. Die Halle soll, neben der täglichen Nutzung als Warteraum und Verkehrsknotenpunkt, Ausstellungen, Konzerten etc. dienen und besitzt deshalb auch ein zwölf Meter breites Podium für ein Orchester. Dieses Podium bildet gleichzeitig den unteren Abschnitt der großen, asymmetrisch positionierten Treppe, die ohne Stützen nach oben führt. Das zweite Obergeschoß beherbergt die repräsentativen Räume und das dritte Obergeschoß die Ämter des Gemeindienstes. Die Zeichenkammer des Bauamtes und der Architekten liegen über dem Bürger- und Ratssaal, in der vierten Etage des Haupttrakts. Der Innenraum des Rathauses umfasst diverse dekorative Kunstobjekte von Twenter Künstlern (Abb. 108). Durch die Auswahl von zeitgenössischen Künstlern wird ein aktueller lokaler Bezug zwischen Bauwerk und Standort hergestellt und eine Identifikationsbasis für die Gemeinde mit dem Rathausneubau geschaffen. Da Berghoef bemüht war in dem Rathausbau seiner modernen Rathausauffassung Form zu geben, hat er im traditionellen Sinne eines Gesamtkunstwerks den Bau mit Werken verschiedener Künstler angereichert. Als neue Interpretation des Palazzo Pubblico, d. h. einer Zusammenfügung von repräsentativen und administrativen Bauelementen zu einer Einheit, fügt sich der Bau somit in den Wiederaufbauplan Hengelos von Pouderoyen und Van Couwelaar ein. 555 Die Architektur des Hengeloer Rathauses besteht in ihrem Kern aus einer Stahlbetonkonstruktion, die sich zu großen Teilen aus vorfabrizierten Bauelemente, d. h. Stützen, Balken und Bodenplatten, zusammensetzt. 556 In der Halle zeigt sich am oberen Ende der Säulen diese Betonkonstruktion, da an dieser Stelle die Verschalung nicht bündig mit der Decke abschließt. Folglich wird der Betonkern hier nicht verschleiert, sondern bleibt sichtbar (Abb. 109). An der Fassade im Außenbereich wird dieses Stahlbetonskelett jedoch komplett verschleiert mit Füllwänden aus Backstein und Verkleidung aus Naturstein. Darüber hinaus weist das Rathaus von Hengelo eine betonte Zusammenstellung diverser Materialien an der Fassade auf. An den Fenstern, die in der Architektur stets eine schwierige Stelle darstellen, entwirft Berghoef ein betontes Vor-Augen-führen der verwendeten Baumaterialien Backstein, Holz (tropisches Hartholz Doussiér mit geringer Nachpflege), Aluminium und Doppelverglasung. Gemäß dem Verständnis des Architekten von einem Rathaus als Haus der Gemeinschaft, sollte auch dessen Einrichtung modern und zweckmäßig sein. Nur wo nötig sollte die Einrichtung einen vornehmen repräsentativen Charakter aufweisen. Berghoef wählte deshalb neue Materialien aus für eine bestmögliche Arbeitsatmosphäre in den Büroräumen und den Schaltern der städtischen Dienste. Am Außenbau finden nur Materialien mit geringer Nachsorge Anwendung. 555 Vgl. Van der Werf 1995, 454; Hoe denken onze architecten BERX 394 (0354, 0357, 0373). 194

197 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Ein weiterer Anspruch an die Funktionalität der Architektur zeigt sich in der Variabilität der Bürogrößen, die durch versetzbare Trennwände gewährleistet wird. Die Anzahl der Räume war zum damaligen Zeitpunkt großzügig vom Architekten berechnet worden, da ein Anwachsen des Verwaltungsapparates abzusehen war. Im Inneren der Büroräume weisen besonders die seitlich zu den Türen angelegte Wandschränke und Kammern eine äußerst hohe Pragmatik auf, da sich hier Stauraum bietet und manches Mobiliar in den Büros überflüssig macht. Das lange Bestehen des Rathausbaus und die stetige Ausweitung der städtischen Verwaltung, macht jedoch auch heute noch einen einen zusätzlichen Bürobau notwendig, der in Kürze an der Rückseite des Rathauses entstehen soll. Die Anordnung der Büros entlang der Außenseiten des Gebäudes bezieht sich auf die Beziehung des Tageslichts. Die enge Abfolge der hohen Fenster, besonders gut erkennbar an der Rückseite des Rathauses, gewährleistet maximalen Lichteinfall in die Büroräume. Die Büros unter dem Dach werden ferner mittels eines Oberlichtes beleuchtet (Abb. 110). Da hier die Arbeitsräume des städtischen Bauamtes untergebracht sind, zeichnet sich hier eine hohe Anforderung an die Schaffung von bestmöglichen Arbeitsumständen ab, d. h. den Zeichnern in diesen Büroräumen wird durch das Oberlicht eine hervorragende Ausnutzung des Tageslichts ermöglicht. Der höchste funktionale Anspruch an ein Bauwerk ist stets dessen problemfreie Nutzung. An ein Rathausbau sind dabei verschiedene Ansprüche geknüpft: Nutzung der öffentlichen Dienste und der administrativen Ämter durch die Bürger, das Abhalten von Zeremonien, Festivitäten und Veranstaltungen und die interne Abwicklung der kommunalen Administration. Neben der obengenannten Aufteilung der verschiedenen Räume in der Architektur ist der reibungslose Ablauf dieser Vorgänge bedeutend. Die Architektur ist deshalb so konzipiert, dass der Verkehrsfluss im Rathausinneren über die Halle, die breite Treppe und die in den Ecken der Halle angelegten Treppenhäusern geleitet wird. 557 Von der Halle aus hat der Besucher mit beinahe dem gesamten Bau visuellen Kontakt, so dass eine gute Orientierung möglich ist und der Aufbau der Architektur in seiner Gesamtheit begreifbar wird. 558 Auf diese Weise verspricht sich Berghoef eine direkte, zielgerichtete Auffächerung der Besucher gleich nach Betreten des Gebäudes. Dies gilt selbstverständlich auch für die invaliden Besucher des Rathauses, die Mithilfe von Liften die verschiedenen Stockwerke erreichen konnten. 557 z. B. gehen nach Berghoefs Vorstellung die Angestellten nach dem Abstellen des Fahrrads im Fahrradkeller in die Garderobe und verteilen sich dann über die verschiedenen Treppen auf dem kürzesten Wege zu ihren Büros. Die Besucher der sozialen Dienste, offizielle Besucher und Traupaare gelangen über die Freitreppe in die große Halle, das auch mit Mobiliar zur Wartemöglichkeit ausgestattet ist. Bei schlechtem Wetter sind das Vorfahren von Wagen und der direkte Zugang über den ebenerdigen Eingang im Südwesten möglich. 558 Siehe Artikel vom 26. September 1963 in Het Parool, S.13. Eingesehen im Stadsarchief Amsterdam (5216, Nr.74). 195

198 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 100 J. F. Berghoef. Rathaus von Hengelo (O), Platzfassade an der Burgemeester Jansenstraat. Postkarte von Abb. 101 J. F. Berghoef. Entwürfe für das Rathaus von Hengelo, veröffentlicht in Bouwkundig Weekblad Perspektivzeichnung Platzfassade gegenüber der Enschedesestraat (oben), Perspektivzeichnung der zentralen Halle, hier noch mit einer anderen Lösung für die Ausmaße und Position der Treppe (unten). 196

199 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 102 Palazzo Pubblicco in Siena (links) und Palazzo Vecchio in Florenz (rechts). Abb J. F. Berghoef. Rathaus Hengelo (O), Rückwärtige Fassade an Bij de Toren, Foto

200 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb J. F. Berghoef. Rathaus Hengelo (O), Detail der Platzfassade, Foto Abb J. F. Berghoef. Rathaus Hengelo (O), Blick in den Lichthof, Foto

201 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb J. F. Berghoef. Rathaus Hengelo (O), Grundriss der ersten Etage (Hallenebene): Links der offizielle Zugang über die Haupttreppe in die Halle mit der exzentrisch liegenden Podiumstreppe, drumherum die verschiedenen Räumlichkeiten für die Bürgerdienste und Großraumbüros der betreffenden Mitarbeiter. Abb. 107 J. F. Berghoef. Rathaus von Hengelo (O). Längsschnitt (SW-NO) und Querschnitt (NW- SO) durch die Halle und den anliegenden Gebäudeflügeln. 199

202 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb J. F. Berghoef. Rathaus Hengelo (O), Bürgersaal mit Wandkunstwerk um einen Kamin und Pressetribüne (rechts im Bild), Foto Abb. 109 J. F. Berghoef. Rathaus von Hengelo (O), Blick in die Halle mit links deutlicher Ummantelung des Betonpfeilers, Foto kurz nach der Fertigstellung. 200

203 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Abb. 110 J. F. Berghoef. Rathaus Hengelo (O). Büroräume: Atelier des städtischen Planungsbüro (oben) und Großraumbüro (unten), Foto kurz nach der Fertigstellung. Typisch Delftse School oder Bauen für eine moderne Gesellschaft im Sinne Johan Huizingas? Das Rathaus von Hengelo in der Architekturkritik Das Rathaus von Hengelo hat bereits kurz nach seiner Fertigstellung zahlreiche Reaktionen hervorgerufen. Besonders seine italisierende Formgebung brachte sowohl in der Presse als auch in Fachblättern kritische Stimmen hervor. 559 Dementsprechend wurde das Bauwerk und damit auch die Charakterisierung der Arbeit Berghoefs in das bestehende Bild zum Traditionalismus der Delfter Schule eingebettet. Die Kritik, die das Rathaus von Hengelo erfahren hat, ist im Kontext einer allgemeinen öffentlichen Abneigung traditioneller Architekturformen der 1960er Jahre zu sehen, wie sie auch in Zeitungen und Fachzeitschriften ausgetragen wurde. 560 Berghoef lieferte mit seinem Rathausbau genau das gewünschte Futter für die Kritiker des Traditionalismus in der Architektur. Doch in welchem Zusammenhang müssen wir Berghoefs außergewöhnliche Formgebung des Rathausbaus beurteilen? Colenbrander hat diesbezüglich 1998 schon einen sehr nennenswerten Vorstoß gewagt. Die gewählte Formgebung im Werk des Architekten folgt stets dessen Idealvorstellung und Intention, dass ein Bauwerk stets seine Bestimmung, seine Funktion und seine Position im größeren kosmischen Kontext ausdrücken 559 Siehe exemplarisch Anonym 1964, Anonym 1963 sowie weitere Dokumente in BERX 394 und BERX s Szénássy 1969; Anonym

204 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau solle. 561 Im Falle des Rathausbaus verfolgte Berghoef die Ansicht, dass ein Rathaus die ganze Gemeinde repräsentiere. Die Form des Bauwerks solle die städtische Macht ebenso verdeutlichen wie die Bedeutung der Stadt. 562 Colenbrander sieht hierin ein ikonografisches Tableau, das sich herleitet von Johan Huizingas Herftstij der Middeleeuwen (Herbst des Mittelalters, 1919) und Homo Ludens (1938), Werke von denen wir wissen, dass Berghoef sie wertschätzte. Colenbranders Meinung folgend, können wir davon ausgehen, dass Berghoef den repräsentativen Gehalt im Bauwerk sichtbar machte, um zum einen die Identität der Gemeinschaft auszudrücken eine der wichtigsten Aufgaben der Architektur laut Berghoef und um zum anderen den Bau zu einem teilhabenden Faktor im kulturformenden Prozess des `Spiels im Sinne Huizingas zumachen. 563 Durch die Anwendung der bildenden Künste im Bau, wird dieser zu einem `Spielraum der Gemeinschaft. 564 Berghoef hat sich bei der Suche nach der richtigen Form des Rathausbaus eindeutig von Huizingas kulturellem Spieltrieb inspirieren lassen. Colenbrander bewertete dies als kulturhistorischen Wink des Architekten, der seine Formensprache auf historische Vorstellungen basierte. Weitere für die hier vorliegende Fragestellung relevante Aspekte lesen sich in einem Vergleich, den die Architekten Bart Verbrugge und Cor van Groningen 1986 für die Rathäuser Hengelo und Terneuzen anstellen. 565 Verbruggen und Van Groningen bemängeln an der Architektur in Hengelo, dass der Besucher zum Erreichen des Ratssaal bzw. Bürgersaals unbrauchbare Räume und lange Wege ablaufen muss. Zur Erinnerung: Diese Säle liegen in Hengelo im zweiten Obergeschoß und sind über zwei breite Treppen (Zugangstreppe und Hallentreppe) zu erreichen. Angeblich soll dies fortwährend an die niedrige Position des Beamten erinnern. Diese Bewertung geschieht völlig zu Unrecht, da auch die übrigen Beamten in Hengelo ihr Büro auf gleicher Etage mit dem Bürgermeister haben, genauso wie darüber und darunter. Das Rathaus in Terneuzen wird von den Autoren in seinem Aufbau ebenfalls beschrieben und in Teilen gelobt. Doch dass der Bürgersaal hier im fünften Obergeschoß liegt und damit auch nicht direkt zugänglich, wird von Verbrugge und Van Groningen nicht negativ bewertet. Der Besucher habe hier schließlich dank der Glasfront `eine schöne Aussicht. Der Aspekt der gewünschten kurzen Wege zur optimalen Funktionalität eines Gebäudes wird an dieser Stelle von Verbrugge und Van Groningen außer Acht gelassen. Überdies berücksichtigt die negative Beurteilung der überkragenden Beletage der Hengeloer Hauptfassade durch die Autoren nicht, dass es sich hier um die Südseite handelt. Diese Fassadengestaltung raubt den darunter liegenden Büroräumen keinesfalls das Tageslicht, sondern die direkte Sonneneinstrahlung zur Mittagszeit. Als weiterer Punkt bezüglich der z.t. fehlgeschlagenen Funktionalität des Rathauses von Terneuzen zeigt sich die Mehrfachnutzung des Bürgersaals als Personalkantine und Ausstellungsraum. Bei einer umfangreichen Gestaltung einer Ausstellung in dem Saal ist die parallele Nutzung als Kantine und Versammlungsraum nicht mehr möglich, da sich dies aufgrund von Raumbegrenzung, Mobiliar und Geräuschpegel selbstredend ausschließt Colenbrander 1998, Berghoef 1947, Colenbrander 1998, Zur Definition und Bedeutung des Spiels als Kulturerscheinung siehe Huizinga Verbrugge und Van Groningen 1986, 56f. 566 Koenraad 1991,

205 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Neben dieser eher funktionalen Kritik an der Nutzbarkeit der Rathausarchitektur, unterlief das Rathaus von Hengelo einer starken Kritik hinsichtlich seiner Formgebung. Es sei zu sehr Statussymbol und sein Charakter entspreche nicht dem modernen Zeitgeist. 567 Berghoef besaß durch die Teilnahme an dem Amsterdamer Rathauswettbewerb schon einen hohen Bekanntheitsgrad und war für seine italienisch-mittelalterliche Formgebung von Rathäusern bekannt. Diese Entwurfshaltung, um bei einer Rathausfassade italisierende Elemente anzuwenden, zeigt sich schließlich noch einmal in ausgeprägter Form an der Fassade des Hengeloer Rathauses, die sich durch die monumentale Säulenstellung des hohen Untergeschoßes und der darüber aufgehenden Beletage und Attikageschoß beinahe als italienische Palastarchitektur kennzeichnet. Der stilisierte Balkon und der Rathausturm, der sich wie vorab bereits erläutert bezüglich seiner Form zweifelsohne an den Turm des Palazzo Pubblico in Siena anlehnt, sind weitere Formelemente, die eine Inspiration durch italienische Architektur bezeugen. Tatsächlich sind es genau diese traditionellen Formelemente, mit denen Berghoef das Rathaus als solches hier überhaupt kenntlich machen und ihm seinen speziellen Charakter verleihen will. 568 In der architekturkritischen Besprechung von István L. Szénássy Architectuur in Nederland (1969) wird das Rathaus von Hengelo mit seinem markanten Turm als Beispiel für die Baukunst der Delfter Schule und die so genannte Bossche School herangezogen. 569 Das bewusste Charakterisieren von historischen Baustilen sei schließlich ein Kennzeichen der Delftse School, so Szénássy. Auffallend ist, dass Szénássy hier den Rathausturm im Kontext der Kirchenarchitektur bespricht und auch die Delftse und Bossche School nicht klar definiert und voneinander unterscheidet. Auf dieser Ebene laufen der Vergleich und die versuchte Kontextualisierung des Hengeloer Turmes in den Delfter Traditionalismus deshalb ins Leere. Der Berghoefsche Rathausbautypus Der Rathausbau des 20. Jahrhunderts weist eine grundsätzliche Unterscheidung verschiedener architektonischer Rathauskonzepte auf: hierbei scheinen die repräsentative, traditionsorientierte Form der Neuinterpretation des Rathauses als Bürobau gegenüberzustehen. Neben der von Willem M. Dudok angewendeten offenen bzw. gestaffelten Rathausarchitektur (Rathaus Hilversum, 1931) und der von Alexander Kropholler neuinterpretierten Form des mittelalterlichen niederländischen Rathaustypus (Rathäuser in Noordwijkerhout ( ), Waalwijk (1930), Medemblik (1940) und Grouw (1941/42) 570, findet eine andere Bauform zwischen den 1920er und 1960er Jahren geregelte Ausführung: der auf eine Halle orientierte (Zentral-)Bau. Die zentrale Halle hatte sich in den 1930er Jahren zu einem wichtigen Bestandteil vieler größerer Rathäuser herausgebildet. Im Unterschied zum Festsaal sollte diese Halle ein ständig offener und für jedermann zugänglicher Raum sein, der sich meist über drei Stockwerke erstreckt. Dieser Raum ist gleichzeitig Lichthof und Verkehrsraum, umringt von Büro- und Repräsentationsräumen, so dass sich häufig die vorgelagerten Gänge zu Galerien ausbilden. Diese `Rathaushallen erfahren in den er Jahre besonders in Dänemark eine 567 Vercruysse 1967; Buffinga Berghoef 1963a; Berghoef 1963b. 569 Szénássy 1969, Zu Krophollers Werk siehe die Monografie von Derks et al

206 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau starke Ausprägung, wie beispielsweise bei dem Rathaus von Arne Jacobsen und Möller in dänischen Århus ( ). Die Halle stellt hier einen vielseitig nutzbaren Großraum dar, der eine Nivellierung bzw. Verschleifung der verschiedenen Bereiche der Rathausarchitektur herbeiführt. Die zentrale Halle empfängt den Besucher direkt und ermöglicht eine multifunktionale Nutzung. Die Galerien dienen der Erfahrbarkeit der Hallenarchitektur und der übersichtlichen Zugänglichkeit der verschiedenen Etagen und Räume. Jacobsen und Möller handhabten in dieser Rathausarchitektur Zusammenführung von administrativen und repräsentativen Trakt in einem Baukörper. Doch endet diese Zusammenführung nicht in einem Zentralbau, sondern verbleibt bei einem Gesamtkomplex mit drei Bauteilen. 571 Seine Innendisposition ist nach funktionalen Aspekten gegliedert, greift aber gleichzeitig die Idee des gesellschaftlichen Zentralbaus auf. Das Rathaus in Århus erweist sich dadurch als Resultat der Verbindung moderner und traditioneller Vorstellungen einer Rathausarchitektur, oder wie Damus es bereits darlegte: altes Muster in neuem Gewand. 572 In Bezug auf die Frage nach der Funktionalität und dem Charakter einer Rathausarchitektur zeigen die verschiedenen baulichen Konzepte eine Differenzierung von primärer und sekundärer Funktion von Rathausarchitektur. Während dem `Bürobau-Rathaus die reine institutionelle Funktion der Administration, das Abhalten ritueller Abläufe (Trauungszeremonien) und der Versammlung der institutionellen Gremien zugrunde gelegt wird, tritt im Rathausbau mit zentraler Multifunktionshalle eine verstärkte Symbolfunktion als Ort der zentralen Zusammenkunft von Obrigkeit und Bürger hinzu. Dies begründet sich in der Interpretation der Bauaufgabe als Gemeindehaus, gesellschaftlicher Treffpunkt und der damit verbundenen stärkeren gesellschaftlichen Identifikation des Bürgers mit der Architektur. Indem die Modernisten vielen ihrer Rathausbauten diese externe Funktion absprechen, verliert das Rathaus durch den Verlust seiner Symbolfunktion an (traditionellen) Charakter, d. h. Erkennbarkeit. Da Berghoef das Rathaus in erster Linie als Haus der Gemeinde interpretierte, war die Integration in das öffentliche, gesellschaftliche Leben vorrangig. Dieser `Gemeinschaftscharakter steht in seinen Entwürfen für den Rathausbau äußerst zentral, da er das Gemeentehuis bzw. Stadhuis als Kulminationspunkt des städtischen Lebens bezeichnet. 573 Der Zentralbau in Karreeform bildet deshalb die Grundlage all seiner Rathaubauten. Zudem war der Aspekt der Identifikation der Stadtbewohner mit diesem Bau äußerst gewichtig. Aus diesem Grunde reicherte er den Rathausbau mit thematisch ortbezogenen Kunstwerken zeitgenössischer (lokaler) Künster an, um einen lokalen Bezug herzustellen. 574 Dieser lokale und im besonderen Sinne historische Bezug zeigen die Sgraffitos, die der Künstler Goeting für das Rathaus von Wieringermeer anfertigte. In der zentralen Halle verbildlichen die verschiedenen Szenen des Kunstwerks die Trockenlegung des Wieringermeerpolders, den Ackerbau, die tragischen Vorfälle des Zweiten Weltkriegs (Überschwemmung, Widerstand, Selbstständigkeit), den Wiederaufbau und den danach 571 R. Cavallo: Rathaus Århus, In: Prast et al. 2007, 39ff. 572 Damus 1988, Im Kontrast zu den skandinavischen Ländern werden in Deutschland nach 1945 kaum noch große Rathaushallen gebaut. Hier zeigt sich eine Tendenz zu Asymmetrie und Öffnung des umfassenden Raumes. 573 Berghoef 1963b, Siehe hierzu besonders Wieringerwerf (Dekoration der Hallenwände) und Hengelo (die Eisenbalustraden der Außentreppe sind mit Symbolen der wichtigsten Hengeloer Industrie von dem Künstler H. Leusink gestaltet). 204

207 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau erreichten Wohlstand. Berghoef selbst schrieb in Bezug auf die Bedeutung des Rathausbaus (von Wieringermeer): Will ein Rathaus mehr sein als nur ein nützlicher Büroraum für einen Verwaltungsapparat, dann muss es etwas vom Wesen der Gemeinschaft widerspiegeln, die immer mehr ist als eine willkürliche Ansammlung Einzelner. 575 Beim Rathaus von Hengelo finden sich ebenfalls zahlreiche Kunstwerke, die in den architektonischen Raum integriert sind. Die deckenhohen Wandmosaike aus Marmor, Naturstein und Glas im Rats- und Bürgersaal sind Werke des Künstlerpaares Jan und Catharina Goeting. 576 Sie vergegenwärtigen in ihrer Allegorie die gute Autorität (Ratssaal) und die Auswirkung dieser auf das Zusammenleben (Bürgersaal). Mit dieser gewählten Thematik liegt eine Parallele mit den Frescos von Ambrogio Lorenzetti im Palazzo Publicco in Siena vor. Weitere Kunstwerke sind der vierzig Meter lange Keramikfries an der Wand der Hauptgalerie (1.Obergeschoss) von Frans Jacobs und folkloristische Malereien von Piet Verberne im Turm. All diese Kunstwerke verleihen dem Bau durch ihre verzierende und symbolische Funktion und der großformatigen Ausführung einen monumentalen Charakter. Berghoef als auch Goeting verfolgten die Idee, dass nicht nur nur die Architektur, sondern auch die Kunst die Bedeutung des Bauwerks und seine Funktion ausstrahlen sollte. Architektur und Kunstwerk wurden dabei symbiosenhaft aufeinander abgestimmt und das Kunstwerk in die Architektur integriert. Neben der Übernahme der Linienführung der Architektur im Mosaik stimmte der Künstler auch die Farben der Mosaike auf die Farbgebung der Architektur ab: Blaugrau der Balken, gebrochenes Weiss der Wände und das Braun in Referenz zum Bodenbelag. Die Zusammenführung von Architektur und Kunstwerk ist das Resultat dieser künstlerischen Auffassung des Architekten, der dem Künstler soviel Freiheit wie möglich verschaffte. 577 Eine vergleichbare Auffassung von Aufbau, Funktion und Charakter eines repräsentativen Verwaltungsbaus zeigt sich bei Berghoefs Kollegen Vegter, mit dem er bei der Amsterdamer Preisfrage zusammenarbeitete. Zu Beginn der 1950er Jahre entwarf Vegter, gemeinsam mit H. Brouwer und T.T. Deurvorst, die neue Provinzialverwaltung für Gelderland am Markt in Arnheim, die 1954 durch Königin Juliana eingeweiht wurde. 578 Auch Vegters Herangehensweise kennzeichnet sich durch die Anwendung der Karreeform aus. Um einen offenen Lichthof gruppieren sich die vier Flügel mit repräsentativen und administrativen Räumen, angelehnt an das architektonische Motiv des Palazzo Ducale (in Venedig), dem italienischen Stadtpalast mit offenen Innenhof. Dabei strebte Vegter in noch stärkerem Maße als Berghoef danach, um den Bau mit Hilfe einer umfangreichen Kunstaustattung (Kunst am Bau) repräsentativ aufzuwerten. Da seiner Ansicht nach Baukunst und bildende Kunst zusammen gehörten, förderte Vegter dies nicht nur beim Provinciehuis in Arnhem, sondern auch in seiner späteren Funktion als Reichsbaumeister ( ). Auch sein Ziel war es, Architektur einen neuen kulturellen Charakter mittels künstlerischer Formgebung zu verleihen, ohne die Tradition und die Geschichte zu verleugnen. Als weitere Mittel zur Schaffung von Monumentalität verwendete Berghoef das Motiv des Turmes, doch nur in Hengelo erfuhr dies höchste Ausmaße. Die Betonung des Eingangs, 575 Übersetzung Jennifer Meyer. Für das Originalszitat siehe die Broschüre bei der offiziellen Einweihung des Rathauses Wieringerwerf. BERX 356 (0054). 576 Berghoef 1963b, Siehe hierzu auch die Dokumente im Stadtarchiv Hengelo, Inv.nr Fischer und Kuipers

208 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau die historisch motivierte Gestaltung der Fassade, die Höhe der repräsentativen Räume um nur einige Merkmale zu nennen tragen zum Monumentalitätsanspruch bei, der dem Rathausbau dieser Zeit zugrunde gelegt wurde. Architekturhistoriker Ed Taverne verwendete in Bezug auf das Rathaus von Hengelo den Begriff Neo-Monumentalismus. Den Rückgriff auf den Monumentalismus bei Institutsbauten wie Rathäusern bewertet Taverne als Ausdruck des Identitätsverlustes in der Nachkriegsarchitektur. Beim Rathaus von Hengelo falle besonders die Betonung der monumentalen Idee der öffentlichen Obrigkeit, d. h. der höheren Autorität, auf. 579 Kunst- und Architekturhistoriker Martin Damus führt das Stadthaus von Hengelo als konventionelles Beispiel für die niederländische Tradition des Turmrathauses nach 1945 an. Sowohl der Turm als auch das Verwaltungsgebäude sind in modernisierten geglätteten, sozusagen industriellen früh-neuzeitlichen, italienisch geprägten Formen ausgeführt. 580 Städtebauliche Einbindung, Aufbau und charakteristische Formgebung Die vorangestellte, einleitende Übersicht modernistischer und traditionalistischer Rathäuser hat deutlich gemacht, dass der urbane Kontext, sowohl in der Vor- als auch Nachkriegszeit für die Gestaltung des Rathauses maßgebend war. Während die meisten modernistischen Rathäuser nicht in einem innerstädtischen Kontext, sondern etwas außerhalb mit größerer räumlicher Freiheit errichtet wurden, wurden traditionalistische Rathausbauten meist in historischen Stadtkernen entworfen. Dies hatte Einfluss auf die Wahl der Formgebung, denn eine radikal sachliche, modernistische Formgebung war ohne direkt angrenzende historische Bebauung einfacher anzuwenden. Die Rathäuser Berghoefs wurden allerdings ausnahmslos im innerstädtischen Kontext erbaut und müssen auch unter diesem Aspekt betrachtet werden. Sie sollten das bestehende Stadtbild nicht konterkarieren, sondern dieses mit einem Anschluß an das bestehende Stadtbild und an eine traditionelle Formgebung wieder aufwerten. Um dies zu erreichen wandte Berghoef bei seinen Bauten ein immer wiederkehrendes Grundprinzip an, d. h. ein bestimmtes Formenrepertoire. Gemeint sind hiermit das Konzept der zentralen Halle, die Zusammenführung von Repräsentationstrakt und Bürotrakt in einem Bau, der repräsentative Balkon, ein monumentaler Treppenaufgang (außen und/oder innen), eine öffentliche Aussichtsplatform, die Vermeidung von Symmetrie und die Reduktion von Ornamentik auf das notwendige Maß der äußerlichen Charakterisierung des Bauwerks. 581 Diese Formelemente dienen im Sinne des Architekten dazu das Rathaus als solches zu charakterisieren. Dies steht, wie die Vergleiche gezeigt haben, im Kontrast zu den modernistischen Rathäusern, denen diese Charakterisierung teilweise oder gänzlich fehlt. Ohne dieses Formenrepertoire kennzeichnen sie sich in viel geringerem Maße als Rathäuser und werden sie zu Bürobauten uminterpretiert. Der duale Funktionsanspruch der externen städtischen Repräsentation und internen Unterbringung der städtischen Verwaltung weist eine zweidimensionale Funktionalität im Berghoefschen Rathausbau auf. Rathäuser Berghoefs eignen sich als Exempel für die Entwicklung, die der Rathausbau in den er Jahren vollzog. Das Rathaus erhält den Status als neues Gemeindehaus, durch eine langsame Annäherung von Autorität und Bürger. 579 Ed Taverne in: Barbieri 1983, Vgl. Damus 1988, 150f. 581 Die Außenlampe, die in der gleichen Form und Ausführung an jedem ausgeführten Rathaus anzutreffen ist, ist ein Entwurf des Architekten selbst und kann als eine Art persönliches Markenzeichen Berghoefs angesehen werden. 206

209 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Mit seiner Halle wird die Architektur zum gesellschaftlichen Multifunktionsbau. Divergent folglich zur modernistischen Interpretation des Rathauses als Verwaltungsbau. Für die räumliche Organisation des Rathauses hat die Halle bei Berghoef eine große Bedeutung, die Kennzeichnung des Gebäudes findet verstärkt im Inneren statt. Der Rathausbau des zentralen Hallenbaus tritt in den er Jahren wie vorab bereits erwähnt besonders in Dänemark verstärkt in Erscheinung. Dieser Bautypus wurde von Berghoef in den Fünfziger und Sechziger Jahren dann weiterentwickelt. Die Trennung dieser beiden Trakte innerhalb der Gebäude diente dabei allein funktionalen Ansprüchen an die Nutzung des Rathauses durch die Gemeinde. Berghoef entwickelte ein eigenes Bauprogramm und eine eigene Typologie für den Rathausbau. Diese Bautypologie offenbart sich als Fusion von Rathausbau mit Bürogebäude. Die Grenze zwischen repräsentativen und administrativen Teilen des Gebäudes wird dabei aufgelockert und geht an vielen Stellen in der Architektur fließend vonstatten. Mit dieser Maßnahme wird das Stadthaus zu einem modernen Bürogebäude mit betont gesellschaftlicher Funktion. 582 Laut Damus tritt beim nachkriegszeitlichen Rathausbau dadurch eine eindimensionale Funktionalität in den Vordergrund. 583 Dem darf man aufgrund der diversen Funktionsmöglichkeiten der Rathäuser mit großen Hallenräume jedoch widersprechen. In Bezug auf ihre traditionsorientierte Formgebung sind die Rathäuser Berghoefs auf dieser Ebene deshalb nicht weit von traditionalistischen Architekturen in den Niederlanden und Skandinavien anzuordnen. Das Formvokabular Berghoefs ist eindeutig regional, italienisch und skandinavisch geprägt. Die Tradition und der lokalhistorische Bezug sind sowohl für Berghoef als auch Östberg, Kropholler, Granpré Molière u.a. eine wichtige Inspirationsquelle. Das ästhetische Konzept ist für die traditionalistische Rathausarchitektur trotz aller interner, administrationsgerichteter Funktionalität von tragender Bedeutung. Denn die Ästhetik und der Charakter eines Baus scheinen nicht automatisch über die pur funktionsgerichtete Unterbringung des Verwaltungsapparates zu entstehen. Berghoef bedient sich dementsprechend eines reduzierten, aber traditionell inspirierten Formvokabulars zur Charakterisierung des Baus. Das Rathaus von Hengelo ist in Bezug auf die reduzierte Ausführung und dem Vergleich zu den anderen Rathausbauten der Nachkriegszeit als gesondert und gleichzeitiges Highlight in Berghoefs Schaffen zu betrachten. Die Vermutung liegt nah, dass Hengelo die Verwirklichung von Berghoefs `italienischer Rathausidee' darstellt, die nach der Überarbeitung der ersten drei Belfort-Entwürfe für das Amsterdamer Rathaus nicht mehr zu Stande gekommen war. Häufiger Kritikpunkt am Rathaus von Hengelo und auch an den Entwürfen für die Amsterdamer Rathauspreisfrage war neben der Integration traditionellen Formvokabulars an der Fassade die Höhe und Formgebung des Turmes, besonders in Hengelo. Der Rathausturm, der bisher meist gemeinsam mit Kirchtürmen die Stadtsilhouette beherrschte, bezog sich in seiner symbolischen und praktischen Funktion auf alte Vorbilder. Berghoef verband mit dem Turm ein Architekturmotiv, das Monumentalität und Hervorhebung im Stadtbild erzeugte. Er stand damit gar nicht weit entfernt von Dudok, der einen vergleichsweise mächtigen Turm in Hilversum verwirklichte. Auch hier funktionierte der Turm, gezielt der Tradition folgend, 582 Ein Entwicklungspunkt auf den in der wissenschaftlichen schon Literatur hingewiesen wird. Siehe hierzu Bosma et al. 2007, Vgl. Damus 1988,

210 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau bekronend mit Uhr und Glockenspiel, als Kulminationspunkt des Bauwerks. 584 Der Turm akzentuierte die Bedeutung dieses Gebäudes im städtebaulichen und gesellschaftlichen und verlieh ihm seinen Charakter, d. h. seine Erkennbarkeit als Rathaus. Ein weiteres Formelement, das dem Bau seine repräsentative Bedeutung innerhalb des Stadtbilds verleihen sollte, ist die Säulenstellung an der Fassade des Hengeloer Rathauses. Die aus Muschelkalkstein bestehenden Säulen scheinen die Last der oberen Fassade zu tragen. Tatsächlich wird der Großteil des Gewichts über die dahinterliegende Stahlbetonkonstruktion abgeleitet. Berghoef erläuterte die Wahl dieser Formgebung wie folgt: bei dem Ostflügel wurde versucht die Bedeutung der darüberliegenden Säle zu akzentuieren, indem das Hauptgeschoß wie ein Schrein durch den plastischen Unterbau getragen wurde. 585 Die von Berghoef gewählte Formgebung diente demnach der symbolischen Aufladung des Baukörpers und diesen als repräsentatives Monument der städtischen Verwaltung und der Bürgergemeinschaft zu charakterisieren. Bei der Außengestaltung der Rathäuser hat sich Berghoef von bereits bestehenden Rathausbauten inspirieren lassen, wie die Skizzen im Archiv und sein Lebenslauf vermuten lassen. Doch hat Berghoef diese Formideen umgesetzt in eine Architektur von neuester Bautechnik der Nachkriegszeit, und die einzeln herausgegriffenen Elemente in ihrer Funktionalität optimiert. Dies verdeutlicht den Anspruch, der Berghoef an die Architektur stellte: die Institution (Verwaltungsapparat) auf funktionale und repräsentative Weise zu beherbergen und gleichzeitig den Bau als Rathausarchitektur zu kennzeichnen. Materialgebrauch und Baukonstruktion reiner Ausdruck des Handwerks? Wie im ersten Kapitel ausführlich behandelt, beinhaltete die Diskussion rund um Moderne und Tradition auch die Anwendung neuester Bautechniken und Materialien in der Architekturpraxis. Die Verwendung von Backstein als großflächiges, sichtbares Baumaterial wurde dabei als Kennzeichen der so genannten Delftse School-Architektur, traditionalistischer Architektur im Allgemeinen und der Betonung des Handwerks gehandhabt. Für uns bietet sich deshalb ein gezielter Blick auf die Anwendung und Verarbeitung der verschiedensten Baumaterialien im Berghoefschen Rathausbau an. Ziehen wir allerdings als Vergleich zu Berghoefs Umgang mit dem traditionellen Backstein im Rathausbau das Rathaus in Medemblik ( ) von Alexander Kropholler hinzu, so lassen sich markante Unterschiede feststellen. Das Rathaus in Medemblik gilt neben den anderen Bauten Krophollers als Paradebeispiel für den so bezeichneten Traditionalismus. Kropholler konnte nie zum engeren Kreis der so genannten Delftse School gerechnet werden, doch gibt es einige Übereinstimmungen zwischen Krophollers und Granpré Molières architektonischer Auffassung. 586 Kropholler ging bei seinen Entwürfen von der Entwicklung traditioneller Formen und Materialien aus, aus denen er sein architektonisches Schönheitsideal ableitete. Er wandte bewusst traditionelle Formen und handwerkliche Materialien wie Backstein, Holz und Naturstein an. Seiner Arbeitsweise lag eine traditionalistische Architekturaufassung zugrunde, aus der er sein architektonisches Formideal ableitete. Mit den markanten Treppengiebeln, der asymmetrischen Fenstergliederung, den Bogenarkaden im ersten Geschoß und den 584 Van Bergeijk 1995a, Siehe Toelichting op het ontwerp voor het raadhuis te Hengelo, 6, BERX 395 (0065). 586 Siehe hierzu ferner Derks et al. 2002,

211 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau repräsentativen mit lokalen Attributen verzierten Eingängen weisen die Rathäuser Krophollers ein sich wiederholtendes Formenrepertoire auf, das als zeitlose und typisch niederländische Formgebung interpretiert werden kann. 587 Gleichzeitig lässt sich eine Bezugnahme auf mittelalterliche Rathausarchitektur Nordeuropas und damit eine aktive Weiterarbeitung der lokalen niederländischen Bautradition nicht absprechen. Diesbezüglich betonte Kropholler die immense Bedeutung des Eingangs bei einem Gebäude, da hier das erste Kennzeichen eines Baus zutage tritt, wenn man vor diesem steht. Die Verzierung eines Baus gehe nach der Intuition des Baumeisters, da ein Bauwerk die Formen erfordere. 588 Als sichtbare Baumaterialien treten bei Kropholler in erster Linie Backstein als überwiegende Mauerfläche und Naturstein für die verzierten Bauelemente in Erscheinung. Obwohl letzteres auch von Berghoef angewendet wurde, erzielen die beiden Architekten unterschiedliche Wirkungen an der Fassade (Abb. 111). Der von Kropholler in Verband mit tiefer Fuge verwendete Backstein besitzt eine sehr grobe Oberfläche (mit Resten von Einschlüssen), die dem Material einen handwerklich gefertigten Charakter verleiht. Kropholler legte großen Wert auf die handwerkliche Wirkung und traditionelle Formgebung des gewählten Baumaterials. Dass dies ein generelles Kennzeichen seiner Materialwahl ist, zeigen seine anderen Rathausbauten in Waalwijk ( ), Noordwijkerhout ( ) und Grou(w) (1941/42). Seinen Standpunkt diesbezüglich machte er unmissverständlich deutlich. So sah er trotz der neuen Bautechniken wie Eisenskelett und Betonbaukonstruktion keine wirkliche Bereicherungen in der Formgebung der Baukunst, sondern eher eine Verarmung durch diese. 589 In Hengelo hingegen ist das Backsteingemisch feiner, die Oberfläche dadurch glatter und hebt sich der Stein kaum von der flachen Fuge ab. Der Backstein wird von Berghoef als präfabriziertes, maschinell hergestelltes Bauprodukt angewendet, durchgängig bei all seinen Rathausbauten. Doch bezieht sich der von ihm befürwortete Aspekt der Handwerklichkeit im Bau eher auf den Errichtungsprozess des Baus, d. h. das Aufmauern der Wand, und weniger auf die Beschaffenheit des Materials. 590 Abb Mauerwerk Rathaus Medemblik (links) und Mauerwerk Rathaus Hengelo (rechts). Ein weiterer Aspekt zur Differenzierung Berghoefs von dem verallgemeinernden historiografischen Bild des Traditionalismus liefert der (bautechnische) Vergleich mit Granpré Molière. Ein Gegenüberstellung der Rathausbauten Berghoefs und dem Rathaus in Renkum 587 Verbrugge kritisierte, dass Kropholler seinen Stil nicht weiterentwickelt habe. Trotz ihrer mittelalterlichen Wirkung entzögen sich dessen Rathäuser jeglicher Zeitlichkeit. Vgl. Verbrugge und Van Groningen 1986, 40f. 588 Vgl. Kropholler 1965, Kropholler 1953, Siehe Kapitel 3 Kontinuität: Identität und Nationalität 209

212 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau (1966) von Granpré Molière zeigt wie weit die Meinungen der beiden Architekten auseinander gehen. Bei der Bauweise des Renkumer Rathauses verzichtete Granpré Molière aus Gründen der Akustik bewusst auf ein Betonskelett und griff auf die traditionelle Bautechnik in tragenden Backsteinmauerwerk zurück. Der akustische Nachhall innerhalb des Gebäudes sollte mittels Holzdecken vermieden werden, während kleine Fenstergrößen und Doppelglas den Schall von außen auf ein Minimum reduzieren sollen. Dies steht im Kontrast zu Berghoef, der sich die neue vorfabrizierte Stahlbetontechnik zunutze machte. Auch verzichtete er nicht auf großformatige Fenster, da größtmöglicher Lichteinfall von außen angestrebt wurde. Im Rahmen einer guten Akustik wurde sowohl beim Rathaus von Hengelo als auch den übrigen Großbauten (Rathäuser Aalsmeer als auch den im folgenden Kapitel besprochenen Bürobauten) Wert auf eine gute Schallisolation und Materialersparnis gelegt. So besteht die Baukonstruktion in Hengelo aus vorgefertigten Kassettenplatten aus Beton. 591 Die Anbringung der `Kassetten an der Unterseite der Böden dient der Einsparung von Material und Gewicht. Zur Fertigung einer guten Akustik wurde auf der darauf angebrachten Bimslage ein Zementestrich als schwebender Bodenbelag, d. h. losgelöst von dem Unterboden, gegossen, um eine ruhige Arbeitsatmosphäre zu schaffen. 592 Als weitere Disparität zwischen den Rathausbauten in Hengelo und Renkum zeigt sich das Fehlen einer repräsentativen Halle mit Treppenaufgang in Renkum. Hier übernimmt eine lange Galerie diese Funktion. Eine Wendeltreppe und eine Ecktreppe an den Scheitelpunkten der drei Flügel sollten den gesamten Verkehr in den verschiedenen Etagen leiten. Dies forderte, dass der Besucher beim Betreten der Galerie in Renkum mittels Beschilderung direkt in den richtigen Flügel geleitet werden muss, denn eine Sichtachse wie in der großen Halle in Hengelo und Aalsmeer war nicht gegeben. Kennzeichnend für Berghoefs Bauweise ist, dass er bei allen Bauten ein Stahlbetonskelett als Ausgangspunkt seiner Konstruktion verwendete. Der Architekt sah zweifelsohne die Vorteile der Präfabrikation dieser neuen Bautechnik und machte sich diese zu Nutze. Für ein feste Statik und ein schnelles Errichten der Skelettkonstruktion wurden deshalb industriell vorfabrizierte Bauelemente verbaut. Zur optimalen Isolierung wurden Doppelverglasung, Backsteinwände und Durisol Mevriet zum Bau verwendet. Aus Gründen der Ästhetik ließ Berghoef den Betonkern seiner Architekturen allerdings nur an wenigen Stellen sichtbar werden. Materialien wie der in Hengelo verbaute Brabanter Backstein sollten einen lokalen Charakter erzeugen und den Bau in die direkt anliegende Bebauung integrieren. Denn diese wies zur damaligen Zeit beinahe ausschließlich Backsteinfassaden auf. Die modernistischen Rathäuser unterscheiden sich von den Bauten Berghoefs somit nur in dem zur Schau getragenen Material, wobei es auch hier eine große Bandbreite gab. Van den Broek und Bakema stellten den Beton zur Schau, Dudok wählte vielfarbigen Backstein (überwiegend gelb) und in Arnhem wählte Konijnenburg hellen Marmor. Doch auch von den Traditionalisten Kropholler und Granpré Molière ist Berghoef zu scheiden. Im Rathausbau Berghoefs manifestiert sich folglich die Synthese der besten Vorzüge modernster Bautechnik und traditioneller Baumaterialien. Ein durchgängiges Merkmal der `Delftse School -Architekten bzw. der Traditionalisten in der 591 Diese Präfabrikationselemente wurden von dem Betrieb Mijnlieff gefertigt. Siehe Pläne/Baubeschreibungen von Mai 1959, 17, BERX 394 (0067) und Mijnlieff , BERX 394 (0064) 592 Siehe Baubeschreibung von Mai 1959, 30-32, BERX 394 (0067), Blaazer 2000, 239; Berghoef 1963b,

213 Kapitel 5 Ein Haus für die Gemeinschaft - Der Berghoefsche Rathausbau Materialbehandlung und der Einstellung zur Anwendung der neuen Bautechnik ist folglich nicht festzustellen. 211

214 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Een architect kan zich te midden van een gezelschap van louter technisch denkenden niet onttrekken aan een zeker gevoel van onbehagen. Er van uitgaande, dat deze zich niet in de eerste plaats laat leiden door zijn intellect, voelt hij zich onveilig tussen spitse, analytisch denkende en exacte, altijd rekenende constructeurs. Berghoef, Die `moderne Entwicklung des internationalen Bürobaus wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeleitet mit Frank L. Wrights Larkin Building in New York ( ). Dieser `moderne Postbau, ebenso wie die Werke des amerikanischen Architekten Louis Sullivans aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert (Wainwright Building, St. Louis 1891; Guaranty Building, Buffalo 1894) waren weltbekannt und für viele Architekten vorbildhaft. In den Niederlanden wurden die ersten Bürobauten größeren Maßstabs im ausgehenden 19. Jahrhundert für Versicherungsgesellschaften gebaut. 594 So entstand 1898 nach New Yorker Vorbild als erstes hoher Bürobau das Het Witte Huis, entworfen von W. Molenbroek in Rotterdam. Weitere Bauten, die zum Emblem der auftraggebenden Gesellschaft (Firma, Bank etc.) wurden, waren Berlages Kantoor de Nederlanden 1845 in Amsterdam (1894) und in Den Haag (1895). Andere Bauwerke, die das Bild des Bürobaus im beginnenden 20. Jahrhundert prägten, waren das Scheepvaartshuis von Johan M. van der Mey ( ) in Amsterdam, Peter Behrens Bürobau für die Hoechst AG ( ) in Frankfurt a.m. in Deutschland, und Karel de Bazels Bürobau für die Nederlandse Handel-Maatschappij in Amsterdam ( ). In der Folge etablierte sich besonders dieser Bautypus des Büro(hoch)hauses als geeignetes Objekt zur praktisches Umsetzung modernistischer Ideale. 595 Die hohe Anzahl und Varianz von Büroarchitektur seit den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts bezeugt nicht nur die hohe Nachfrage im Bereich dieser Bauaufgabe, sondern auch die hohe Zahl an unterschiedlichen Auftraggebern. 596 Handelsgesellschaften, Fabriken, 593 Berghoef 1961, Bt Staal 1987, 9-21; Ferner siehe Beispiele des frühen 20. Jahrhunderts bei Berlage et al Aus dem so genannten modernistischen Lager entwarfen die Architekten J.A. Brinkman und J.C. van der Vlugt die berühmte Van Nelle Fabrik (Bürobau in Leiden, 1926, Fabrik in Rotterdam, 1930) und die Zweigbank R. Mees & Zoonen in Rotterdam (1930). Ihre Bauten zeichnen sich durch eine sachliche modernistische Formsprache und die fast ausschließliche Anwendung neuester Bautechniken und Materialien wie Glas und Stahlbeton aus. Die Anwendung neuester Bautechnik und die damit unweigerliche Zusammenarbeit von Architekt (Entwerfer) und Ingenieur (Konstrukteur) wurden besonders bei diesen großformatigen Bauwerken als Merkmal moderner Architektur angeführt. Vgl. Pevsner 1996; Staal Für die 1930er Jahre lässt sich die Liste niederländischer Bürobauten erweitern um Sybold van Ravensteyns Büro De Holland aus dem Jahre 1937 in Dordrecht, das in der Formgebung auf den italienischen Barock zurückgriff, sowie J. J.P. Ouds BIM-Bau (Bataafsche Import Maatschappij) in Den Haag ( ), das sich durch den Gebrauch von Ornament von dessen frühen Werken der 1920er Jahre abgrenzt. In den 1940er Jahren entstehen in den Niederlanden u.a. Dirk Roosenburgs Bürobau für die KLM in Den Haag ( und ) 596, sowie Huig (Hugh) Aart Maaskants Großhandelsgebäude in Rotterdam (1951) und für Johnson Wax in Mijdrecht (1964). Marius Duintjers Gebäude für die Nederlandse Bank in Amsterdam (ab 1957) entstand im gleichen Jahrzehnt wie Mies van der Rohes Seagram Building in Manhattan (1958). Eine zeitgenössische, exemplarische Übersicht des niederländischen Bürobaus der ersten drei Jahrzehnte bietet Berlage et al Hierin wurden ohne bewertenden Kommentar verschiedene Büro- und Verwaltungsbauten in diversen Ansichten (Exterieur, Interieur und Grundriss) nebeneinander dargestellt. Eine kurze Einführung in die junge Geschichte und Merkmale des Bautyps Bürobau liefern De Gunst und De Jong Ferner siehe die Monografien zu den Architekten Maaskant und Roosenburg von Provoost 2003 und van Hoogstraten

215 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Fachverbünde, kapitalistische und sozialistische Bauherren wurden von den Architekten und Ingenieuren mit Bauten versorgt, die neben der Unterbringung des Verwaltungsapparats eine eigene Identität (Charakter) tragen und als Aushängeschild der Firma dienen sollten. Daneben entstanden auch Mietbüros für mehrere Bürobetriebe unter einem Dach. Ein einheitliches Konzept hinsichtlich Formgebung, Grundriss, Aufbau und Material ist dabei nicht festzustellen. Während die Modernisten vielerorts glatte Fassadenflächen aus Glas oder Stahl mit kantiger Silhouette entwarfen, bauten Architekten wie Willem Jacob Klok (Bungehuis in Amsterdam, 1934) mit großformatigen, massiven Steinwänden, runden oder profilierten Ecken und Ornament. 597 Der Bürobau des (frühen) 20. Jahrhunderts eignete sich demnach aufgrund seiner zeitlich kurzen Bautradition und dem Fehlen eines eingefahrenen Designkorsetts, mit dem beispielsweise der Rathausbau noch zu tun hatte, für eine variationsreiche Formgebung. Bürobauten der 1950er und 1960er Jahre Tendenzen und Merkmale Wie dargestellt gewann der Bürobau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung innerhalb des Architekturschaffens und zeichnete sich dabei durch ein enormes Spektrum und eine große Bandbreite bezüglich Ausmaß, Formgebung, Material und Technik aus. Die spezifische Nutzung des Bauwerks, als auch sein Standort und die Auftraggeberschaft besaßen großen Einfluß auf dessen Formgebung. Die hier angeführten Beispiele an internationalen Bürobauten machen deutlich, dass sich der Verwaltungsbau im 20. Jahrhundert zu einem Bautypus entwickelte, dessen großformatige Präsenz und Monumentalität den städtischen Raum in hohem Maße mitbestimmte. Dabei wurde der Verwaltungsbau nicht nur in zunehmenden Maße ein Teil der innerstädtischen und periferen Architekturlandschaft, sondern auch Teil der Architekturhistoriografie und Fachliteratur. Ab den 1960er Jahren zeigen sich in der Forschung vermehrt Studien zum Bürobau und zum (gewünschten) Charakter des Büroarbeitsplatzes im Allgemeinen. 598 Aspekte wie urbaner Standort, Art der Bürotätigkeit, Funktionalität und Gesundheitsfragen traten vermehrt in den Vordergrund. Viele Bürobauten bekannter Architekten wurden häufig im Zuge der Architektenmonografien behandelt. 599 Einige kurze Architekturvorstellungen mit wichtigen Informationen, Fotos und Grundrissplänen vieler Bürobauten der er Jahre finden sich darüber hinaus auch in den jeweiligen Jahrgängen der Zeitschrift Bouw. Insgesamt ist festzustellen, dass sich die Betrachtungsweise des Bürobaus in der Historiografie unterscheidet von der des Kirchenbaus und Rathausbaus. So werden viele Bürobauten viel unabhängiger und werkimmanenter analysiert, stark abweichend von dem architekturhistoriografischen Blick, den wir von anderen Bauaufgaben gewöhnt sind. So beschäftigen sich viele Übersichtswerke zum modernen Bürobau des 20. Jahrhunderts, z. B. Michael Rosenauer: Modern office buildings (1955), Jürgen Joedicke: Bürobauten (1959), Friedrich Kraemer (u.a.): Bürohaus-Grundrisse (1974) und Geert Staal: Bouwheer en Meester (1987) in der Regel vorrangig mit den technischen und funktionalen Aspekten des Bürobaus. Externe und interne Funktion schließen beim Bürobau nahtlos aneinander an und scheinen in 597 Staal 1987, Siehe u.a. Hoffmann und Pagenstecher 1956; Sullivan 1896; Daniels 1975; Goddard 1975; Alexander Ein konkretes Beispiel, das auch für diese Untersuchung eine wichtige Grundlage gespielt hat, ist die monografische Betrachtung von J. J.P. Ouds Shell-Gebäude in Den Haag: Taverne und Broekhuizen

216 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe keinem Zwiespalt zueinander. Der Verwaltungsbau erhält dadurch den Charakter eines Bauwerks, das für sich selbst steht: funktional, praktisch und mit geringem historischem und traditionellem Kontext. Dabei besitzt das Bürogebäude als Verwaltungsbau eine viel weitreichendere Tradition. Bürogebäude prägen heutzutage einen großen Teil unserer gebauten Umwelt. Sie beherbergen vorwiegend Arbeitsplätze, die administrative Tätigkeiten wie das Entwickeln, Erwerben, Transferieren, Verbreiten oder Sichern von Informationen beinhalten. Wider ihre stark anwachsende Zahl in der Zeit von 1950 bis 1980 ist die Bürotätigkeit aber kein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Ursprünglich dienten sie vornehmlich reinen Verwaltungsaufgaben, wie z. B. die Uffizien in Florenz, einem der frühesten privaten Verwaltungsgebäude des 16. Jahrhunderts. Die industrielle Revolution hat die Bürotätigkeit letztlich stetig vergrößert, so dass in späterer Zeit das Nutzungsfeld des Bürohauses immer breiter wird. Besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gewinnt die Bauaufgabe `Bürohausbau an Bedeutung, da im Zuge zunehmender Industrialisierung und Kommerzialisierung auch der öffentliche Dienstleistungssektor Verwaltungsgebäude in zunehmenden Maße für sich beanspruchte. The office building has come to replace the factory as the symbol of contemporary urban economic development. 600 Die deutsch-schweizerischen Architekten Kurt Hoffmann und Alexander Pagenstecher stellten 1956 in einem Übersichtswerk zahlreiche internationale Bürobauten und Verwaltungsgebäude vor, um die zeitgenössischen Tendenzen und Merkmale dieser Bauaufgabe festzuhalten. 601 Dabei zeichnet sich ab, dass alle von ihnen vorgestellten Bauten (selbstständige und betriebgebundene Büro- und Verwaltungsgebäuden, Rathäusern, Konsulate, Botschaften, Banken, Sparkassen, Versicherungen und Geschäftshäuser) aus einem Stahlskelett oder einer Stahlbetonkonstruktion bestehen, die Wände aus Holz, Backstein, Naturstein, Glas oder Aluminium. Auffallendes Merkmal dieser Bauten ist der gängige Aufbau eines großen Hauptblock mit diversen Nebengebäuden. Der Kopfbau ist in seiner Form häufig kubisch bzw. rechteckig und mehrgeschossig. In den seltensten Fällen sind die Bürobauten in eine umgebende Bebauung eingebettet, da viele dieser Neubauten an der städtischen Peripherie entworfen wurden. Hinzu kommt bei allen Baubeispielen die Anlage eines Hauptzugangs, mit gut sichtbarem Firmenemblem bzw. Name der untergebrachten Verwaltung. Ferner werden die Architekturen von einer kantigen Silhouette mit glatter Fassade und betont gleichförmigen Fensterreihen geprägt. Die Offenheit der Architektur wird bei vielen Bauten durch ein hohes Maß an Glasverarbeitung geschaffen, meist in Verband mit einer Flachdachkonstruktion. Der räumliche Aufbau der Baubeispiele bedient sich des Raumkonzepts von Zellen- bzw. Kleingruppenbüros mit einem kleinen Foyer im Eingangsbereich. Das architektonische Konzept eines Bürobaus umfasst sowohl die bauliche als auch die programmatische Grundidee zum Bau. Zum baulichen Konzept lassen sich die Wahl des Bautypus, Lage/Orientierung, Raumprogramm, Baumaterial und Technik zählen. Zum Raumprogramm gehören die Raumvariationen (Zellen- und Großraumbüro), Lage und Größe der Versammlungsräume, der Konstantflächen, Zugänglichkeit (Anzahl der Eingänge, Foyer), Parkmöglichkeiten u.v.m. Als Paradebeispiel eines architektonischen Grundkonzepts für ein 600 Daniels 1975, Hoffmann und Pagenstecher

217 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Bürogebäude kann ein langgestreckter, zeilenartiger Baukörper mit langen Korridoren gelten, zu denen sich die einzelnen Büroräume öffnen. Aufgrund des wachsenden Bedarfs an Bürohäusern im 20. Jahrhunderts haben sich neben der klassischen Zeilenform auch andere Gebäudetypen entwickelt. Technische Innovationen wie der Skelettbau (in Stahl und Beton), die Erfindung des Aufzugs, Klimaanlagen etc. haben diese Entwicklung stark vorangetrieben. Einschneidende funktionale Erfordernisse, die ab der Mitte des 20. Jahrhunderts den modernen - und damit ist nicht nur der modernistische Bau gemeint Bürobau beeinflussen, sind die Weiterentwicklung der Informationstechnik und die neue Arbeitsorganisation vieler großer Firmen, die sich beispielsweise später in der Form des Großraumbüro abzeichnen. Die von dem deutchen Architekten und Architekturtheoretiker Jürgen Joedicke im Jahre 1975 publizierten Baubeispiele zur Bürohausarchitektur zeigen dem gegenüber eine viel stärkere Tendenz zur Aufgliederung des Baukörpers in mehrere Bauglieder. 602 Es zeichnet sich demzufolge eine konzeptuelle und formsprachliche Weiterentwicklung der Büroarchitektur in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Die Verwaltungsbauten Berghoefs Das vorab gezeichnete Panorama bildet den Hintergrund, vor dem wir den Bürobau im Werk Berghoefs beurteilen müssen. Berghoef selbst beschäftigte sich ab 1950 aktiv mit dem Bürobau, parallel zu den Großaufträgen, die die Rathausprojekte mit sich brachten. Im Unterschied zum Rathausbau entstanden diese Verwaltungsbauten überwiegend in der städtischen Periferie, was jedoch nicht bedeutete, dass bei der Planung keine Rücksicht auf bestehende, umliegende Bebauung genommen werden musste, wie besonders zwei der hier genannten Bauten zeigen. Die Auftraggeberschaft dieser Verwaltungsbauten stammte größtenteils aus dem staatlichen bzw. öffentlichen Bereich. Der Entstehungszeitraum der hier vorgestellten Bürobauten erstreckt sich auf ein relativ kleines Zeitfenster von etwa fünfzehn Jahren ( /66). Die Bauprozesse waren deshalb noch stark geprägt von den Einschränkungen, mit denen sich der Architektur- und Baubetrieb in der Nachkriegszeit auseinandersetzen mussten. Materialknappheit und funktionale Anforderungen erforderten eine Reihe innovativer, technischer Lösungen. Die Ned. Heidemaatschappij in Arnhem ( ) Das erste Mal, dass Berghoef sich gezielt mit dem Bürobau auseinandersetzte, geschah in Verbindung mit dem Auftrag für die Nederlandse Heidemaatschappij (NHM) am Apeldoornseweg/Lovinklaan in Arnheim in Nach mehrjähriger Planung und Bauzeit in drei Bauphasen konnte dieses Bauprojekt, das eine Erweiterung eines bereits bestehenden Verwaltungsbaus von Architekt Karel de Bazel ( ) darstellte, 1966 vollständig in Gebrauch genommen werden (Abb. 112). 604 Über den Auftrag und dessen Ausführung berichteten die Architekten Berghoef und Klarenbeek in Tijdschrift der Nederlandsche 602 Joedicke Nieuw Gebouw voor de Ned. Heidemaatschappij Der ursprüngliche Totalplan (Renovierung von De Bazels Bauwerk und Errichtung anliegender Neubauten) wurde aufgrund hoher Materialkosten, bedingt durch die Materialknappheit der Nachkriegszeit, in einen Etappenplan verändert. Vgl. Nieuw Gebouw voor de Ned. Heidemaatschappij 1950; Kantoorgebouw voor Ned. Heide Mij

218 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Maatschappij von Es handle sich um eine Erweiterung, die sicherlich im Schatten von De Bazels architektonischer Schöpfung zu beurteilen sei. Denn De Bazels Bauwerk trüge den persönlichen Stempel seines Entwerfers und stünde als eigenständiges Monument, was jeglichen Anbau oder Erweiterung fast unmöglich mache. 605 Diesem Aspekt zum Trotz stellten Berghoef und Klarenbeek sich dieser Herausforderung und fanden eine bauliche Lösung, die in verschiedenen Bauphasen zwischen 1950 bis 1966 verwirklicht wurde. 606 Der erste Anbau (1954 fertiggestellt) sollte den repräsentativen Charakter des Vorgängerbaus erhalten und nicht mit diesem konkurrieren. Darum wählte man eine schlichte Formgebung zur Schaffung eines eigenen modernen Charakters des Erweiterungsbaus, denn der Anbau sollte sich von dem Bauwerk De Bazels unterscheiden und unterordnen (Abb. 113). 607 Der Neubau sollte sich deshalb als Kulisse im Hintergrund des bestehenden Hauptbaus entfalten und wurde nur mit einem gläsernen Verbindungsbau an diesen angeschlossen (Abb. 114). Mit kleinen dekorativen Details wie den geometrischen Zierplatten unterhalb der Fenster wurde Anschluss gesucht an das Dekorationsprogramm von De Bazels Bauwerk. Diese erste Erweiterung schloss sich als länglicher Baukörper im Nordosten des bestehenden Hauptbaus an. Es handelte sich bei diesem Anbau um einen Baublock auf rechteckigem Grundriss über drei Etagen (Souterrain, Beletage und ein Obergeschoß) (Abb. 115). Aufgrund der Hanglage ist das Untergeschoß (Depot, Küche, Kantine, Garderobe) nur einseitig sichtbar. In der Gesamtbewertung des Entwurfs zeigt sich, dass hier nach einer sachlichen Lösung des bestehenden Raumproblems und der Notwendigkeit der Erweiterung gesucht wurde. Der Verkehrsstrom des Büroanbaus wurde über einen breiten Mittelgang geleitet, der sich über die gesamte Längsachse erstreckte (Abb. 116). Zu den Seiten reihen sich die geforderten Büround Nutzräume (Abb. 117). Treppenhäuser an den Kopfenden dienten als vertikale Verbindung der Etagen. Neben Naturstein wurde im Exterieur zweifarbiger Backstein, dazu Stahlrahmen und Kupfer für die Dachleiste verarbeitet, von den Architekten als einfache und haltbare Materialien angeführt. Über dem Mittelgang befindet sich ein Flachdach, das mittels Dachfenstern viel Lichteinfall gewährte. Zu den Längsseiten wurden erhöhte Pultdächer angebracht. Kennzeichnend für den ersten Erweiterungsbau ist die Vielzahl an Fenster, die einen hohen Anteil an Glasfläche darstellt. Besonders die gläserne Verbindungsbrücke besaß eine hohe transparente Wirkung. Die zweite Erweiterung, die 1956 durchgeführt wurde, bestand aus einer Verlängerung des ersten Anbaus in südöstliche Richtung. In Form und Konstruktion schließt diese beinahe nahtlos an die erste an. Unterschiede finden sich nur in kleinen Details, wie die Ausführung der (Zier-)Platten unter den Fenstern in Backstein anstelle von Naturstein, was vermutlich durch Materialknappheit zustande kam. Die Baubestände der ersten und zweiten Bauphase wurden 1997 im Zuge einer Reorganisation und dem Umzug der NHM innerhalb Arnheims abgetragen. Die dritte Erweiterung entstand zwischen 1957 und 1959 und verzeichnet ein anderes Baukonzept als seine Vorgänger. Die ursprüngliche Idee eines achtgeschossigen großen Baublocks wurde zugunsten eines schmaleren, höheren Bauelements fallengelassen. Es handelt sich hierbei um einen dreizehn Etagen hohen Turmbau den sogenannten Berghoefturm (Berghoeftoren), der mit einem flachen Anbau (Kantine und Fahrradkeller) an den 605 Berghoef und Klarenbeek Für die Analyse wurden verwendet: BERX 340, 358, 400, 438, s95, s Berghoef und Klarenbeek 1954,

219 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe bestehenden Hauptbau anschloss (Abb. 118). Als einziges noch erhaltenes Element der Berghoefschen Bautätigkeit an dieser Stelle, dient er auch heute immer noch als Bürobau und überragt alle umstehende Bebauung. Der Turm besitzt einen quadratischen Grundriss mit abgeschnittenen Ecken und schließt mit einem Flachdach ab. Während an der Nordseite eine externe Feuertreppe angebracht ist, bilden der Fahrstuhlschacht, Treppenhaus und Toiletten den Kern des Turmes, der als Betonskelett hochgezogen ist. 608 Durch diese Skelettkonstruktion ist der umliegende Raum auf jeder Ebene flexibel zu gestalten. Für die Konstruktion des Büroturms wurden präfabrizierte Bauelemente aus Beton (Platten und Träger) verwendet. Die Etagenböden wurden vor Ort gefertigt. Das Außenmauerwerk, das mit Backstein in Erscheinung tritt ist, wurde gegen eine Isolationsschicht aus Durox Gasbetonplatten hochgezogen. Aufgrund dieser Baukonstruktion war es möglich auch den Turmbau mit einer hohen Anzahl an Fensteröffnungen (acht pro Seite) auszustatten. Als letzte Maßnahme zur Schaffung zusätzlichen Büroraums wurde dem Baukörper der ersten Erweiterung eine weitere Etage hinzugefügt. Dabei weisen Entwürfe von 1964 und dessen Ausführung von 1966 einige Unterschiede auf. Die von Berghoef gewünschte Fortsetzung der Formgebung in den Aufbau der oberen Etage zeigt sich nicht in der ausgeführten Variante, wie Fotos aus den 1990er Jahren zeigen. Der Ausbau wurde als schnelle Bauweise in der Form eines Stahlskeletts aus vorgefertigten Bauelementen im Außen- und Innenbereich verwirklicht, was vermutlich organisatorische und kostenbedingte Gründe hatte. In der Formgebung besaß diese Erweiterung deshalb nicht den von Berghoef sonst verfolgten Anspruch an ästhetischer Harmonie und Rhythmus. Abb. 112 Karel de Bazel, Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim zwischen Lovinklaan und Sickezplein, 1914 (links). Erweiterungsbauten von J. F. Berghoef, (rechts). 608 Details zur Baukonstruktion etc. siehe BERX 358 (0342), 400 (0376), 438 (0107). 217

220 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 113 J. F. Berghoef. Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim, erste Erweiterung Abb J. F. Berghoef. Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim, Verbindungsgang zwischen Gebäude von De Bazel (links) und der ersten Erweiterung (rechts). Abb J. F. Berghoef. Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim, erste Erweiterung

221 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb J. F. Berghoef. Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim, Mittelgang der ersten Erweiterung (1954). Abb J. F. Berghoef. Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim, Gruppenbüro in der ersten Erweiterung Abb J. F. Berghoef. Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim, alle drei Erweiterung mit Berghoefturm (Berghoeftoren, rechts). 219

222 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Das Ziekenfondsgebouw in Alkmaar (1952) Parallel zur Planung und Entstehung der Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim entwarf das Architekturbüro Berghoef einen Bürobau mittleren Formats in Alkmaar. Auftraggeber war die Algemeen Afdeling Ziekenfonds Alkmaar, eine Krankenversicherung, die an der Emmastraat Ecke Costerstraat einen neuen Verwaltungsbau mit anliegender Conciergewohnung in Auftrag gab. 609 Zwischen 1950 und 1952 wurde auf einem unregelmäßigen Eckgrundstück ein dreigeschoßiges Gebäude (plus Unterkellerung und Dachgeschoß) errichtet, das über einen Haupt- und Nebeneingang verfügte (Abb. 119). Die Eckfront stach im Straßenbild als hohe, geschlossene Vertikale ins Auge. Der Blick auf die glatte undurchbrochene Backsteinfläche wurde direkt auf das Kunstwerk (dreiköpfige Skulpturengruppe: Frau, Mann, Kind) in der unteren Hälfte der Fassade geleitet. Der recht danebenliegende Bauteil war ein Stück zurückgesetzt und ermöglichte dieser Ecklösung ihre monumentale Wirkung. Hier zeigt sich die Intention Berghoefs, um auch im kleinformatigen Bürohausbau eine monumentale Wirkung im Straßenbild zu erreichen. Die Fassade an der Emmastraat wurde durch eine Vielzahl an gleichförmigen Fensterreihen über drei Etagen gekennzeichnet, wobei in den oberen beiden Geschoßen je drei bodentiefe Fenster eine Aufwertung in Form eines Balkongitters erhalten haben. Die zentrale Besucherhalle im ersten Geschoß wurde über den Haupteingang erreicht und gewährte dem Besucher Zugang zu den Schaltern (Abb. 120). Errichtet mit einem Stahlbetonskelett und verkleidet mit Backstein, wurden im Innenraum diverse Materialien (Holz, Backstein, Naturstein, Kunststoff, Stahl, Beton u.v.m.) verwendet. Neben dem prominent anwesenden Backstein trat die Betonkonstruktion in der stuckierten Säule des Foyers und der Deckenkonstruktion hervor, denn das Balken und Plattensystem wurde sichtbar gelassen. Auf der ersten und zweiten Etage war jeweils ein Großraum entworfen, der mittels Raumtrenner in verschieden große Kompartimente unterteilt werden konnten (Abb. 121). D. h. es bestand die Möglichkeit je nach Bedarf sowohl ein `Großraumbüro (genauer: Gruppenbüro) als auch separate Büroräume voneinander zu trennen (Abb. 122). Die hohe Anzahl an Fenstern und deren hochformatige Ausführung gewährte bestmögliche Nutzung des Tageslichtes. Ein zentrales Treppenhaus diente der vertikalen Erschließung. Im Obergeschoß befand sich ein Dachgeschoß, das u.a. als Magazin genutzt wurde. Die Conciergewohnung befand sich in den oberen Etagen an der Costerstraat, und war über die interne Treppe mit dem Bürotrakt verbunden. 609 Für die Analyse dienten in erster Linie die Archivstücke aus BERX 261, 313, f4 und s

223 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb Berghoef & Klarenbeek, Ziekenfondsgebouw Alkmaar, Fassade an der Emmastraat (links) und an der Costerstraat (rechts), Foto

224 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb Berghoef & Klarenbeek, Ziekenfondsgebouw Alkmaar, Foyer und Treppenhaus, Abb. 121 Berghoef & Klarenbeek. Ziekenfondsgebouw Alkmaar, Grundriss (Erdgeschoß und Obergeschoße. 222

225 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 122 Berghoef & Klarenbeek, Ziekenfondsgebouw Alkmaar, Büroräume, Foto 1950er. Das A.N.W.B.-Gebäude in Den Haag Das neue Verwaltungsgebäude des Koninklijke Nederlandse Toeristen Bond (1963) Das größte und bekannteste Bürogebäude Berghoefs ist das A.N.W.B. Verwaltungsgebäude in Den Haag (Abb. 123). 610 Der Koninklijke Nederlandse Toeristen Bond (Königlicher Niederländischer Touristenbund) und Algemene Nederlandse Wielrijders Bond (Allgemeiner Niederländischer Fahrradverband, A.N.W.B.) vergab 1954 an Berghoef den Auftrag zum Bau einer neuen Verwaltungszentrale. Nachdem die ersten Entwürfe Berghoefs & Klarenbeeks (Abb. 124) die Zustimmung der Auftraggeber gefunden hatte, fand der Bau zwischen 1958 und 1962 seine Ausführung. Ende 1960 war der Bau in großen Teilen bezugfertig (besonders die unteren Etagen), doch zogen sich einzelne Fertigungsarbeiten noch bis in die 1960er Jahre. Eine erste Erweiterung des A.N.W.B.-Gebäudes durch das Architektenbüro Berghoef Hondius & Lamers erfolgte bereits 1972, wobei Hondius der hauptverantwortliche Entwerfer war (Abb. 125). Eine großformatige Erweiterung erfuhr das Gebäude mit einem beinahe ebenso großen Anbau durch Architekt Bas Molenaar in und 2002 (ebenfalls EGM Architekten). 611 Der neue Verwaltungssitz des A.N.W.B. wurde auf einer Fläche von 3 ½ ha errichtet, das sich entlang des Wassenaarseweg (Nr. 220) und der Van Alkemadelaan erstreckt. Das geplante Bauterrain befand sich zum Zeitpunkt der Erbauung außerhalb dichter städtischer Bebauung und zwar an der Grenze der Gemeinde Wassenaar und s Gravenhage. Dies wurde als günstige Verkehrslage für die Anreise aus Utrecht und s Gravenhage gesehen. Wegen der geplanten Verlängerung des Wassenaarseweg sollte im Süden des Terrains der Platz von jeglicher Bebauung freigehalten werden. Ziel war es, das gesamte Terrain in 1 1/2 ha Grün zu betten, womit ein Garten- und Landschaftsarchitekt beauftragt wurde. Dies führte zur Anlegung eines Weihers und einer zweiteiligen Architektur (Langbau und Rundbau), die den vorliegenden Platz zu zwei Seiten einrahmte. Der Bürobau ist mit seiner Langseite zum Wassenaarseweg hin orientiert. Der Zugang zum Grundstück geschieht über eine breite Brücke. Vor dem mehrgeschoßigen Kopfbau und der niedrigeren Rotunde wurde eine große Parkfläche für 610 BERX 409 (0078), (0079), (0080), (0081), (0082), (0083), (0148), (0174), (0385), (0386), (0387), (0388), (0389), (0390), (0391), (0392), (0393), (0394), (0395), (0396), (0397), (0398), (0399), (0400), (0577); s178); Zum Aufbau der Rotunde siehe Material in BERX D; s Siehe Molenaar

226 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Besucherautos projiziert, die gemeinsam mit dem hinter dem Bau befindlichen Parkplatz ca. 200 Autos Platz bietet. 612 Eine wichtige gestalterische Forderung seitens des A.N.W.B. als Auftraggeber war überdies, dass der neue Verwaltungssitz ein `typisch holländisches Gebäude sein sollte. Wunsch war dementsprechend eine Backsteinfassade als Expression einer angenehmen Dienstleistung (Abb. 127). 613 Ferner umfasste das Programm für den Neubau einige strukturelle Forderungen seitens der Auftraggeber, die ihre Verwaltung in der neuen Dienststelle optimal untergebracht wissen wollten. Als wichtigste Vorrausetzung galt es, zwei voneinander getrennte große Räume zu schaffen, da die ANWB sowohl einen großen Verwaltungsapparat besitzt, als auch ein umfangreiches Dienstleistungsangebot. Während in dem einen Teil ein großer Publikumsverkehr stattfinden würde, sollte der andere Raum die reine Verwaltung beherbergen. Die geforderten Räumlichkeiten erwiesen sich wie folgt: ein normales Bürogebäude für mehrere hundert Mitarbeiter, Direktion und Verwaltung, Kantine, Reserveraum für zukünftige Ausbreitungen, einen Raum für den öffentlichen Dienstleistungsverkehr, Dienstwohnungen für den Hausmeister und den Chef der technischen Dienste, sowie Unterkünfte für die Auszubildenden der Straßendienste (Pannendienste) während ihrer Ausbildung. Außerdem ein Vielzahl an Garagen und Arbeitsplätzen und Magazinen. 614 Berghoef setzte die dem Bauauftrag inbegriffene Forderung nach zwei verschiedenen Funktionsräumen in einen zweiteiligen Gebäudekomplex um (Abb. 126). 615 Der Bauplan umfasste einen konventionellen, rechteckigen Langbau von knapp 100 m Länge, 15 m Breite und 30 m Höhe, der sich über sechs Etagen plus Personalkantine auf dem Dach erheben sollte. Der Forderung nach einem repräsentativen, öffentlichen Raum für den Kundenverkehr des A.N.W.B. entsprach Berghoef mit dem Entwurf eines zweigeschoßigen Rundbaus, der sich trotz seiner geringeren Höhe im Vergleich zum Bürotrakt prominent an der Straßenseite (Wassenaarseweg) positioniert. Als weitere Elemente des A.N.W.B. Komplexes entstanden hinter dem Hauptgebäude die geforderte Anzahl Wohnungen für die Straßenwacht und deren Auszubildende und weitere technische Nebengebäude (Abb. 128). 616 Der langgestreckte Hauptbau wurde als zweibündige Anlage entworfen, d. h. zwischen zwei Stützenreihen verbindet ein langer Gang die beiden Treppenhäuser/Liftschächte miteinander. In direktem Anschluss an diese vertikalen Verkehrspunkte innerhalb des Baus befinden sich die Sanitärräume und die (Tee-)Küchen 617 als `Konstantflächen. 618 Entlang des Gangs befinden sich zahlreiche Büroräume unterschiedlicher Größe (Abb. 129). Entsprechend 612 Die Grundfläche jeder Etage des Hauptbaus entspricht in etwa 1400 m², so dass der gesamte Bau ca m² aufweist. ANWB Hoofdkantoor Ebenda, Bt Berghoef Ne./v.d.V Die wesentliche Entwurfsänderung bei der Planung des Bürobaus bestand in der Verschiebung der Rotunde, da ein 22 Meter breiter Streifen entlang des Wassenaarseweg frei bleiben sollte. Dies führte zu einer Neuordnung der Baukörper, einer veränderten Position des Hauptzugangs und der Verschiebung der Dachkantine. Diese wurde auf dem Dach stets auf der Höhe der Rotunde projiziert. Darüber hinaus wurde im Zuge der Ausbreitung des Bauprogramms der Bau von fünf auf sechs Etagen erhöht. Siehe erste Entwürfe in BERX 409(0078). Die Nebengebäude im Norden des Hauptbaus wurden 1972 für die Erweiterung wieder abgetragen. 617 Die Kaffeeküche jeder Etage ist direkt über einen kleinen Dienstlift mit der Hauptküche verbunden. 618 Zu den Begifflichkeiten der primären und sekundären Anforderungen des Bürobaus siehe Kraemer und Meyer 1974,

227 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe der Bürotätigkeit und der Hierarchie der Mitarbeiter werden von Berghoef sowohl Einzel- als auch Gruppenbüros entworfen, mit entsprechender Größe und Komfort für die Einrichtung. Wirkliche Großraumbüros im amerikanischen Sinne bzw. wie wir es ab den späten 1960er Jahren auch in Deutschland kennen gibt es im A.N.W.B.-Gebäude nicht, wenngleich langgezogene Gruppenbüros, in denen eine Vielzahl an Mitarbeitern untergebracht werden konnte (Abb. 130). Insgesamt wurden im ersten bis fünften Obergeschoß diverse Abteilungen der Verwaltung, der Direktion, das Sekretariat sowie die Hollerith-Abteilung untergebracht. Letztere wurde aufgrund der mechanisch-akustischen Lärmproduktion mit einem schwebenden Boden in der dritten Etage ausgestattet. Auf diese Weise wurde die Übertragung von Schwingungen der Maschinen an das Bauskelett vermieden. Das oberste Geschoß verfügte über reichlich Reserveraum, da ein künftiges Wachstum der Verwaltung bereits abzusehen war. Der Keller diente als Lagerraum und zur Unterbringung der Heizungs- und Wasserinstallation, der Archive. Das Erdgeschoß beherbergte das Foyer, die Posträume und die Hausdruckerei. Im Dachgeschoß erstreckte sich auf einer Fläche von 32 x 10 Metern die Personalkantine mit angegliederten Küchenräumen. Gesäumt wurde diese von einer umlaufenden Dachterrasse. Kennzeichnend für die Silhouette des Bürobaus sind die in Wellenform ausgebildeten Betonschalen des Kantinendaches. Die dem Hauptbau anliegende Rotunde erhielt einen eigenständigen Aufbau (). Der große Saal dieses Rundbaus war mit einer Fläche von ca m² für den Publikumsverkehr vorgesehen, d. h. hier wurden an einem vierzig Meter langen, umlaufenden Schalter die Kunden betreut, während die Mitte des Saals als Wartemöglichkeiten zur Verfügung stehen sollte (Abb. 132). Dieser Kuppelbau fungierte als Herz der Anlage und Aushängeschild der Dienstleistung des Unternehmens. 619 Die umliegenden Räume der Rotunde waren als Arbeitsplätze für die Mitarbeiter dieser Dienstleistungsabteilung bestimmt. Im Erd- und im Kellergeschoss der Rotunde befanden sich Fahrradstellplätze (ca. 600), Mitarbeitergarderoben und Magazinräume bzw. Betriebsräume. Abteilungen, die neben dem Publikumsverkehr in der Rotunde viel Besuch von Klienten empfingen, wurden in der ersten Etage untergebracht, die durch einen überdeckten Verbindungsgang aus Glas mit dem Hauptgebäude verbunden war. Der Rundbau besitzt einen Innendurchmesser von 25 Metern. Rundherum entfalten sich kranzartig die Schalter und Diensträume der Mitarbeiter mit einer Raumtiefe von zwölf Metern. Sowohl die Kuppel als auch diese umliegenden Räume wurden mit Schaldächern aus Beton gedeckt (Abb. 134). Die Rotunde erhielt eine Wandkonstruktion bestehend aus hölzernen Gitterwänden, in denen Fenster eingelassen sind. Als Holzart wurde Surinamisches Holz verwendet, das mit der Zeit silbergrau patiniert. 620 Durch die großen Glasflächen entstand eine sehr lichte und helle Architektur. Insgesamt ruht die Kuppel auf sechzehn Säulen und erhebt sich vier Meter über dem Terrainniveau. Eine breite Zufahrt bildet auch heute noch den direkten öffentlichen Zugang zur Rotunde (Abb. 135). 619 Siehe hierzu einen Zeitungsartikel in BERX 409 (0079): Nieuw ANWB-Hoofdkantoor in 1960 voltooid vom 13. Januar 1958, Name der Zeitung nicht vermerkt. 620 ANWB Hoofdkantoor

228 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 123 Berghoef & Klarenbeek. A.N.W.B.-Gebäude am Wassenaarseweg in Den Haag ( ). Abb Berghoef & Klarenbeek. A.N.W.B.-Gebäude in Den Haag, , Erstes Modell (links) und perspektivischer Entwurf nach der Überarbeitung (rechts). Abb. 125 Berghoef Hondius & Lamers. Perspektivzeichnung des A.N.W.B.-Gebäudes am Wassenaarseweg in Den Haag mit der Erweiterung von

229 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 126 Berghoef & Klarenbeek. Grundriss des A.N.W.B. Gebäude in Den Haag, Abb. 127 Rückwärtige Fassade des A.N.W.B. Gebäudes in Den Haag. Abb. 128 Technohal (Werkstatt) des A.N.W.B. Gebäudes in Den Haag, Foto 1960er. 227

230 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 129 Längsschnitt durch das A.N.W.B.-Gebäude mit Angabe der verschiedenen Abteilungen. Abb. 130 Gruppenbüro des A.N.W.B.-Gebäudes in Den Haag, Foto 1960er. Abb. 131 Querschnitt (Ost-West) durch die Rotunde des A.N.W.B.-Gebäudes in Den Haag. 228

231 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 132 Interieur der Rotunde des A.N.W.B.-Gebäudes in Den Haag kurz nach der Fertigstellung, Abb. 133 Rotunde des A.N.W.B.-Gebäudes im Aufbau (links), Montage der Betondschalen der Dachkonstruktion (rechts). Abb. 134 Dachkonstruktion der Rotunde, Interieur, Zustand

232 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 135 Zugang zur Rotunde des A.N.W.B.-Gebäudes in Den Haag, Foto kurz nach der Fertigstellung. Das Waterstaatsgebouw in Groningen - Verwaltungsgebäude des Wasserwirtschaftsamts und der Warenprüfstelle in Groningen (1966) Das sogenannte Waterstaatsgebouw von Groningen entspringt einem Planungs- und Bauprozess von etwa zehn Jahren ( ). Auf einem Eckgrundstück zwischen der Sint Jansstraat und der Turfsingel (Gracht) entstand ein Verwaltungsbau für die Unterbringung des Wasserwirtschaftsamts und der Warenprüfstelle der Provinz Groningen (Abb. 136). Mitten im Stadtzentrum Groningens, nur einen Steinwurf vom großen Marktplatz und der Martinikirche entfernt, schloss das Baugrundstück direkt an das historische Gebäude des Provinciehuis (Provinzialverwaltung) an. Das zukünftige Bürogebäude an dieser Stelle sah sich folglich im Kontext historischer Bebauung, die das Stadtbild in hohem Maße prägten. Hinsichtlich der städtebaulichen Einbindung galt es den Neubau als Teil der bestehenden Bebauung (Martiniturm und Kirche, Reichsarchiv, Provinciehuis etc.) aufzufassen. Diese Integration in die Umgebung wurde als höchstes Ziel in der Planung verfolgt fertigte Berghoef einen ersten Entwurf an, der die Anwesenheit des nebenliegenden Provinciehuis in der Entwurfszeichnung miteinschloss (Abb. 137). Der Entwurf erhielt in den folgenden zwei Jahren kleinere Modifikationen, besonders in der Gestaltung der Fassaden (Abb. 138). Die anfänglich geschlossene Fassadefront zur Turfsingel erhielt eine Auflockerung durch die Erhebung der beiden Obergeschoße auf ein Pfeilergeschoß. Zum Zweck der städtebaulichen Integration des Bürobaus an der Straßenecke wurde eine mehrteilige Baumasse auf einem T-förmigen Grundriss mit divergierenden Dachhöhen entworfen. Eine kompakte massive Baumasse wurde dadurch vermieden. In der Entwurfsbeschreibung von 1959 wurde dies von den Architekten als `markante Komposition von Volumen begleitet von einem deutlichen städtischen Raum beschrieben. 622 Die Firsthöhe entlang der Gracht (Turfsingel) sollte auf keinen Fall die bestehende Bebauungshöhe überragen. Um den Durchblick auf die Martinikirche entlang der Straßenachse und zwischen den beiden Archivgebäuden zu bewahren, wurde der Hauptblock ein Stück von der St. Jansstraat zurückgesetzt. Hierdurch entstand zusätzlich ein kleiner Vorplatz, von dem diese Sichtachse ebenfalls erfahrbar ist. Die Galerie am Haupteingang sollte eine Relation zum Arkadengalerie des Reichsarchivs herstellen. Die umgebende Bebauung besonders Richtung Martinikirche und Provinziehuis 621 Siehe Erläuterung zum definitiven Entwurf 1959 in BERX 443 (0113). 622 Siehe Erläuterung zum definitiven Entwurf 1959 in BERX 443 (0113). 230

233 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe wurde sichtlich in die Planung miteinbezogen, wie die Pläne der vorhandenen umgebenden Bebauung z. B. an der Turfsingel aus dem Archiv Berghoef offenbaren. 623 Eine Besonderheit für die Planung des Gebäudes bildete die Grundanforderung, dass zwei sehr unterschiedliche Abteilungen in einem großen Gebäudekomplex untergebracht werden sollten. Während das Wasserwirtschaftsamt im Wesentlichen gängiger Büroräume bedurfte, erforderte die Warenprüfstelle darüber hinaus spezielle Laboratorien zur Warenprüfung. Hinsichtlich der der Gliederung und der Einrichtung der Büroräume wurde deshalb in der Entwurfsbeschreibung auf die Büroräume der Wasserwerke eingegangen. Diese sollten so flexibel wie möglich gehalten werden, da nach Ansicht des Architekten in einem modernen Bürobetrieb fortwährend Strukturänderungen auftreten. 624 Als wesentlicher Ausgangspunkt des Entwurfs zeigt sich die Trennung der beiden Abteilungen und der darüber hinaus geforderten Wohnräume und Garagen in drei Bautrakte. (Abb. 139) Das Raumkonzept sah vor, dass der hohe Baublock (Trakt A) dem Wasseramt bestimmt war, während der niedrigere Baublock (B) an der Turfsingel die Prüfstelle beherbergen sollte. Im Unterhaus des Wohnblocks (Trakt C) befand sich ein Fahrradstellplatz für beide Dienste als auch für die Provinzialkanzlei selbst. Im Keller wurden Archivräume und Betriebsräume, technische Installationen etc. untergebracht. Der Hauptzugang unter der Galerie führte in eine zweistöckige Halle, von der beide Diensttrakte betreten werden konnten. Die Büro- und Zeichenräume des Wasserwirtschaftsamts verteilten sich über fünf Etagen im Hauptblock. Im Dachgeschoß wurde eine Kantine geplant, sowie ein Allzwecksaal mit Bühne für bis zu 350 Personen. Die Räume der Prüfstelle erstreckten sich im Trakt B über drei Etagen. Neben der Galerie befanden sich weitere Diensträume mit einem eigenen Eingang, sowie Wohnräume für den Concierge u.a. Hinsichtlich des Bürokonzepts wurde diesem Bürobau eine zweibündige Anlage zu Grunde gelegt (Abb. 140). Entlang eines langen Flures reihten sich Büroräume unterschiedlicher Größe zur Straßen- bzw. Innenhofseite des Kopfbaus. Die tragenden Säulen, die stets freistehend im Mittelgang in Erscheinung treten, werden nach oben mit jeder Etage schmaler im Durchmesser. Die Relation von Gewicht und notwendiger Tragkraft der Baukonstruktion wird hierdurch sichtbar gemacht. Die Idee des langen Flures wurde im Trakt B zwar auch noch aufgegriffen, aufgrund der erforderlichen Raumgrößen nicht in jeder Etage stringent in einer zweibündigen Anlage ausgeführt. Hinter seiner durch eine hohe Anzahl Fenstern durchbrochenen Backsteinfassade birgt der Baukörper ein Stahlbetonkonstrukt (Abb. 141). Die Unterkellerung und Fundamentierung besteht gänzlich aus Stahl. Die Gebäudeecke an der Turfsingelstraat, die die Wohnungen beherbergt, wurde gänzlich in tragendem Mauerwerk hochgezogen. Das Betonskelett der Trakte A, B, und Teile von C besteht aus Stützen, Bodenplatten und wo nötig aus tragenden Wandelementen. Eine technische Besonderheit erweist sich in der Konstruktion hinsichtlich des Versuches das Gebäude in seiner Masse besonders leicht zu entwerfen. Um Gewicht bei den Bodenplatten aus Beton zu sparen wurden Schacht- bzw. Rohrelemente aus hartem Karton/Pappe (kartonnen kokers) eingearbeitet (Abb. 142). 625 Gleichzeitig wurde dieser entstandene Hohlraum zur Verlegung der elektrischen Verkabelung genutzt. Für die Fertigung der Innenwände wurde Enzelenser Backstein und Holersteen, ein dänisches Baumaterial, 623 BERX 443 (0447). 624 Siehe Erläuterung zum definitiven Entwurf 1959 in BERX 443 (0113). 625 Zu den Vorteilen dieser Bodenelemente siehe Erklärung zum Entwurf. BERX

234 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe verwendet. Das Dachgeschoß schließt mit einem Dachstuhl aus Stahl ab. Lokales Material findet sich besonders am Außenbau: Die Fassaden wurden mit Groninger Backstein hochgezogen und das Dach wurde mit blauen Dachpfannen gedeckt. Die Fenster zeigen die `Berghoeftypische Kombination aus Metallrahmen in einer Hardholzfassung (Afzelia): Materialien dem der Architekt Beständigkeit und Pflegeleichtigkeit unterstellt. Die tatsächliche Langlebigkeit dieser Materialien zeigt der Originalzustand, in dem diese Stellen auch heute noch am Bau verkehren (Abb. 143). Das Gebäude dient heute immer noch seiner ursprünglichen Bestimmung (Unterbringung Ämter der Wasserwerke) wurde aber 1996 um einen Anbau an der Seite zum Provinciehuis erweitert (Abb. 144). Da sich in diesem der neue Zugang befindet und auch das rückwärtige Grundstück für eine Erweiterung genutzt wurde, gingen sowohl die Blickachse zum Martiniturm als auch der Innenhof verloren. Abb. 136 Berghoef, Provinciale Waterstaatsgebouw an der Sint Janssatraat in Groningen, Abb. 137 Entwürfe für das Provinciale Waterstaatsgebouw Groningen,

235 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 138 Modfizierung der Fassade an der Turfsingel. Entwurf 1958 (links) und Ausführung (rechts). Abb Grundriss des Waterstaatsgebouw in Groningen, Entwurf Abb Grundriss des Waterstaatsgebouw in Groningen, Entwurf

236 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 141 Das Provinciale Waterstaatsgebouw im Anbau, links das alte Provinciehuis. Abb. 142 Detail zur Ausführung des Zwischenbodens mit Kartonröhren zur Gewichtseinsparung, Plan Abb Provinciale Waterstaatsgebouw Groningen, Detail der Fensterfassung in Aluminium und Afzelia-Holz (Originalzustand), Zustand

237 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 144 Provinciale Waterstaatsgebouw Groningen, Flur im Hauptgebäude und Treppenhaus (Originalzustand), Zustand Bürobau nach dem Vorbild Nervis Zusammenarbeit von Architekt und Konstrukteur Wie im ersten Kapitel ausführlich dargelegt wurde, zeichnet sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Entwicklung ab, bei der der Unterschied zwischen Architektur und Bauen von den so genannten Modernisten aufgehoben wurde. 626 Der Baukörper wurde laut dieser `neuen, modernen Architekturauffassung nicht mehr komponiert, sondern konstruiert. D. h. an die Stelle der Komposition tritt die Konstruktion der Form. Der moderne Architekt verfolgte demnach eine ingenieursartige Herangehensweise an die Materialiät der Architektur. Der von Berghoef für seine Bauwerke selbst konstatierte moderne Charakter kann tatsächlich besonders auf der technischen Ebene festgestellt werden. 627 Bereits bei dem ersten Bürobauprojekt für die Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim sah er sich mit De Bazels Werk mit einem Gebäude konfrontiert, das als eines der ersten in den Niederlanden als Stahlbetonskelett hochgezogen worden war. 628 Trotz seines `traditionellen Äußeren war es folglich für seine Entstehungszeit (1912) `modern. In der Herangehensweise an diese bauliche Erweiterung des bestehenden Bürobaus zeichnet sich ab, dass die Funktionalität und die optimale Nutzbarkeit für den Architekten vorrangig waren. Da beispielsweise beim Bau für die die geräuschintensive Hollerithabteilung (Lochkartenverfahren) in der Mitte des Baukörpers Unterbringung fand, galt es hier eine bestmögliche Geräuschisolation zu gewährleisten (Abb. 145). In der Ausarbeitung (NHM in Arnheim und A.N.W.B. in Den Haag) zeigt sich dies in der Anwendung von hängenden Deckenkonstruktionen mit einer Isolation aus Steinwolle, doppelten Betonböden mit einer Zwischenlage aus Kork und einem deckenden Plastikbelag auf massiven Backsteinwänden (Schwebender Boden), doppelter Beglasung und 626 Heynen et al. 2001, Berghoef und Klarenbeek 1954, 331f. 628 Stenvert und Tenten 2000, 27,

238 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Gummidichtungen bei den kritischen Übergängen wie Türen. 629 Auch hinsichtlich Ventilation (doppelte Kippfenstern) und Sonneneinstrahlung (venetian blinds-jalousien) wurde auf die aktuellen Anforderungen eine passende Antwort geboten. Und in der Materialwahl wurde auf Haltbarkeit geachtet: Bodenbelag aus sogenanntem nordischen Kwarz sollte an viel beanspruchten Stellen wie Treppenaufgängen verschleissfrei sein und Langlebigkeit gewährleisten. 630 Abb. 145 J. F. Berghoef. Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim, Hollerithabteilung in der ersten baulichen Erweiterung. Die Archiv- und Literaturrecherche zum A.N.W.B. Gebäude in Den Haag haben ebenfalls einige Besonderheiten an dieser Bürohausarchitektur zutage gebracht, die in diesem architekturhistoriografischen Kontext untersucht werden müssen. Denn die angewandte Bautechnik rief in der zeitgenössischen (bautechnischen) Literatur eine häufige Reflektion hervor. Laut eines Berichts über eine Exkursion der Betonvereinigung am 27. Juni 1961 zum Bauplatz des zu diesem Zeitpunkt beinahe vollendendeten Bau, pries der Architekt selbst das neue A.N.W.B. Gebäude als bemerkenswertes Resultat von sehr guter Zusammenarbeit von Architekt und Konstrukteur. 631 Die Form sei dabei nicht unwesentlich durch die angewandte Konstruktion (Stahlbetonskelett) bestimmt. Ferner führt Berghoef aus, dass ein Architekt nie genau wisse, warum er diese oder jene Form wähle. Die entstehe aus der Überzeugung, dass die gewählte Form die richtige sei. Der Kopfbau sei `normalen Typs und wolle keinen Anspruch auf Neuheit erheben. Doch durch die externe Lage der Rotunde und dessen Formgebung als als öffentliche runde Halle habe man einen Ausdruck von gesonderter Dienstleistung erreicht. Architekt Peter Drijver bezeichnet in seinem Artikel Kapotverbouwen 632, in dem er den Umbau der Rotunde durch Ron Beking 1990 stark kritisiert, das A.N.W.B. Gebäude als niederländische Version des späteren Werks des schwedischen Architekten Gunnar Asplunds, der sich vom klassizistischen zum undogmatischen, modernen Architekten entwickelt habe. Die Rotunde des A.N.W.B. könne deshalb laut Drijver als Höhepunkt der Nachkriegsarchitektur 629 Zu den Details siehe BERX 340 (0047). Für die `Balkenboden -Konstruktion siehe BERX 358 (0342); Oosterhoff et al. 1988, Berghoef und Klarenbeek 1954, Ne./v.d.V Drijver

239 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe öffentlicher Bauten bezeichnet werden. Dass es sich um einen Höhepunkt der nachkriegszeitlichen Architektur handelt, können wir besonders auf einer anderen Ebene nachvollziehen, nämlich auf dem Gebiet der angewandten Bautechnik des A.N.W.B. Gebäudes. Hinsichtlich der Konstruktion hatte sich Berghoef nämlich mit einer enormen Einschränkung zu arrangieren: das Ministerium für Wohnungswesen und Baugewerbe forderte aufgrund der enormen Materialknappheit eine minimale Verwendung von Backstein bei größtmöglicher Verbauung von Präfabrikationsbauteilen. Der Auftraggeber wünschte aber eine großflächige Backsteinfassade. Aus dieser Notlage heraus wurden präfabrizierte Beton- Backstein-Elemente für die Fassade entwickelt. (Abb. 146; Abb. 147) Durch das Gießen einer Backsteinlage in Betonplatten konnte die Anzahl der benötigten Backsteine verringert, während gleichzeitig der Forderung nach Präfabrikation in Beton genüge getan wurde. 633 Zur Erstellung des orange-grauen Backsteinverkleidung wurde Nord-Brabanter Backstein verbaut. 634 Dieser sollte den niederländischen Charakter des Bauwerks akzentuieren. Unter einigen Fensterbrüstungen wurde in einem regelmäßigen Rhythmus ein dekoratives Backsteinmuster angebracht (Abb. 148). Zwar besteht beinahe das ganze Gebäude als präfabrizierten Bauteilen, doch sieht man auf den ersten Blick nur traditionelles Mauerwerk. Dieser Eindruck entspricht genau der Intention der Architekten und Auftraggeber. 635 Gleichzeitig wurde den staatlichen Vorgaben und Gegebenheiten des Baugewerbes entsprochen. Abb. 146 Wandaufbau des A.N.W.B. Gebäudes in Den Haag. 633 Detailplan zur Giebelkonstruktion mit Beton-Bakcsteinelementen siehe Plan 1B2a, 1957 in BERX 409 (0399). 634 BERX 409 (0078). 635 Mulder 1962,

240 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 147 Präfabriziertes Fassadenelement (Backsteinlage in Beton) für das A.N.W.B. Gebäude in Den Haag. Zur Anbringung unterhalb der Fenster (Ziermauerwerk). Abb. 148 Fassade des A.N.W.B. Gebäudes in Den Haaag mit den präfabrizierten (verzierten) Backsteinelementen, kurz nach der Fertigstellung (links), Zustand 2011 (rechts). Ein weiterer Aspekt der intensiven Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur offenbart sich in dem Stahlbetonkonstruktion des Bauwerks. Dieses setzt sich aus präfabrizierten Balken, Stützen und Bodenplatten zusammen. Die nötige Steifheit der achtgeschossigen Konstruktion (sechs Etagen plus Keller und Dachgeschoss) wurde erreicht, indem die Mittelportale, der Keller und Fassadenbalken bauseitig konstruiert und als Ortbeton gegossen wurden. Alle übrigen Pfeiler, Balken und Bodenelemente sind Produkte aus der Betonfabrik und in Stapelbauweise ausgeführt. Traditionell gemauert sind nur beiden Kopffassaden und die Pfeiler entlang der Langseiten. Seine Windsteifheit erhält der Kopfbau durch die verstärkte Ausführung der Treppenhäuser und Lifteschächte. In Besprechung mit der damaligen Direktion wurde von einem Air-Condition-System abgesehen. 636 Die Belüftung soll über das einfache Öffnen der Fenster durch die Mitarbeiter individuell geschehen, mittels Ventilationsklappen oben und unten an den Fenstern. Die Reinigung und Unterhaltung der Fenster soll ebenfalls einfach gehalten werden. Aus diesem Grund wählte Berghoef auch hier wieder die für ihn typische Lösung des Stahlfensters in Hartholzrahmen, der keine Bemalung und wenig Nachsorge erfordert. Die Wahl der Doppelverglasung aus thermischen Gründen fällt ebenfalls in das bereits bekannte 636 Berghoef 1961, Bt

241 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Entwurfsschema Berghoefs. Die Rotunde besteht ebenfalls auf einem Betonskelett, das großflächig mit Glasfenstern verkleidet ist. Die Pfeiler des kuppelförmigen Baus sind an der Außenseite eingemauert mit dem orangefarbenen Backstein und innen ummantelt mit glasierten Backstein. Durch den Kontakt mit dem Ingenieur Haas, und dessen anfänglich zufällige Auseinandersetzung mit der Dachbedeckung der Rotunde, entstand die Idee die runde Halle mit einem Schalendach zu versehen. Da Schalen in akustischer und thermischer Hinsicht jedoch weniger praktikabel sind, wurden die Platten mit einer wasserdichten Korkschicht ausgestattet. 637 Haas erläutert u.a. in Fachzeitschriften (z. B. De Ingenieur und Cement) die Dachkonstruktion der Rotunde mit den 24 konischen Muschelausbuchtungen. Antrieb für die Präfabrikation der Bauteile waren die absehbare Arbeitsreduktion und die Zeitersparnis. Deshalb wurden die Ausbuchtungen aus zwei Betonhälften vor Ort zusammengefügt. Die Kuppel besteht aus 14 Teilen, die vor Ort mittels Zement zusammengesetzt wurden. 638 Laut Haas Aussage sei das A.N.W.B. eines der ersten Bauten mit einer derartigen Schalendachkonstruktion (Segmentschale aus Beton) der Niederlande. 639 Die Serienproduktion der Schalenelemente hatte zum Vorteil, dass kleine Fehler in den Betonschalen während der Produktion direkt aufgespürt werden konnten. Als Probegußobjekte dienten direkt die zehn Dachschalen der Kantine, die als erstes gefertigt wurden (Abb. 149). 640 Für unsere Fragestellung interessieren an dieser Stelle die Beweggründe Berghoefs für ein derartige Zusammenarbeit und seine Sicht auf die Unterscheidung von Architekt und Ingenieur. Wie das diesem Kapitel vorangestellte Zitat Berghoefs verdeutlicht, differenzierte er zwischen dem künstlerisch denkenden Architekt und dem exakt denkenden Ingenieur. Der Architekt ist nicht Teil einer explizit technisch denkenden Gruppe und unterscheidet sich deshalb von dem Konstrukteur (technischen Ingenieur). Berghoef hielt es für unmöglich, dass ein Architekt alle Aspekte rundum Konstruktion gut einsehen und zu einer Lösung zu kommen könne, in dem Maße wie ein Konstrukteur das könne. Die Trennung von Architekt und Ingenieur/Konstrukteur scheint ihm demnach begründet und nicht so ohne weiteres auflösbar. Deshalb sei die Zusammenarbeit dieser beiden Berufspersonen ganz nach dem Vorbild des italienischen Bauingenieurs Pier Luigi Nervi auch in den Niederlanden anzustreben. 641 Die Zusammenarbeit mit `exakt denken Konstrukteuren habe der Formfindung und Formgebung nicht im Wege gestanden, sondern habe ihm persönlich viel Freude bereitet und größere Möglichkeiten geboten, wie das A.N.W.B. Gebäude in Den Haag beweist. 637 Vgl. die Pläne in BERX 409 (0386). 638 Die Maße der Rotunde sind: Außendurchmesser 50 Meter, Innendurchmesser 30 Meter, Höchster Punkt der Kuppel ca. 16 Meter. 639 Ein weiteres Gebäude mit einer Hypparschalen-Dachkonstruktion in den Niederlanden ist die Cabergkirche in Maastricht. Sonst wäre im Beneluxraum nur noch der Philipps-Pavillon bei der Expo mit seinen präfabrizierten Hypparschalen zu nennen. Als Parallelen ähnlicher Schalendächer nennt Haas ferner Bauten in Kiev (eine Zementfirma) und in Krakau. Haas 1961a; Haas 1961b. 640 Diese besitzen eine Gewicht von 4,5 Tonnen und eine Dicke von 6,5 cm. 641 Berghoef 1961, Bt 155; Ne./v.d.V

242 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 149 Das A.N.W.B. Gebäude im Anbau, Montage des Schalendaches für die Kantine (rechts). Der Bürobau als Nutzbau und seine künstlerische Formgebung Der Bürobau ist in erster Linie ein Nutzbau, d. h. ein Gebäude, in dem die Unterbringung einer Verwaltung und verschiedener verwalterischer Arbeitsprozess Priorität hat. Mit seiner nüchternen Zweckbestimmung will man ihn daher nicht mit anderen rerpäsentativen Großbauten wie dem Rathaus auf eine Stufe stellen. Nicht ohne Grund wurde deshalb auch in dieser Arbeit eine Trennung zwischen diesen beiden Bauaufgaben gemacht. Die heutige Dominanz an Bürobauten, in ihrer absoluten Größenordnung, ihrem Bauvolumen und Mächtigkeit ihrer Baumasse lässt sich schon an den Bürobauten Berghoefs für die 1950er und 1960er Jahre ablesen. Die übergeordnete Fragestellung zielt neben den gerade untersuchten Aspekten von Material und Bautechnik auch auf die Frage von Formgebung. Charakter und Monumentalität sind Resultate einer künstlerischen Formgebung, mit der auch beim Bürobau einer architektonischen Aussage nachgestrebt wurde. Die Vielzahl internationaler Bürobauten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weist flächendeckend eine große Bandbreite an eigener Formgebung auf, die auf stilistischer Ebene variiert zwischen modernistisch, traditionalistisch, expressionistisch etc., wie die historiografische Literatur diese Bauwerke einordnet. Der Bürobau eignet sich demnach trotz seines stark funktionsgeprägten Charakters als Objekt der künstlerischen, ästhetischen Gestaltung. Wenn ein Bauwerk dabei ein Teil eines Ganzen darstellt, d. h. wenn der Bau als Teil eines Ganzen empfunden wird, tritt zu dem Werkzeugcharakter ein Spielzeugcharakter (Behne, 1926). 642 Diese von Behne formulierte `moderne Architekturauffassung hat insbesondere die Erweiterung der NHM in Arnheim gezeigt. Neben dem Berghoefturm, der zweifelsohne alle umliegende Bebauung überragte und allein dadurch ein hohes Maß an Monumentalität und Präsenz besitzt, wurde auf der formsprachlichen Ebene der historische Vorgängerbau De Bazels mit großem Respekt behandelt. Anpassung und gezielte Bezugnahme auf den bestehenden Bau waren Leitbilder bei der Verwirklichung dieses Bürobauprojekts. Der respektvolle Umgang mit der bestehenden Architektur De Bazels in Arnheim sollte zu einem späteren Zeitpunkt in Berghoefs Tätigkeit noch einmal gefordert werden, und zwar bei einem Umbau von De Bazels Nederlandse Handel-Maatschappij (NHM) in Amsterdam (1923). Berghoef, der 1923 zu Studienzeiten bei De Bazel als Praktikant seine ersten 642 Behne 1998,

243 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Erfahrungen sammeln konnte, erhielt in den 1970er Jahren den Auftrag zum Umbau dieses großen Amsterdamer Bürobaus. Zwischen wurde unter seiner Aufsicht die Halle, die bereits in den Fünfziger Jahren einen Umbau erfahren hatte, umgebaut und der ursprünglichen Intention De Bazels wieder näher gebracht. Berghoef ließ hier die Schalter und zwischenzeitlich errichteten Zwischengeschoße im Lichthof wieder entfernen, um einen offenen Raum zu schaffen. Die Vertäfelung aus Holz und Marmor wurde entfernt und zwei hölzerne Wendeltreppen zur ersten Etage wurden errichtet. Überdies wurde im Interieur viel im Originalzustand belassen. Einen weiteren Anhaltspunkt für die Sichtweise Berghoefs auf die Einfügung neuer Bebauung in das bestehende Stadtbild, bietet ein nicht ausgeführter Entwurf, den Berghoef für die Preisfrage der Hauptverwaltung der Nederlandsche Bank am Grimburgwal in Amsterdam. anfertigte wurde ein mehrteiliger Entwurfsauftrag für ein neues Bankgebäude an die Architekten Berghoef, W.M. Dudok, M.F. Duintjer, Joh. H. Groenewegen, F.P.J. Peutz, C. Wegener Sleeswijk und H.T. Zwiers herangetragen. 643 Berghoefs Entwurf konnte die Jury nicht überzeugen und schied direkt aus (Abb. 150). Als Kritikpunkt wurde besonders die geschlossene Formgebung angeführt, die nicht dem `zeitgenössischen Trend nach Offenheit entsprach. Am Entwurf Berghoefs und der dazugehörigen Erläuterung zeigt sich, dass hier in hohem Maße nach Anschluss des Baublocks an die umgebende Bebauung, den charakteristischen Amsterdamer Grachten, gesucht wurde. Diese kennzeichneten sich durch eine geschlossene Fassadefront. Sowohl stilistisch als auch in der Materialwahl sah Berghoef einen Bürobau vor sich, der sich in die Amsterdamer Stadtarchitektur einfügte. Die von ihm entworfene Architektur sollte sich demnach als Teil eines (städtischen) Ganzen verhalten, ein Entwurfsauffassung, der wir bereits an einigen Stellen in der Arbeitsweise des Architekten begegnet sind. Auffällig an diesem Wettbewerbsentwurf ist die Formgebung des zentral positionierten Turmes, der in der frei aus der ihn umfassenden Kranzartig angelegten Bebauung herausragt. Die Gestaltung seines oberen Abschlusses weist bereits Parallelen zu dem Büroturm auf, den Berghoef kurz Zeit danach für die NHM in Arnheim entwirft (vgl. Abb. 118, Abb. 150). Abb. 150 J. F. Berghoef. Entwurf für die neue Hauptverwaltung der Nederlandsche Bank in Amsterdam, Entwurf der Fassade am Oude Turfmarkt (links) und Modell (rechts). Die weiteren Merkmale modernen Architekturschaffens, wie sie von den architekturhistoriografischen Protagonisten (Behne, Giedion etc.) sind die soziale Tangente des Bauens und die Form als Ausdruck der Funktion. Eine charakteristische Formgebung eines 643 Kommentar zu den verschiedenen Entwürfen siehe Friedhoff

244 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Bürobaus (Blockbau mit einer Vielzahl an Geschoßen für die Unterbringung des Büroraums) ist bei Berghoef ebenso anzutreffen, wie bei dem Großteil des Bürobaus der Nachkriegszeit. Die mehrgeschoßige Blockbauweise aus Ausgangpunkt jeglicher formaler, ästhetischer Formgebung und Spielerei mit Grundrissverschiebungen zeichnet sich bis heute noch als Basisrezept des Bürohauses aus. Diesbezüglich handhabte Berghoef keine spektakulären Neuerungen. Das Finden der richtigen Form war für ihn eine Glaubenssache und konnte schwerlich in Worte gefasst werden. 644 So handhabte er beim A.N.W.B.-Gebäude in Den Haag bewusst einen `frei konventionellen Aufbau für den Hauptbau und eine Rundform für den Besuchertrakt, in dem die Außenwirkung, d. h. der Kontakt mit den Kunden des A.N.W.B. stattfand. Berghoef und Klarenbeek verfolgten hierbei die Vision eine zentrale übersichtliche Halle zu schaffen, ganz im Sinne einer Bahnhofshalle, doch mit der Möglichkeit des persönlichen Kontakts zwischen Kunden und Mitarbeitern des A.N.W.B. Im Entwurfsprozess entstand eine Reihe von Entwürfen: eine rechteckige Halle mit dem Schalter in der Länge, dann in der Breite. Doch diesen erwiesen sich nicht `festlich genug. Danach eine hohe Halle, doch diese erwies als zu unpersönlich, eine flache Halle dagegen als zu beengend. Letztendlich erwies sich die Runde Hallenform als die Lösung zur Entsprechung aller Anforderungen. 645 Der Besucher sollte sich bei seiner Anwesenheit in der Rotunde im Zentrum fühlen. 646 Die Rotunde erhielt im Entwurf letztlich auch die dominante Position. Der dahinterliegende Baublock sollte nur einen würdigen Hintergrund darstellen. Ein anderer Aspekt, der eine wichtige Rolle für die Bauaufgabe des Bürobaus spielte, war die Monumentalität. Monumentalität wurde besonders bei großformatigen Bauwerken, hinter denen große Auftraggeber stehen, verfolgt. Am Ziekenfondsgebouw in Alkmaar wurde sichtbar, wie die städtbauliche Ecklage genutzt wurde, um mittels einer geschlossenen hochaufragenden Backsteinfront eine monumentale Wirkung zu erzeugen. Trotz seiner vergleichsweise geringen Ausmaße, verglichen mit den anderen Bürobauten Berghoefs, bietet dieses Bauwerk seinem Umfeld sprichwörtlich die Stirn. Die Bürobauten Berghoefs besitzen durch ihre Formgebung den Charakter einer differenzierten Architektur in einem unneutralen Stadtbild, d. h. der städtebauliche Kontext spielt eine tragende Rolle in der Charakterformung der Architektur. Der reduzierte und sachliche Gebrauch des Ornaments dient dabei der ästhetischen Aufwertung des Bauwerks und seiner Wirkung. Die Anwendung traditioneller, d. h. überlieferter Hilfmittel wie Geometrie, Harmonie, Symmetrie, klare Verhältnisse und Maßstab wurden von Berghoef auch beim Bürobau bewusst gehandhabt. In diesem Kontext ist auch die Monumentalkunst von Jan Goeting am A.N.W.B. Gebäude in Den Haag zu sehen. Für der geschlossenen Backsteinfassade der nordöstlichen Stirnseite des Hauptblocks fertigte Goeting 1960 zwei Monumentalmosaike aus glasiertem Backstein. Während das kleinere Mosaik mit der Darstellung eines stilisierten Kompasses, Sonne, Mond, Vogel und Fisch auf das Reisen Bezug nimmt, spielt das größere Mosaik (9x4 Meter) mit den verarbeiteten Motiven (Hand, Schraubschlüssel, Rad u.a.) auf die Dienstleistung des A.N.W.B. an. Auf dem Dach des Gebäudes krönt das von dem Künstler H. J. Etienne gefertigte goldene Emblem des A.N.W.B. Diese künstlerische Ausstattung 644 Berghoef 1961, Bt Siehe hierzu die Erläuterung von Berghoef & Klarenbeek in Binnenband in BERX s Berghoef 1961, Bt

245 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe unterstützte demnach genauso wie bereits beim Kirchen- und Rathausbau, die Expression der Funktion der Architektur. Eine vergleichbare und im Grunde viel klassischere Handhabung ästhetischer Formgebung findet sich an dem nicht weit entfernt gelegenen Shell-Gebäude von J. J.P. Oud am Wassenaarseweg 80 in Den Haag ( ) (Abb. 151; Abb. 152). 647 Das Shell-Gebäude, ein Bürobau für die Bataafsche Import Maatschappij (BIM), offenbart sich in seinem Grundaufbau als rechteckiger, langgestreckter Baukörper mit einem zu zwei Seiten hervorspringenden Mitteltrakt, der die beiden Flügel symmetrisch miteinander verbindet. Da der Mitteltrakt als Risalit sowohl an der Vorder- auch als an der Rückseite hervortritt, wird der symmetrische Aufbau des Baukörper stark betont. Zur Gartenseite hin schließt sich darüber hinaus an den Risalit ein flacher Anbau an, der in einer Rotunde endet. 648 An den Stirnseiten des LAngbaus treten die Treppenhausanlagen als Halbrund hervor. Über einem niedrig gehaltenen Erdgeschoß aus Naturstein erhebt sich der backsteinerne Bau über fünf Stockwerke und schließt mit einem kleinen Mezzaningeschoß ab. An der Front schließt der Mittelrisalit schließlich mit einem überdachten Balkon ab. 649 Abb. 151 J. J.P. Oud. Entwurf für das Shell-Gebäude in Den Haag, (Februar 1939). 647 Stamm 1984; Taverne und Broekhuizen 1995; Kuipers Eine detaillierte Beschreibung und Analyse dieses Bauwerks und seiner Rezeption liefern Taverne und Broekhuizen Die verzierten Stützen des Dachaufbaus haben sich zu einem häufig publizierten Fotomotiv dieses Bauwerks entwickelt. 243

246 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Abb. 152 J. J.P. Oud, Shell-Gebäude (BIM) in Den Haag (1948), historische Ansicht. Günther Stamm ordnet das Shell-Gebäude in das Spätwerk des Architekten Oud ein und betitelt diesen Abschnitt mitunter als Zweifel und Synthese Klassizistische Tendenzen und ornamentale Ausbrüche. 650 Die Phase ab 1937 wird häufig als Krise in Ouds Schaffen bezeichnet. In der stilistischen Einordnung lautet die Bewertung von Ouds Bürobau bei Stamm deshalb wie folgt: die überwältigende Monumentalität der Fassade erinnert an das Werk von Peter Behrens und reflektiert die internationale Tendenz der dreißiger Jahre zu einer Architektur mit klassizistischen Zügen. 651 Eindeutig ist es hier die Architekturhistoriografie, die der Anwendung von Ornament und Dekor in der Formgebung einen `unmodernen Charakter zusprechen möchte. Die spätere ausführliche Analyse des Shell-Gebäudes von Ed Taverne und Dolf Broekhuizen konnte diese Bild jedoch widerlegen. 652 Unter Anwendung traditioneller, klassischer Entwurfsprinzipien (Geometrie, Proportion und Symmetrie) und eine für ihn `untypische Anwendung von Ornamenten entwarf Oud für die Shell-Gesellschaft einen Verwaltungsbau, der durch seine Formensprache eine psychologische Ladung besitzt. 653 Oud zufolge wurde der Baukörper dadurch in der Formensprache allgemein verständlicher. Doch füge das Ornament (in diesem Fall das wiederkehrende Motiv einer Muschel) dem Bau nichts hinzu, sondern fördere nur die ästhetische Bedeutung. 654 Es handelt sich hierbei um eine Anschauung, die Oud selbst unter dem Begriff der `kompletten Architektur (complete architectuur) zusammenfasst. 655 Architektonischer Dekor in der Form des Ornaments und die Materialwahl (Backstein, Sandstein, Naturstein, Beton) sollten den Bau in seiner Ausdrucksform berreichern. Denn der Auftraggeber wünschte ein Bauwerk, das als Reklame des Betriebs funktionierte. Oud verfolgte somit eine architektonische kommerzielle Präsentation, die er in der Anwendung des 650 Stamm 1984, 121f. 651 Ungewöhnlich für die Moderne Ouds ist die Einführung von Zierelementen über dem Haupteingang, am rückwärtigen Mittelrisalit, sowie auf der Dachterrasse. Siehe Stamm 1984, Taverne und Broekhuizen 1995; Taverne et al Der Entwurf Ouds wurde in den Fachkreisen und besonders unter den Modernisten heftig diskutiert und erntete teilweise heftige Kritik. Schon allein die großflächige Verarbeitung von Backstein und Naturstein war Grundlage mancher Kritik. Siehe hierzu ausführlicher Taverne und Broekhuizen 1995, Siehe Beitrag von Ed Taverne, `Towards an open aesthetics. Ambities in de Nederlandse architectuur , in: Leupen et al. 1990, 28ff. 655 Oud 1960,

247 Kapitel 6 Eine technische Herausforderung Der Bürobau als `neue Bauaufgabe Ornaments (die Muschel als Warenzeichen) fand. 656 Oud experimentierte bei diesem Bauprojekt mit der erneuten Zusammenführung von Bildender Kunst und Architektur; und auch die geschlossene, gemauerte Wand als raumabschließendes Element wird hier wieder eingeführt. Überdies vertraten beide Architekten unumstößlich die Idee des kulturellen Werts von Architektur für die kontemporäre Gesellschaft und differenzierten zwischen Profanarchitektur und Repräsentationsarchitektur. Dies sollte der Architektur ihre soziale Bedeutung nicht absprechen, wie sie als Leitmotiv des Modernismus formuliert wurde, doch behielt Architektur ihre Bedeutung als (Bau-)Kunst. 657 An diesen Aspekten lässt sich Feststellen, dass die Auffassungen über die formalen Ausdrucksmöglichkeiten und das Repertoire an architektonischen Hilfsmitteln bei Oud und Berghoef nicht so weit auseinandergehen. Bildende Kunst und Architektur gehen Hand in Hand und ergänzen sich, um dem Bauwerk seine `Bedeutung zu verleihen. Ob Berghoef, der, wie bereits erläutert, schon in jungen Jahren sehr von Ouds Architektur angetan war, sich von dem Aufbau des Shell-Gebäudes (langer Hauptbau mit angeschlossener Rotunde, wellenförmiges Dachgeschoß) hat inspirieren lassen, muss unbeantwortet bleiben, da hierzu keinerlei Hinweise bekannt sind. Eine Inspiration lässt sich selbstverständlich nie gänzlich ausschließen. 658 Immerhin hat das A.N.W.B. Gebäude seine verdiente Berücksichtigung als architektonische und ingenieurstechnische Leistung der Nachkriegszeit in der Architekturhistoriografie erhalten. Gemeinsam mit dem Rathaus von Hengelo hat das A.N.W.B. Aufnahme gefunden in Marieke Kuipers Toonbeelden van de Wederopbouw (2002). Es wird folglich in der architekturhistoriografischen Literatur wahrgenommen als Musterbeispiel der niederländischen Nachkriegsarchitektur. Durch die innovative, experimentierfreudige Haltung des Architekten Berghoef gegenüber neuer Bautechnik und dessen lösungsgerichteten Arbeitsweise ist dieses Bauwerk trotz widriger Umstände der Bauproduktion der Nachkriegszeit zustande gekommen. Es handelt sich um ein Bauwerk, das eine Antwort bot auf den Bauauftrag und die zeitgenössischen Möglichkeiten der Bauproduktion. 656 Taverne und Broekhuizen 1995, Ouds Sichtweise wird erläutert durch Taverne und Broekhuizen 1995, 147; Für Berghoefs Standpunkte siehe Berghoef 1980; Berghoef Das Konzept der Zusammenführung von Langbau und Rundbau ist überdies kein unbekanntes, wie bei dem Entwurf für die Amsterdamer Rathauspreisfrage ( ) von dem Architektenduo J. F. und A. Staal (Motto ANAFKH) zu sehen. 245

248 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Zo is het huis er voor het gezin: het interieur weerspiegelt de aard en de gewoonten van de bewoners, het exterieur duidt de plaats van het gezin in maatschappelijk verband aan. Berghoef, Wir bauen, um ein Dach über unserem Kopf zu haben, lautete ein Statement anlässlich der millionsten Wohnung, die nach dem zweiten Weltkrieg in den Niederlanden fertiggestellt wurde. 660 Das Wohnen ist eines der Grundbedürfnisse des Menschen und stellt damit die Basis des Bauens an sich dar. Der Ort des Wohnens reflektiert die Anforderungen und Handlungen, die in der Wohnung stattfinden. Dabei umfasst der Wohnungsbau alle Gebäude mit einer Wohnfunktion, wobei es zwischen dem Volkswohnungsbau und dem Wohnungsbau für die Mittelklasse und Oberschicht zu differenzieren gilt. Während die grundlegenden Funktionen des Wohnens, d. h. Schlafen, Essen, Schutz vor der Witterung, Privatsphäre, Ruheort und in der Regel gemeinschaftlicher Aufenthaltsort der Familie, seit jeher unverändert geblieben sind, unterliegt die Form des Wohnens den finanziellen und materiellen Mitteln des Bewohners und der gängigen Bauweise seiner Zeit. 661 Für den Volkswohnungsbau galten in der Zwischen- und Nachkriegszeit andere Maßstäbe als dem privaten Wohnungsbau. Bis 1940 war der Aufbau von regulären Wohnungsbauten im allgemein recht einfach: tragende Backsteinmauer, Holzböden und hölzerner Dachstuhl mit einem Satteldach aus Dachpfannen. Die Qualität und die Kosten waren besonders im Volkswohnungsbau eng miteinander verknüpft, da die technischen und finanziellen Möglichkeiten die Ausführung in großem Maße beeinflussten. 662 Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert waren die Wohnumstände der Arbeiterklasse in den Niederlanden äußerst schlecht. 663 Lange Zeit wurden seitens der Obrigkeit keine Maßnahmen getroffen, um an den hygienischen Zuständen im städtischen Milieu etwas zu ändern. Erst aufgrund des öffentlichen Drucks wurde am 19. April 1901 durch die Zweite Kammer des Parlaments das erste Wohnungsbaugesetz in den Niederlanden verabschiedet. Dieses umfasste eine verpflichtende Regelung zur Sicherung der Bauverordnung, womit Gemeinden die Vorschriften für den Wohnungsbau festlegten. Ferner sollten hiermit städtische Ausbreitungspläne einer besseren Kontrolle unterliegen. Die umfassende Umsetzung ließ aber noch lange auf sich warten und erreichte teilweise erst mit dem Wiederaufbau eine Verwirklichung im großformatigen Massenwohnungsbau und der damit einhergehenden Anlegung von neuen Randvierteln und Stadtteilen. In der Diskussion um Moderne und Tradition in der Architekturtheorie und Baupraxis zeigen sich `Wohnen und `Stadt als eng miteinander verknüpfte Themen, die sich die CIAM 659 Berghoef 1947, Wij bouwen 1962, Zur allgemeinen Geschichte des Wohnens und des Wohnungsbaus in den Niederlanden siehe: Bouwen 1946; M. J. I. de Jonge van Ellemeet, in: Korevaar 1955; Hendriks 1969; Grinberg 1977; De Boer 1987; Berg und Egmond 2004; Bosma et al. 2007, Vgl. hierzu Oosterhoff 1990, Van der Woud

249 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau bzw. die so genannten Modernisten schnell zu Eigen machten. 664 Die Aktualität dieser Themen verhalf der Eigenkreation eines positiven Images mit internationalem Anspruch. Die Ideen des modernen Bauens ließen sich ihnen zufolge in der Erneuerung und Aktualisierung des Wohnens (z. B. Wohnung für das Existenzminimum, 2. CIAM Kongress Frankfurt 1929) und der Ergreifung städtebaulicher Maßnahmen zur Verbesserung der Gesellschaft (Die funktionale Stadt, 4. CIAM Kongress Athen 1933) verwirklichen. Doch erweist sich der CIAM-Anteil im Vergleich zu den Aktivitäten der so genannten Traditionalisten in der tatsächlichen Ausführung als äußerst klein. Modellsiedlungen wie J. J.P. Ouds Siedlungen Hoek van Holland (1927), De Kiefhoek in Rotterdam (1929) oder die Weißenhofsiedlung in Stuttgart (1927), haben wenig großmaßstäbliche Nachfolger zu verzeichnen. Dabei umfasste der volkswoningbouw eine Vielzahl an Bauaufträgen durch Gemeinden und Wohnungsbaugenossenschaften. Zu den gängigen zu entwerfenden Haustypen gehörten das zweigeschossige Reihenhaus, mehrgeschossige Häuserzeilen und der städtische Wohnblock. Berghoefs Aktivität ist bei allen Bauaufträgen vertreten. Die in diesem Kapitel auch zur Sprache kommende Ausbreitung Amsterdams, bekannt unter der Bezeichnung AUP = Amsterdam Uitbreidingsplan ist ein bedeutendes Beispiel der Ideen der CIAM. 665 Berghoef lieferte in dieser Stadterweiterung Amsterdams einen wesentlichen Beitrag in der Ausführung dieser städtebaulichen Maßnahmen der so genannten Modernisten. Eine Reflexion der Entwicklung und der Auswirkungen der Maßnahmen der CIAM zeigt sich schließlich in der Ausstellung De stede. Herstel van onze leefruimte von 1980, begleitet von einem gleichnamigen Katalog, in dem Berghoef mit anderen Architekten/Autoren diverse Standpunkte verdeutlichte (Abb. 153). 666 Es zeigt sich hierin der kritische Blick auf die Prinzipien des modernen Städtebaus der CIAM und die Ernüchterung, die sich mit den teilweise in der Praxis gescheiterten Plänen der Modernisten vollzogen hatte. In der Retrospektive der 1980er sah man viele Entwicklungen aus einem gänzlich anderen Blickwinkel, wie der polemische Standpunkt Berghoefs uns verdeutlichen wird. Die Ideen der Erneuerung gingen überdies gepaart mit der Auffassung, dass der Gebrauch neuer Baumaterialien und die Stimulierung neuer, industrieller Bautechniken das Bauen auf ein verbessertes Niveau heben würde. Die Einführung neuer Baumaterialien in den Wohnungsbau führte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einigen Experimenten, die stetiger Verbesserung unterliefen. Grundsätzlich wurden Eisenkonstruktionen beschränkt eingesetzt. Doch hinsichtlich der Geräuschisolation und Brandsicherheit sollten die traditionellen Holzböden ersetzt werden durch andere Materialien. Der Stahlbeton erhielt somit ab 1920 seinen Einzug in die Produktion des Wohnungsbaus. 667 Eines der frühen Beispiele ist neben dem Betondorp in Amsterdam (1925) der neungeschossige Wohnungsbau, genannt Bergpolderflat, von Van Tijen in Rotterdam von Beton eignete sich hinsichtlich seiner Verwendung als Mauer und Boden- bzw. Deckenelement besser für den Wohnungsbau und wurde besonders in Zeiten hoher Backsteinpreise vorgezogen. Ab dem Ersten Weltkrieg wird Beton in Folge der Präfabrikation und verbesserten Gusstechniken zum gängigen Baumaterial 664 Siehe hierzu stellvertretend folgende Literatur: Bremer und Reedijk 1972, Van der Woud 1983, Somer Vgl. S. 282ff 666 Berghoef 1980a. 667 Zur Entwicklung des Beton im Wohnungsbau siehe ausführlicher Kuipers

250 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau im großformatigen Wohnungsbau. Doch im Flachbau (drei bis vier Etagen) wurde der Beton mittels Verkleidung noch lange dem Auge entzogen. 668 In derselben Zeit kam es erst zu einer technischen Explosion, dann zu einer Bevölkerungsexplosion, verursacht durch eine geringere Kindersterblichkeit und Erhöhung des durchschnittlichen Lebensalters. Da die Bauproduktion im Wohnungsbausektor seit den Krisenjahren der 1930er Jahre immer noch im Rückstand war, wurde außerordentlich schnell gebaut. Hierdurch wurden die Präfabrikation und die Industrialisierung des Bauens merklich gefördert. Die technische Ausstattung eines Hauses (Zentralheizung, Elektrik, Sanitäranlagen, Gas, Wasser, Telefon, TV, Fahrstuhl, thermische und akustische Isolation) machten ein einfaches Haus innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem technischen Gesamtapparat. 669 In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden neue Ansprüche an die Ausstattung einer Wohnung gestellt. Trotz der eigentlichen, primären Forderung nach Obdach, wurde in der industriellen Bauproduktion der Nachkriegszeit das Augenmerk auf neuen Wohnkomfort gelegt. 670 Neue, moderne Auffassungen hatten einen starken Einfluss auf die neuen Wohnideale. Neben der industriellen Formgebung und der Anwendung neuer Baumaterialien, ging es um Kontinuität des Raumes und Offenheit im Wohnungsbau, einfache Linienführung, Neudimensionierung bzw. Erweiterung des Maßstabs in Wohnvierteln sowie ein Streben nach Gleichheit und der Einschränkung von Individualismus und Bürgerlichkeit. 671 Die folgende exemplarische Betrachtung des niederländischen Wohnungsbaus des 20. Jahrhunderts folgt chronologisch der Tätigkeit Berghoefs in diesem Bereich der Baukunst. Beginnend mit kleinen Aufträgen in ländlichen bzw. dörflichen Gebieten erweitert sich dessen Entwurfsspektrum ab den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf den Wohnungsbau im großstädtischen Kontext. Die zunehmende Wohnungsnot erforderte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Herangehensweisen hinsichtlich kostengünstigem und zeitsparendem Bauen. Dabei hatten sowohl die sich verändernden Anforderungen an das Wohnen als auch die gegebenen Umstände für die Bauproduktion in der Vor- und Nachkriegszeit einen großen Einfluss auf die Entwurfspraxis des Architekten. Berghoef stellte sich hierbei den Fragen nach Kontinuität und Erneuerung, insbesondere hinsichtlich Material und Bautechnik, sowie der Bedeutung des Wohnungsbau in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht. 668 Siehe hierzu u.a. Oosterhoff 1990; Richards 1961, 47; Vriend 1951, Berghoef 1980b, An dieser Stelle kann auf Le Corbusiers Idee der Wohnmaschine und Ouds Idee des Wohn-Ford verwiesen werden. Siehe Le Corbusiers Modell zur Unité d`habitation und J. J.P. Oud, Ein städtische Siedlung, in: Baumeister 1930(11), Siehe hierzu ausführlicher Jonge

251 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb Plakat zur Ausstellung De Stede. Herstel van onze leefruimte, 1978 in Veere. Das Bild zeigt den im modernen Wohnungsbereich angewendeten Blockbau sowie einen historischen, runden Stadtkern. 249

252 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Von Stillosigkeit und ländlicher Baukunst "De kracht der oude landelijke bouwkunst ligt hierin, dat zij steeds tot de grondvormen keerde en ze zonder noodelooze toevoegsels aanwendde." Berghoef, Auf dem Land und in den Dörfern liegt die Basis der Volkskultur, schrieb Berghoef im Jahr Das Land sei für die Stadt immer der materielle und geistige Nahrungsboden gewesen, auf dem die Stadtkultur wachsen und gedeihen konnte. Alle Kultur sei eine `Vervollkommnung des natürlich Gegebenen, so dass der ländliche Betrieb eigentlich die erste Kulturphase vergegenwärtige. 674 Die Städte hingegen seien die Blumen der Kultur. Und wie jede Pflanze bedürfe eine Blume eines guten Nährbodens. 675 Im Gegensatz zur Stadtarchitektur war auf dem Land selten eine Stilveränderung zu spüren, denn das Leben auf dem Land sei immer einfach gewesen. Die ländliche Baukunst sei daher eine bescheidene Kunst, denn sie umrahme das einfache Leben, das auf dem Land geführt werde. Die Einfachheit in der Form führe aber nicht zu einer Erstarrung. Berghoef konstatierte gerade für die ländliche Baukunst ein großes Anpassungsvermögen und eine Fähigkeit zur Erneuerung. Doch sei es zum damaligen Zeitpunkt (1930er) um die Baukunst in den Niederlanden schlecht gestellt, denn der Löwenanteil der Bautätigkeit läge in den Händen von Unbefugten, die charakterlose Bauten schufen die die Städte und Dörfer überwuchern würden. 676 Gemeint ist hiermit vermutlich der von landwirtschaftlichen Baubetrieben ausgeführte Bau, ohne Einbringung eines Architekten. Nirgend sei die Ohnmacht, um gesund und mit sinnvollen Formen zu bauen, so deutlich wie auf dem Land. Früher habe man auf dem Land arglos gebaut, so dass eine Architektur entstanden sei, die bei aller Einfachheit mit `handwerklicher Reinheit und `charakteristischen Formen versehen war. Sie [die Architektur] war organisch wie die Natur selbst und wuchs vortrefflich mit ihr zusammen, zu einem Teil der Landschaft. 677 Doch in den 1930er Jahren tasteten der Neubau und die unkontrollierte Ausbreitung der Städte die Landschaft an wie eine Krankheit, störten die Ordnung und verwüsteten die Schönheit. Nach Ansicht Berghoefs ging die neue `Stillosigkeit der ländlichen Architektur Hand in Hand mit dem Verlust der `eigenen Art und Kultur. 678 In diesem Prozess lag nach Meinung Berghoefs die Ursache für den Verfall der Baukunst seiner Zeit. Das vorangehende Zitat verdeutlicht Berghoefs Ansicht, dass es bei der ländlichen Baukunst, um eine zeitlose, universelle Bauweise handelt, die immer wieder zu den Grundformen des Bauens zurückkehrt. Als Einleitung zu seinem Artikel über die ländliche Baukunst von 1934 zitierte Berghoef bemerkenswerter Weise Frank Lloyd Wright mit dessen Worten über die wahre organische Baukunst. 679 Diese sei bei unbedeutenden, bescheidenen 672 Vgl. Berghoef 1934, Vgl. Berghoef 1934, Berghoef 1940, Vgl. Berghoef 1940, Vgl. Berghoef 1934, Übersetzung JM: Originalzitat: "Eens bouwde men buiten argeloosweg en er ontstond een architectuur, die bij allen eenvoud den adel der ambachtelijke zuiverheid en karakteristieke vormen meekreeg. Zij was organisch als de natuur zelf en groeide er wonderwel mee samen, tot deel van 't landschap. Berghoef 1934, Übersetzung JM: Originalzitat: "De stijlloosheid der huidige plattelandsarchitectuur gaat samen met het verlies van eigen aard en cultuur, een proces dat op het platteland bezig is zich te voltrekken. Berghoef 1934, Vgl. Berghoef 1934,

253 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Gebäude zu finden und stände im gleichen Verhältnis zur Architektur wie die Sagen zur Literatur und die Volklieder zur Musik, d. h. sie stellt den Ursprung jeglicher weiteren architektonischen Entwicklung dar. Die oben genannten Zitate Berghoefs schließen nahtlos an Wrights Sichtweise zur ländlichen, organischen Baukunst an. In diesem Sinne betrachtete auch Berghoef die ländliche Baukunst als eine `bescheidene Kunst, da es sich hierbei in erste Linie um eine Erfüllung der materiellen und praktischen Anforderungen handle. Die Stärke der ländlichen Baukunst liege in ihrer `Naturverbundenheit, denn Ursprung und Zweck seien von und für die Natur. Die Baustoffe entstammen dem lokalen Boden und lassen das Material zu seinem Recht kommen, die Struktur sei Zweckgebunden und die Form sei unpersönlich. Darüber hinaus sei diese Baukunst allgemein in ihrer Erscheinung und Gültigkeit und aufgrund bewährter Überlieferung traditionell. 680 Im Rahmen dieser kritischen Einschätzung zur Situation und Bedeutung der ländlichen Baukunst in den dreißiger Jahren entwarf Berghoef seine frühen Werke in Aalsmeer und dem Wieringermeerpolder. Wohnbauten in und um Aalsmeer der er Jahre Das erste Projekt, das wir im Berghoefarchiv antreffen, ist ein Doppelwohnhaus von 1925 für die Gebrüder Van Wijk. 681 Gefolgt wird dieses von diversen anderen Wohnbauten in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Berghoefs Aufträge in dieser ersten Periode seiner Tätigkeit als Architekt in Aalsmeer waren in erster Linie Wohnhäuser, ausgeführt als freistehende Einfamilienhäuser, Doppelhaushälften oder Wohnbauten mit anliegendem Laden, Werkstattraum oder ländlichem Kleinbetrieb. Dass seine frühen Arbeiten noch sehr von einer Formensprache geprägt ist, die unter dem Begriff der Amsterdamer Schule bekannt ist, zeigt der Entwurf für das Ladenwohnhaus De Jonge (1926) an der Zijdstraat in Aalsmeer (Abb. 154, Abb. 155). 682 Sowohl die Fassade als auch der Grundriss kennzeichnen sich durch eine geschichtete, z.t. verschachtelte Anordnung der Räume, Fenster und Türen. In der Überarbeitung des ersten Entwurfs erhielt die Fassade eine durchgängigere Linienführung durch einen durchlaufenden Dachrand und die wiederholte, gleichförmige Ausführung der Fenster und Zugangsgestaltung (Abb. 156). Eine vergleichbare Formgebung, besonders hinsichtlich des steilen Satteldaches zeigen die Entwürfe für die Wohnbauten am Uiterweg, Stommeerweg und Hortensialaan (Abb. 157, Abb. 158, Abb. 159, Abb. 160, Abb. 161). 683 Andere Wohnhäuser wie das Wohngebäude am Oosteinderweg 234 erhielten gegen Ende der 1920er von Berghoef eine Formgebung mit dezidiert zweigeschossiger Fassade und flacherem Satteldach. 684 Diese Wohnbauten folgen in der Regel dem Aufbau, dass im Erdgeschoß die Wohnräume inklusive Küche und WC und im Obergeschoß die Schlafräume vorgesehen sind. Die Wände und Böden sind in Backstein und Holz gefertigt, die Tür- und Fensterrahmen in dicker Holzrahmung von der unverzierten Backsteinfassade abgesetzt. Kennzeichnend für sein frühes Werk sind ebenfalls die Ladenwohnungen an der Ecke Hadleystraat-Hortensialaan von In Reihe gesetzt, aber doch durch eine abweichende 680 Berghoef 1940, Erwähnt unter der Dossiernummer BERX BERX BERX 6, 20, 31, BERX 50: Wohnhaus B. van den Bergh (Driessen), BERX

254 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Fassadenform und ein eigenes Satteldach individuell gestaltet, markieren diese Wohngebäude auch heute noch diese Straßenecke in Aalsmeer (Abb. 162). Berghoefs Manier um bei vielen seiner Wohngebäuden den Schornstein, hochgezogen in Backstein, an den Rand zu setzen und hoch über die Dachkante herausragen zu lassen, zeigt sich auch bei anderen Gebäude dieses Maßstabs, wie das Clubgebäude in Kudelstaart von 1938 und den Reihenwohnungen bei Ouderkerk an der Amstel (Abb. 163). 686 Ein Vergleich mit seinen Kollegen Eschauzier und Vegter zeigt, dass es sich hierbei um eine gangbare Formgebung der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts handelt (Abb. 164). Auf diese Art und Weise wurde zu dieser Zeit flächendeckend auf dem Land und in dörflichen Gebieten gebaut. Es handelt sich hierbei um eine allgemein akzeptierte und gewollte Bauweise, die von dem größten Teil der Architekten vertreten wurde. Gerade diese Wohnbauten Berghoefs und seiner Kollegen spiegeln die zeitgenössische Baupraxis wider, die allen Anforderungen der Zeit, der Auftraggeber und der Endnutzer gerecht werden wollte und es auch konnte. Dass es sich bei dieser Bauweise des ländlichen Wohnhauses um die aktuelle, moderne Baukunst handelt, zeigt auch das Übersichtswerk Het moderne landhuis in Nederland (1916) von J.H.W. Leliman. 687 In diesem Bildatlas, der als Standardwerk und Inspirationsquelle für die damalige Architekturpraxis fundierte, zeigen sich neben Bauwerken eines historisierenden Eklektizismus (Cuypers) und einer abstrakten Sachlichkeit (Oud) der Großteil einer so genannten `Interbellum Architektur (d. h. der Zwischenkriegzeit), traditionell inspirierte Backsteinarchitektur. Diese kennzeichnete sich durch den betonten Kontrast von dunklem Backstein und hellen Rahmenelementen, Fensterläden und betonten, überhängenden Satteldächern. Ein weiteres Wohnhaus Berghoefs, das es inzwischen auch auf die Liste der Reichsmonumente geschafft hat, ist das Doppelwohnhaus am Stommeerweg für die Gebrüder W. und J. Maarse (Abb. 165, Abb. 166) erhielt Berghoef den Auftrag, erst 1935 wurde das dreigeschossige Wohnhaus errichtet. 688 Kennzeichnend für dieses Wohnhaus ein Paradebeispiel einer Blumenzüchterwohnung des zweiten Viertels des 20. Jahrhunderts ist die Hanglage hinter dem Deich und die horizontale Teilung der Fassade in einen in Backstein ausgeführten unteren Teil und mit Holz verkleideten oberen Teil. Sowohl im Grundriss als auch Aufriss kleine Ausnahme ist der Ausbau eines der Wohnzimmer an der Vorderseite ist das Haus symmetrisch entworfen. Die Fenstergrößen und deren Anordnung entsprechen der Notwendigkeit des gewünschten Lichteinfalls des dahinterliegenden Raumes; die Fassade spiegelt aber den inneren Aufbau. Dieses Wohngebäude vergegenwärtigt exemplarisch die Anwendung einer lokal und regional inspirierten Formensprache, ausgeführt in lokaltypischen Baumaterialien. Ein weiteres Deichwohnhaus, das Wohnhaus Kraan am Oosteinderweg in Aalsmeer (1936), erfuhr auch in der architekturhistoriografischen Literatur hinsichtlich des Aspektes von Schlichtheit (nl. Soberheid) in der niederländischen Moderne seinen Tribut. 689 So wird Berghoefs Wohnungbau im gleichen Kontext wie Rietvelds Wohnhaus Hillebrand in Utrecht (1935) genannt. Während Rietvelds Betonung im Entwurf Entwurf auf die funktionale 686 BERX 148, Die Ausgabe erfhr zwischen 1916 und 1922 dreimal eine Überarbeitung und Neuauflage. Leliman und Sluyterman BERX BERX

255 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Einteilung abzielt, nahm Berghoef die archtypischen Grundformen eines Wohnhauses als Ausgangspunkt. 690 Der gleiche Anspruch an Schlichtheit konnte somit zu verschiedenen Stilformen und Ausführungen kommen. Charakteristisch für die frühen Wohnbauten Berghoefs ist eine durchgängige Anwendung von Backstein, Naturstein und Holz als grundlegende Baumaterialien. Seine Wohnbauten in und um Aalsmeer sind in ihrer Form der umgebenden bestehenden Bebauung angepasst, meist zweigeschossig mit Satteldach ausgeführt. Die anfängliche Prägung durch eine expressionistische Formensprache der so genannten Amsterdamer Schule nimmt zugunsten einer intensiveren Rückführung auf traditionell inspirierte Grundformen eines ländlichen Wohnhauses ab. Das Satteldach wird zunehmend flacher. Der massive kantige Schornstein wird nur bei Teilen der Wohnhäuser prominent an die Firstecke gesetzt. Sowohl im rechteckigen Grundriss als auch Fassadenaufbau verfolgt Berghoef häufig einen symmetrischen Aufbau, die der zu Grunde liegenden Raumnutzung folgt. Neben diversen Wohnhäusern erhielt Berghoef in den 1920er und 1930er Jahren zahlreiche Aufträge für Garagen, Kesselhäuser, Scheunen und Gewächshäuser in Aalsmeer und dem nahegelegenen Kudelstaart. Hierdurch machte er sich lokal schnell einen Namen, mit der Folge, dass bis Ende der 1930er Jahre zahlreiche Aufträge dieser Art neben dem Entwerfen von Wohngebäuden folgen. Überdies wurde Berghoef auch für Umbauten und Erweiterungen immer wieder herangezogen. Doch baute Berghoef nicht nur Wohnhäuser für andere, sondern auch zwei für sich selbst. Diese verbildlichen auf beste Weise dessen Idealvorstellung eines Wohnhauses. Abb J. F. Berghoef. Erster Entwurf für ein Ladenwohnhaus (De Jonge), Zijdstraat in Aalsmeer, Colenbrander 1993,

256 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb J. F. Berghoef. Erster Entwurf für ein Wohnhaus (De Jonge), Zijdstraat in Aalsmeer, Grundriss (Erdgeschoß). Abb J. F. Berghoef. Perspektivzeichnung Ladenwohnung (De Jonge), Überarbeitung. 254

257 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 157 J. F. Berghoef. Aquarellzeichnung, beiliegend dem Projekt Huis Keessen, Uiterweg 207 in Aalsmeer, Abb. 158 J. F. Berghoef. Entwurf für ein Wohnhaus für W. L. Berghoef, Stommeerweg 46 in Aalsmeer,

258 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 159 J. F. Berghoef, Wohnhaus am Stommeerweg 46 in Aalsmeer, Foto Abb. 160 J. F. Berghoef. Entwurf Wohnhaus für J. P. Berghoef am Stommeerweg 48 in Aalsmeer, Ansicht und Grundriss Obergeschoß,

259 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 161 J. F. Berghoef. Entwurf für ein Doppelwohnhaus an der Hortensialaan in Aalsmeer, Abb. 162 J. F. Berghoef. Wohnladenhäuser an der Ecke Hadleystraat/Hortensialaan in Aalsmeer, 1931, Foto (Links im Bildrand noch die Wohnhäuser Hortensialaan 14-16). 257

260 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 163 J. F. Berghoef. Wohnungen für die N.V. Ned. Springstoffenfabrieken, Amsteldijk in Ouderkerk an der Amstel, Abb. 164 F.A. Eschauzier, Landhaus bei Vierhouten auf der Veluwe, 1939 (links). J. J.M. Vegter, Wohnhaus in Holten, 1933 (rechts). Abb. 165 J. F. Berghoef. Wohnhaus der Gebrüder Maarse am Stommeerweg 45/47 in Aalsmeer,

261 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 166 J. F. Berghoef. Grundriss, Wohnhaus der Gebrüder Maarse am Stommeerweg 45/47, Aalsmeer, Des Architekten eigene Wohnhäuser in Aalsmeer Wolle ein Architekt sich selbst ein Haus bauen, so müsse er erst den inneren Kampf zwischen Ideal und Wirklichkeit beilegen. Denn auch wenn er sich plötzlich frei von jeglichen Wünschen und Bauprogrammen Dritter wähnt, so sieht er sich einer Masse an Idealvorstellungen und Denkbildern gegenüber, die er über Jahre hinweg zugunsten eines Bauprogramms zurückstellen musste. Mit diesen einleitenden Gedanken beschreibt Berghoef sein erstes eigenes Wohnhaus, das er 1938 in Bouwkundig Weekblad Architectura vorstellt. 691 Im Frühjahr 1934 war Berghoef ein Baugrundstück am Deich am Stommeerweg, gegenüber des Westeindersees zum Kauf angeboten worden. Die Vorstellung auf dem ca. 250 m² großen Grundstück ein eigenes Wohnhaus zu errichten, behagte dem jungen Berghoef und seiner aus Zwolle stammenden Verlobten Jellie sehr, so dass im folgenden Jahr der Bau eines Wohnhauses mit Büro für den Architektenbetrieb in Angriff genommen wurde. Nach der Hochzeitsreise nach Dänemark im Sommer 1936 bezogen das Paar das neue Wohnhaus und der Bürobetrieb mit einer drei Mann starken Besetzung das Atelier. 692 Da das Wohnhaus auf einem Gelände mit starkem Gefälle von ca. fünf Metern direkt hinter einem Deich errichtet wurde, wurde die Wohnetage auf Höhe des Deiches im ersten Obergeschoß entworfen. Den Zugang vom Deich aus gewährt eine hölzerne Luftbrücke Abb. 167). Diese findet sich auch bei den benachbarten Wohnhäusern am Stommeerweg in Aalsmeer, die hinter dem Deich liegen. Während das erste Geschoß, die Bel Etage, die Wohnetage darstellt, befinden sich darüber die Schlafräume und im Untergeschoß die zum Garten ausgerichteten Atelierräume (Abb. 168). Der langrechteckige Grundriss, lotrecht zum Weg platziert, mag auf den ersten Blick aufgrund des schmalen Baugrundstückes zustande gekommen sein. Der Architekt selbst nennt noch weitere Gründe. Ein trotziger Block sei in einem weiten Land an seinem Platz, so Berghoef. Darum habe er das Haus aufgrund der unbeständigen Landschaft hochkant und gerade platziert. 693 Das Wohngebäude sollte eine sichtbare Vertikale in der Landschaft darstellen. Dem Wohnhaus ging keine ausgebreitete und abgesegnete Planung voran. Da die offiziellen Instanzen keine Beschwerden hatten, dass viele 691 Berghoef 1938, Leider musste der Betrieb aufgrund mangelnder Aufträge schon im Herbst die Arbeit still legen, so dass Berghoef sich zeitweise nur seiner Arbeit als Assistent in Delft widmete. BERX s174 (0577). 693 Berghoef 1938,

262 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Ausführungen erst im Bauprozess Form annahmen, gab es zu diesem Wohnhaus in seiner ersten Bauphase keine definitiven Baupläne. Diese wurden erst im Nachhinein angefertigt. 694 Im Inneren des Architektenwohnhauses ist die Balkendecke des Wohnzimmers kennzeichnend für Berghoefs eigenes Interieurdesign (Abb. 169). Inspirativ können hierfür Schmitthenners Wohnbauten der dreißiger Jahre gedient haben, wie das Wohnhaus Müller (1938) in Stuttgart. Auch hier findet sich eine vergleichbare offene Balkendecke, in selbsterklärender konstruktiver Form und ein offener Umgang mit den verwendeten Materialien, wie Berghoef es handhabte. Berghoef selbst bezeichnete diese Balkendecke jedoch als Schiffsdecke und spielt damit auf seine von Seefahrern (bzw. im eigentlichen Wortsinne von Schiffern) geprägte Blutlinie mütterlicherseits an. 695 Andere persönliche Details im ehemaligen Wohnhaus Berghoef sind die Ziegel mit römischen Figurenfries an einer Wand im oberen Teil des Treppenhauses (Abb. 170). Das Wohnhaus Berghoef erfuhr in den darauf folgenden Jahrzehnten zahlreiche Umbauten und Erweiterungen. Während 1959 das Wohnhaus mit einem Anbau erweitert wurde (Abb. 171), erfuhr das Untergeschoß 1971/77 eine Umnutzung für eine Arztpraxis. 696 In dieser Funktion als Arztwohnhaus mit anliegender Praxis dient das ehemalige Wohnhaus Berghoef heute noch, jedoch ohne den von Berghoef ursprünglich vorgestellten zusätzlichen Anbau. Das zweite Wohnhaus mit anliegendem Architekturbüro von Berghoef wurde 1948 aus zweierlei Gründen gebaut, wie Berghoef in einem Beitrag in Bouwkundig Weekblad von 1950 bei einer Beschreibung einer kleinen Reihe seiner aktuellen Arbeiten mitteilte. 697 Da sich sowohl der Architektenbetrieb als auch die Familie vergrößert hatte, konnte nicht mehr beides im ehemaligen Haus am Stommeerweg untergebracht werden. Überdies, so berichtet Berghoef benötigte sein Kompagnon zu diesem Zeitpunkt einen Wohnort mit seiner Familie. Mit dem Neubau am Zwarteweg 1, um einen Steinwurf vom ersten Wohnhaus entfernt, wurde diesem Problem Abhilfe geschaffen (Abb. 172). 698 Auch bezüglich dieses Wohnhauses könne man die lange Grundrissform begründen mit den Gegebenheiten des Baugrundstücks, so Berghoef Doch besaß er schon seit jeher die Vorliebe um Häuser zu bauen, die charakterisiert werden können mit Bezeichnungen wie das lange Haus, das schmale Haus, das breite Haus. 699 Die Bauform bestimmte bei Berghoef folglich den Charakter des Baus. Neben dem hohen Haus Dijksteen entstand demnach das lange Haus direkt nebenan. Zur Einsparung von Baumaterialien, wie Holz, wurden in diesem hohle Backsteinböden verbaut. Ferner wurden im Obergeschoß die Dachschrägen bzw. Decken mit einer dünnen Lage rotem Zedernholz verkleidet, das in der Folge nicht zu stark schrumpft. Unterhaltsfreundliche und kostengünstige Materialwahl spielten bei Berghoef eine wichtige Rolle. Dies ist auch in der Ausführung des Atelierbereichs abzulesen. Interpretiert als Arbeitsplatz im Sinne einer Werkstätte, und weniger als Büro, erhielt dieser eine äußerst einfache Ausführung. 694 BERX Der Artikel von Krüger spielt im Titel ebenfalls auf diesen Aspekt an.krüger 1983 Ferner beschreibt Berghoef in seinen Memoiren ein Gespräch mit Granpré Molière über die Formgebung seines Wohnzimmers, in der ebenfalls die Anspielung auf das Seethema zur Sprache kommt. BERX s BERX 133, 453 (Umbau 1961), s68 (diverse Dokumente zu Umbauten: 1951, 1953, 1958, 1960, , 1971, 1981), Siehe ferner BERX 20, 32, 133, 405, 453, 775, 786, s Berghoef Betreffende Archivstücke: BERX 253, 359/747, s Berghoef 1950,

263 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Nach seinem Umzug nach Middelburg 1971 bewohnte Berghoef schließlich ein historisches (frühneuzeitliches) Wohnhaus in der Spanjaardstraat 52 in Middelburg. Auch hier betätigte sich Berghoef, um den bestehenden Bau durch Umbauarbeiten an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. 700 Historische Bebauung galt für ihn nicht unantastbar, neue Bedürfnisse erforderten Anpassung des Baukörpers. Schlussendlich spiegeln die Wohnbauten Berghoefs dessen Baupraxis und Wertschätzung für historische Architektur wider. Neben der Erfüllung der wohntechnischen Anforderungen der Bewohner stand eine lokalorientierte Formgebung hinsichtlich Material und Erscheinung des Wohngebäudes zentral in Berghoefs Herangehensweise. Abb. 167 J. F. Berghoef. Erstes Wohnhaus Huize Dijksteen am Stommeerweg 131 in Aalsmeer, 1938, Foto Abb J. F. Berghoef. Erstes Wohnhaus am Stommeerweg 131 in Aalsmeer, Rückseite, Foto BERX s

264 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 169 Interieur (Wohnzimmer) Wohnhaus Berghoef am Stommeerweg 131 in Aalsmeer. Detail der `Schiffsbalkendecke. Foto Abb. 170 Interieur (Dachgeschoß) Wohnhaus Berghoef am Stommeerweg 131 in Aalsmeer. Auf die Wand angebrachhte römische Figurenreliefs. Foto Zustand

265 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 171 J. F. Berghoef. Entwurf zur Erweiterung des Wohnhauses Berghoef mittels Anbau, Abb. 172 J. F. Berghoef. Zweites Wohnhaus am Zwarteweg 1 in Aalsmeer, 1948, mit späterem Anbau links, Foto

266 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Wohnungsbau im Wieringermeerpolder Typologie und Serie Im Herbst 1933 kam es im neu angelegten Wieringermeerpolder, der viel öffentliches (internationales) Interesse geweckt hatte, zu einer Konfrontation, die laut Colenbrander als beispielhafte Illustration des in der Architekturhistoriografie etablierten Schismas konservativ versus progressiv gesehen werden kann. 701 Die Architekten Cornelis van Eesteren, Benjamin Merkelbach, Willem van Tijen und Leendert C. van der Vlugt, die als selbsternannte niederländische Delegation der CIAM die Anlegung und Bebauung des neuen Polders besichtigen wollten, trafen dort auf Granpré Molière, der seit 1927 als ästhetischer Ratgeber für das Polderprojekt Wieringermeer tätig war. 702 Während zum einen der `romantische Charakter in der Anlegung der Dörfer kritisiert wurde (von der Delegation in erster Linie als Beitrag bzw. Einfluss Granpré Molières gesehen), wurde die Ausführung des Polderprogramms hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Unterbauung gelobt. 703 Die diesem Großprojekt Zugrunde liegende wasserbauliche Leistung der großflächigen Trockenlegung wird im Folgenden außen vor gelassen. 704 Hier interessiert vorrangig die städtebauliche und architektonische Gestaltung. Der Polder erhielt eine Vierteilung mit drei Siedlungspunkten (Wieringerwerf, Slootdorp und Middenmeer), die an den Kreuzungen der Hauptverkehrsachsen lagen (Abb. 173). 705 Die Dörfer im Wieringermeer wurden dort situiert, wo sich Kanäle und Wege kreuzten. Die Kanäle verliefen entlang dem Dorf; im Zentrum wurde ein langgestreckter begrünter Raum projiziert, an dem sich in einer leichten Biegung die Durchfahrtsstraße orientiert (Abb. 174). 706 Der infrastrukturelle Aufbau der Dörfer und die Platzierung der Bewohner nach sozialem Status verzeichnet ein hierarchisches Raumverständnis des ausführenden Büros Granpré Molière, Verhagen & Kok. 707 Darüber hinaus sollten die Siedlungen sichtbare Zentren der ländlichen Gemeinschaft sein, doch sollten diese nach der Vorstellung Granpré Molières aus der Landschaft herauswachsen. 708 Um dies zu gewährleisten wurden den drei Auftragsgebern (Staat, Kirche und Privatunternehmern) strenge Normen und Richtlinien auferlegt, wie das Verbot von Mehrfamilienhäusern, Einschränkung in der Anwendung von Erkern und Glasflächen und der Forderung nach ungebrochenen Schrägdächern. Außerdem waren die Dörfer nicht begrenzt, sondern konnten sich bei zukünftigem Wachstum in die Landschaft ausbreiten. 709 Die Direktion des Wieringermeerpolders trat auf Empfehlung von Granpré Molière an den jungen Architekten Berghoef heran, um dieses Rahmenprogramm die ersten zwanzig Wohnungen in Slootdorp zu entwerfen. Resultat aus diesem und den Folgeaufträgen waren die für sein Werk kennzeichnenden `Flachlandhäuser (plattelandhuisjes) in verschiedenen 701 Vgl. Colenbrander 1993, 57 und Van Dissel 1991, Siehe ausführlicher Kuiper 1991, und die Beschreibung der Delegation Van Eesteren et al Van Eesteren et al. 1934, 5 inkl. Fußnote. Auch Van Embden äußerte sich positiv über die Anlegung und Bebauung des Wieringermeerpolders. Van Embden Zur Vertiefung in die Entstehung des Wieringemeerpolders empfehle ich Wording en opbouw van de Wieringermeer (Noordoostpolderwerken) Zwolle 1955, 449ff.; Andela 1981; Andela et al ; Woensel 1999, Siehe zur Vertiefung Granpré Molière und Ligtenberg 1933 und Granpré Molière Für eine ausführliche Studie siehe Wal Zur Vision Granpré Molières bei der Anlegung der Dörfer siehe die Ausführung von Bosma 1993, 230ff. 708 Granpré Molière 1933, 129, Vgl. Kuiper 1991, 83. Colenbrander betont den auch für damalige Maßstäbe sehr kennzeichnenden Mangel an Vertikalen in dieser neu angelegten Polderlandschaft. Colenbrander 1993,

267 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Ausführungen, die von Colenbrander als `anonyme, günstige plattelandarchitectuur bezeichnet werden. 710 Wir können hierbei zweifelsohne Colenbranders Sichtweise teilen, dass es sich bei diesen Wohnungsbauten und dem von Berghoef nachgestrebten Konzept um eine beinahe vergessene Variante der Wohnungen für das Existenzminimum handelt. 711 Besonders in der Architekturdiskussion der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts war die Bauaufgabe der Arbeiterwohnung dominant, sowohl in der Standardisierungstheorie als auch Baupraxis. 712 Die von Berghoef angewandte Standardisierung und Massenproduktion entsprach dabei den gleichen Ansprüchen, die sich die Vertreter des Nieuwe Bouwen auf die Fahne geschrieben hatten. Die Normwohnungen bzw. Typenwohnungen waren Entwürfe, die über einen konkreten Bauauftrag hinaus für eine Realisierung im größeren Umfang konzipiert waren. Grundrissoptimierung, Zeitersparnis in der Planung und ökonomische Ausführung waren die Leitbilder dieser Entwurfsweise. 713 Was diese Art des ländlichen Massenwohnungsbaus jedoch als `traditionell kennzeichnete, war die betont abstrakte Formgebung der lokalen ländlichen Architekturform, die sich auch in den in Serie hergestellten Agrarbetrieben und Hofanlagen zurückfindet. 714 Berghoef beteiligte sich schon früh beim Entwurf für die Wohnbebauung im Wieringermeerpolder. Seine ersten zwanzig Wohnungen in Slootdorp von 1930, entwarf er als Doppelhaushälften in Reihe (Wohnungstypen K und L) (Abb. 175, Abb. 178, Abb. 179). In zwei verschiedenen Serienausführungen besaßen die Wohnbauten eine Nutzfläche von 74 und 62 m² und waren zu Beginn eher als Reservewohnungen gedacht. Das eingeschränkte Budget hinsichtlich der Materialkosten sowie die Unerfahrenheit mit der Bodenbeschaffenheit des Polders führten zu einer äußerst leichten Bauweise in Backstein und Holz, die sich des Winters auch als nachteilig herausstellte. 715 Die Wohnungen besaßen in der Regel einen Wohnraum Küche und Halle im Erdgeschoß, mit einem meist externen Raum für die Toilette. Im Obergeschoß befanden sich drei bis vier kleine Schlafräume. Bei weiteren Experimenten mit diesen Serienhäusern wurden Wohnungen mit offener Wohnküche u.a. von Architekt Wieger Bruin entworfen (Typen O, P und Q), die mit um die 40 m² Grundfläche viel kleiner ausfielen. 716 Berghoef entwarf des Weiteren die Arbeiterwohnungen des Typs E und F mit etwa 50 m² (Abb. 176). Die gleichförmige, stets nach einem gleichen Muster strukturierte Fassadengestaltung dieser Wohnhaustypen wurde durch ihre aufgewertete Eingangsgestaltung (betonte Holzrahmung) positiver bewertet. 717 Die axialsymmetrischen Fassaden und die Symmetrie der Grundrisse bei den Doppelhaushälften erweist sich als Charakteristikum, die auch modernistische Architekten wie Oud anwendeten Colenbrander 1993, Colenbrander 1993, Vgl. auch Grinberg 1977, Siehe zu diesem Thema der Typenwohnung ebenfalls Engelberg-Dockal Siehe hierzu Van Eck 1933, 151ff. Zu den verschiedenen Bauserien der landwirtschaftlichen Betriebe der 1950er siehe ausführlicher: Bijhouwer Ausführlich erläutert bei Van Eck 1933, 143ff.; Woningbouw in de Wieringermeerpolder In BERX 309 (0037) finden sich Dokumente betreffend die Korrespondenz (u.a. zwischen Berghoef und Bruin) rund um den Neubau der Wohnungen im Wieringermeer Weitere Wohnbauten wurden von Hooykaas und Lockhorst aus Rotterdam für den Wieringermeerpolder entworfen. Sie alle wurden auf Empfehlung von Granpré Molière in Vertrag genommen. Bosma 1993, Van Eck 1933, Engelberg-Dockal 2006,

268 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Ein Vergleich der Wohnhäuser Berghoefs mit den zeitgleichen Ausführungen der Bautypen A, B und C durch das Baubüro De Wieringermeer (Abb. 177) zeigt sowohl im Grundriss auch als Aufriss die abstraktere und strengere Entwurfshaltung, die Berghoef schon in den 1930er Jahren praktizierte. 719 Während die frühen Entwürfe Berghoefs zum Wohnungsbau in Aalsmeer sich in der Formgebung noch durch einen Historismus bzw. Formgebung der so genannten Amsterdamer Schule kennzeichnen, sind seine Wohnbauten der 1930er Jahre für die Poldersiedlungen fern jeglicher Komplexität. Im Zuge der Standardisierung im Entwurf entfallen an den Wohnhäusern die architektonischen Glieder, d. h. kleinteiligere Elemente, und zeigen sich uns diese als kubische Baukörper auf meist rechteckigem Grundriss. Fenster und Türen sind in der Regel gestaltet als eingeschnittene Öffnungen, während die Satteldächer nur durch die notwendigen stehende Dachfenster bzw. Fenstergauben durchbrochen werden. Das kleine Fensterformat, das Berghoef in diesen ländlichen Arbeiterwohnungen anwendet, hat seinen Ursprung in dessen Überzeugung, dass man auf dem Land nach einer deutlichen Trennung zwischen Draußen und Drinnen verlange. Nur ein Städter verlange nach großformatiger Aussicht bei schönem Wetter. 720 Die Reihenhäuser, die Berghoef u.a. in Middenmeer entwarf, sollten der ländlichen Bevölkerung als neuer Wohnort zur Verfügung gestellt werden, darum sprach man in diesem Kontext auch von Landarbeiterwohnungen (Abb. 180, Abb. 181). Gleichförmig reihen sich noch heute die Einfamilienhäuser aneinander. Durch die massiven abgeschnittenen Seitenenden erhalten die Baublöcke eine standfeste Wirkung. Mit kleinem Vorgarten und rückwärtigem Grundstück versehen, wurden hier in bestimmten Bereichen neue Wohnelemente standardisiert angewendet, wie z. B. Küchenräume die für den ländlichen Wohnungsbau einen sehr kleinen Grundriss besaßen. Hintergedanke war es, hierdurch den Fokus mehr auf den Wohnbereich (das Wohnzimmer) zu richten. Doch auch schon diese eher zurückhaltenden Versuche zur Anwendung neuer, moderner Wohnideen, scheiterten in Teilen an den Gewohnheiten der ländlichen Bevölkerung. Die Küchen- und Wohnsituation wurde häufig nicht im Sinne des Entwerfers genutzt. 721 Anfänglich zeigt sich in der ersten Ausführung der Wohnbebauung des Wieringermeerpolders, dass man ein traditionelle Formgebung mit niedriger Fassadenhöhe und steilem Satteldach bevorzugte, wobei die oberen Schlafräume alles andere als komfortabel und den Wohnansprüchen genügend waren. Bei dem Wiederaufbau der Wohnungen nach der Überflutung des Polders im April 1945 bekamen die Wohnhäuser ein weiteres vollständiges Wohngeschoß. 722 In der Nachkriegszeit setzt Berghoef die Art der reduzierten Formgebung bei weiteren Entwürfen für Landarbeiterwohnungen in Slootdorp und Middenmeer weiter fort (Abb. 182, Abb. 183). 723 Zu diesem Zeitpunkt wurde auch für diese Wohnbauten ein präfabriziertes on 719 Siehe für die Bauprojekte Berghoefs für den Wieringermeerpolder im Archiv Berghoef: BERX 81, Berghoef 1934, So waren die Landarbeiter es nicht gewohnt um so dicht beieinander zu wohnen, was zu einigen Nachbarschaftsstreitereien führte. Die Grundausstattung mit Elektrizität scheiterte anfänglich noch an dem Mangel an Glühlampen und trotz kleinem Grundriss wurde die Küche noch immer als Esszimmer verwendet. Vgl. hierzu Friedhoff 1934, 156; Van Eck 1933, 144ff; van Dissel 1991, Dies resultierte aus der Diskussion, die innerhalb der kerngroep woningbouw zwischen Berghoef, Van Tijen und Merkelbach stattgefunden hatte. Siehe auch Kuiper 1991, 83, mit dem Verweis auf Aussage Berghoefs. 723 Siehe Projekte BERX 239, 294 (Middenmeer) und 309 (Slootdorp). 266

269 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau site System verwendet, um die Wohnbauten schnell und kostengünstig zu errichten. Doch auf Wunsch von Berghoef sollten auch diese Wohnbauten mit einer Backsteinaußenmauer errichtet werden. 724 Die nachkriegszeitlichen Wohnungen zeichnen sich in vergleichbarer Weise wie ihre Vorgängerbauten in den Poldersiedlungen durch eine schlichte Formgebung aus (Abb. 184). Frontal entlang dem Straßenzug ausgerichtet, behalten die Wohnungen ihre Vorder- und Rückseite. Während der betont schwere Schornstein an den Dachrand gesetzt wurde, teilt ein viel höher angesetztes weißes Sockelband die Fassade in zwei horizontale Schichten. Auch finden die Fenster und Türöffnung eine deutlichere Absetzung in der Farb- und Formgebung. Auf kleinteilige Strukturen wie sonst übliche Oberfenster über den Türöffnungen wurde im Entwurf verzichtet. Die Grundrisse dieser Wohnbauten Berghoefs der vierziger und fünfziger Jahre folgen, unter einiger Verbesserung und Anpassung, ebenfalls bestimmten Formtypen. Die Typisierung findet sich auch in den Volkswohnungen in Aalsmeer wieder, wo Berghoef in den dreißiger bis fünfziger Jahren ebenfalls eine Reihe an Volkswohnungen entwarf (Abb. 185, Abb. 186, Abb. 187). Letztendlich stand Berghoef mit seiner Gestaltungweise von Landarbeiterwohnungen nicht allein. Die Ausführungen von den Architekten J.W.H.C. Pot in Slootdorp, Wieringerwerf und Monster, L.H.O. Buchta Roos und A.C. Gathier in Driewegen, sowie Johannes M. Groenwegen in Breskens zeigen vergleichbare Wohngebäude, die nur in Details hinsichtlich Raumanordnung und Fassadengestaltung von denen Berghoefs abweichen. 725 Ferner drängt sich ein Vergleich zu der deutschen Baukunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts beinahe auf. Neben Schmitthenner hatte, wie bereits in Teil 1 erwähnt, auch Heinrich Tessenow eine inspirative Wirkung auf Berghoef gehabt (Abb. 188). Die Wohnbauten in Middenmeer, insbesondere die nach 1945 erinnern an die Reihenhäuser Tessenows Am Schänkenberg (Nr. 1-15) in Hellerau von 1910 (Abb. 189). In vergleichbarer Weise findet sich hier die Reduzierung einer traditionellen Formensprache auf die Grundelemente eines ländlichen Wohnhauses mit einfachem Grundriss, lokalem Backsteinmauerwerk, Satteldach, Erker, Fenster- und Türöffnungen. Noch größer ist die Ähnlichkeit bei den Entwürfen für dreißig Reihenhäuser, die Berghoef und Klarenbeek 1948 in Alphen aan den Rhijn (Abb. 190) entwarfen. Hier zeigt sich ein vergleichbarer Aufbau der Fassade hinsichtlich Anordnung der Türen und Fenster. Die Besprechung Helleraus durch den Architekturkritiker Erich Haenel von 1911 schrieb dem Werk Tessenows einen puritanischen Charakter und einen äußersten Grad an Einfachheit zu. 726 Die Wohnhausentwürfe im Wieringermeerpolder haben gezeigt, dass dieser Grad der Vereinfachung noch verstärkt werden konnte. Dabei dienten die regionalen holländischen Haustypen sowohl den Arbeiterhäusern als auch Privatwohnhäusern als Vorbild. Schlussendlich war die Anlegung des Wieringermeerpolders ein Großprojekt, in dem verschiedene Aspekte der modernen Landschaftsgestaltung, des Städtebaus und der Architektur miteinander kombiniert angewendet wurden. Dabei musste Berghoef im Kontext einer kostengünstigen Standardisierung mit seinen Wohnhausentwürfen eine Antwort bieten auf die Grundbedürfnisse der zukünftigen Bewohner dieser Region. Eine Aufgabe, die wie Colenbrander es formuliert, `der typische moderne Inhalt des Werks eines Architekten der 724 Siehe hierzu auch die Korrespondenz in BERX 309 (0037) an den Betrieb W. Thunissen, Abbildungen hierzu siehe Anonym Haenel 1911,

270 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau damaligen Zeit, war. 727 Dabei verfolgte Berghoef bezüglich der Formgebung des Kleinhausbaus einen vereinfachten Regionalismus. Die von der Stilkritik der Moderne propagierten Kennzeichen von Abstraktion, Einfachheit, Schmucklosigkeit und Reduzierung des Bauvolumens auf kubische, geometrische Grundelemente treffen hier an vielen Stellen zu. Doch geschieht dies nicht durch eine Tabula Rasa-Haltung und einer Negation der Tradition, sondern gerade durch eine Verarbeitung tradierter Bauweisen. An dieser Stelle kommen wir zurück auf die Bedeutung, die Berghoef der Arbeit des ländlichen Architekten (`plattelandsarchitect ) zuschreibt. 728 Die Tradition ist in diesem Kontext der maßgebende und inspirative Faktor beim Entwerfen ländlicher Baukunst. Ein Architekt müsse sich von dem Ideal städtischer Architektur lösen und seinen Entwurf dem gegebenen Ort entlehnen. Die Bauform müsse mit dem gesellschaftlichen Status des Bewohners korrespondieren, wie uns eingangs Berghoefs Zitat lehrt. 729 Zusätzlich müsse die ländliche Architektur rationell und deutlich in Aufbau und Form sein und ästhetisch dem Ausdruck der Wahrheit dienen. Dann können die Bauten eines Architekten in ihrer bescheidenen Art einen sinnvollen Beitrag zur organischen Kultur liefern. 730 Laut Colenbrander sei insbesondere durch die Einbringung von Berghoef das nüchterne, sozial inspirierte Engagement, das im Werk des Wieringermeerpolder signalisiert wurde, eines der wichtigsten Bestandteile der so genannten Delftse School Theorie. Von der Verwendung des Begriffs einer Theorie der Delfter Schule wollen wir uns nach den Betrachtungen in Kapitel 2 zwar distanzieren, doch waren die sozialen Ambitionen des Wohnungsbaus im Wieringermeerpolder sicherlich mit dem modernen Gedankengut des Nieuwe Bouwen gleichzusetzen Colenbrander 1993, Siehe Kapitel 3: Kontinuität. 729 Diese Haltung wird von Hofer auch für den Reformarchitekten Tessenow konstatiert. Hofer 2005, Vgl. Berghoef 1934, Colenbrander 1993,

271 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 173 Karte des IJsselmeerpolders Wieringermeer. Angefertigt vom Reichsdienst der IJsselmeerpolder

272 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 174 Slootdorp. Zustand 1985 (oben) Planung 1933 (unten). 270

273 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb J. F. Berghoef. Landarbeiterwohnungen in Slootdorp, Typ K Abb. 176 J. F. Berghoef. Entwurf für Arbeiterwohnung, Grundriss Typ F (51 m²),

274 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 177 Reihenhäuser an der Torenstraat in Middenmeer. Entwurf des Baubüros De Wieringermeer, 1930er. Abb. 178 J. F. Berghoef. Grundriss der Landarbeiterwohnungen in Slootdorp 1930, Typ L. 272

275 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb Situationsplan Wohnungen am Slootweg in Slootdorp, 1930er Jahre, entworfen durch J. F. Berghoef, Typen K und L. Abb J. F. Berghoef. Wohnungsbau in Reihe, Havenstraat in Middenmeer,

276 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 181 J. F. Berghoef. Wohnungsbau in Reihe, Havenstraat in Middenmeer, Foto Abb. 182 J. F. Berghoef. Entwurf für 50 Landarbeiterwohnungen in Slootdorp, 1946 Front. Abb. 183 J. F. Berghoef. Entwurf für 50 Landarbeiterwohnungen in Slootdorp, 1946 Grundriss. 274

277 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb J. F. Berghoef. Wohnungen in Middenmeer, Abb. 185 J. F. Berghoef. 30 Wohnungen für die Baugesellschaft Volksbelang an der Begoniastraat in Aalsmeer,

278 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 186 J. F. Berghoef. Wohnungen an der Begoniastraat (Nr ) in Aalsmeer, Abb J. F. Berghoef. Wohnungen an der Anjerlaan in Aalsmeer, Abb. 188 In der Publikation von De Haan (1981) wurde das Wohnhaus Berghoef neben einen Entwurf Tessenows für ein Wohnhaus a.d. Ruhr gezeigt, um eine Formverwandtschaft deutlich zu machen. 276

279 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb Heinrich Tessenow. Einfamilienreihenhäuser Am Schänkenberg in Hellerau, Abb. 190 J. F. Berghoef. Entwurf für 30 Wohnungen in Alphen aan den Rhijn,

280 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Privater Wohnungsbau der Nachkriegszeit (1940er und 1950er Jahre) Nach der Betrachtung der Wohnbauten Berghoefs der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, kann der Wohnungsbau der Nachkriegszeit als nächster Abschnitt in der künstlerischen Entwicklung des Architekten angesehen werden. Doch bedeutet der Zweite Weltkrieg in seinem Werk keinen Wendepunkt oder gar Bruch mit vorkriegszeitlichen Ideen. Der private Wohnungsbau Berghoefs der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigt hinsichtlich Formgebung und Bautechnik noch recht unverändert und schließt an seine Arbeitsweise der 1930er Jahre an. Als Beispiel kann hierfür das Wohnhaus für A.J. Peters am Stommeerweg 102 in Aalsmeer (1948) angeführt werden (Abb. 191, Abb. 192). 732 Daneben können wir eine Weiterentwicklung im stilistischen Bereich seiner Arbeit feststellen. Denn es zeigt sich in seinem Wohnungsbau der vierziger und fünfziger Jahre eine neue Formgebung. Während sich zum einen eine straffere Linienführung konstatieren lässt, zeigt sich zum anderen eine zunehmende Vertiefung und Weiterentwicklung der Grundprinzipien in Berghoefs Schaffen. Exemplarisch für den `neuen` privaten Wohnungsbau der fünfziger Jahre können hier drei Wohnbauten vorgestellt werden. Das Wohnhaus für H. van Saane an der Diepenbrockstraat 3 in Amsterdam (erbaut zwischen 1951 und 1953, Abb. 193) weist ein äußerst flaches Satteldach auf, das in starkem Kontrast zu den Wohnbauten der dreißiger Jahre steht. 733 Hierdurch erhält der in Backstein hochgezogene Baukörper eine betonte Horizontale, die durch die aus der Baumasse herausgeschobenen Schornsteine eine vertikale Gegenkomponente erhält. Größe und Anordnung der Fenster und Türenöffnungen entsprechen der dahinter liegenden Raumanordnung. Balkon und Treppenaufgang an der Gartenseite werden als frei an den Baukörper hinzugefügte Elemente behandelt. Das Wohnhaus besteht aus zwei im rechten Winkel zueinander orientierten Baublöcken, wobei der kürzere um eine halbe Etage niedriger ist. In ihm befinden sich das Wohnzimmer und ein Atelier im Souterrain, während der höhere Baublock unten die Garage, Küche, Esszimmer und im Obergeschoß die Schlafräume beherbergt. Die Formgebung kennzeichnet sich durch eine strenge Linienführung hinsichtlich der Bauvolumen und deren Massenkomposition aus. Die Wohnhäuser für J. J. Berdenis van Berlekom am Kudelstaartseweg 164 und für M. C. van Staaveren am Hornweg 24 in Aalsmeer (beide 1958) zeigen eine vergleichbare Formgebung, die für diese Periode von Berghoefs Schaffen charakteristisch ist (Abb. 194, Abb. 195, Abb. 196). Beide Wohngebäude besitzen einen hohen Schornstein, der aus dem (flachen) Satteldach prominent emporragt. Sowohl die gläsernen Serres bzw. Ausbauten im Sinne eines größeren Lichteinfalls als auch das beim Wohnhaus Van Staaveren angebrachte horizontale Fensterband entsprechen den Merkmalen einer gemäßigten modernistischen Formgebung. Auch das damalige Interieur spricht von dem modernen Charakter, die diese Wohnneubauten für sich beanspruchten (Abb. 197). Insgesamt weisen die Wohnbauten der Nachkriegszeit eine höhere Anzahl an Fenstern auf, und sind diese auch größer bzw. tiefer ausgeführt. Als Baumaterialien verwendete Berghoef für den privaten Wohnungsbau nicht nur aus ästhetischen, sondern auch kostengünstigen und unterhaltsfreundlichen Gründen Beton (für die Fundamente), Backstein und Holz. Wiederkehrend zeigt sich auch hier bei einigen der privaten 732 BERX 255, 535, s BERX

281 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Wohnhäuser die uns schon bekannte, an der Außenwand angebrachte Berghoeflampe, die an den in glatten Backstein ausgeführten Fassaden unübersehbar hervorsticht. Abb. 191 J. F. Berghoef. Wohnhaus für A.J. Peters am Stommeerweg 102 in Aalsmeer, Abb J. F. Berghoef. Entwurf für Wohnhaus für A.J. Peters am Stommeerweg 102 in Aalsmeer,

282 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 193 J. F. Berghoef. Rückseite des Wohnhaus für H. van Saane, Diepenbrockstraat 3 Amsterdam Abb. 194 J. F. Berghoef. Wohnhaus J. J. Berdenis van Berlekom, Kudelstaartseweg 164 in Aalsmeer, Abb. 195 J. F. Berghoef. Wohnhaus M. C. van Staaveren am Hornweg 24 in Aalsmeer, 1957/

283 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 196 J. F. Berghoef. Wohnhaus M. C. van Staaveren am Hornweg 24 in Aalsmeer, Gartenseite mit Serre, Abb. 197 Interieur Wohnzimmer, Wohnhaus Van Staaveren, Hornweg 24 Aalsmeer, Die Stadterweiterung Amsterdams: Neubauviertel und Massenwohnungsbau Zu Beginn des Jahres 1942 wurde Berghoef von Van Tijen nach Amsterdam geladen, um über die dringende Wohnungsbaufrage, die nach Ende des Krieges zu erwarten sei, in einer Studiengruppe zu diskutieren. Verhagen hatte Van Tijen zuvor den Rat gegeben, die Studiengruppe mit einer Gruppe Architekten unterschiedlicher Auffassungen zusammenzustellen, und sich selbst bei eventuellen Uneinigkeiten als Vermittler angeboten. 734 Nachdem Merkelbach und Van Embden ebenfalls in diese Gruppe, die Kerngroep voor de woningbouw, aufgenommen waren, begannen die Architekten über architektonisch und gesellschaftlich verantwortungsvollen Wohnungsbau nachzudenken. Das Resultat war ein 734 Siehe hierzu die Autobiographischen Notizen von Berghoef. BERX s174 (0577). 281

284 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau umfangreicher Rapport, der von vielen Architekten im Land zur Kenntnis genommen wurde. Die beteiligten Architekten machten es sich zur Aufgabe, um mit den verschiedenen Möglichkeiten des Systembaus im Bereich des Wohnungsbaus zu experimentieren. Neben diesen wurden auch Entwürfe für Standardwohnungen mit ortseigenem Charakter verfolgt. Im Laufe der fünfziger Jahre erfuhr die Arbeitsgruppe mehr und mehr Kritik durch ihren Auftraggeber, die Centrale Directie voor de Volkshuisvesting. Demzufolge wurden andere Gruppen wie z. B. Ratiobouw zur Planung und Ausführung herangezogen. 735 Anfangs schien der Wohnungsbau als technisierte Massenbauweise den Vertretern des Nieuwe Bouwen noch in die Hände zu spielen, doch schon sehr bald wies das industrielle Bauen auch deren Planungsfreiheit in die Schranken, bedingt durch die Möglichkeiten der Technik und Rentabilität. Überdies kam auch die städtebauliche Formgebung schnell an ihre Grenzen, denn wegen der extraordinären Kosten von Kopffassaden und Verspringungen in den Baukörpern, wurden die Baublöcke stets länger und gerader. Letzter Punkt war der Starrheit der Baukräne anzulasten. 736 Doch schien das industrieller Bauen als einzig logische Option zur schnellen Eindämmung der Wohnungsnot. Beim Delfter Studientag über Volkwohnungsbau De mens en zijn woning (1948) sprach Berghoef das Schlusswort: Die Wohnungsnot sei akut. Darum seien Präfabrikation und Rationalisierung notwendig und unvermeidlich zur Lösung des Wohnungsproblems. Berghoef forderte: man müsse zurück zum Menschen, sowohl im Umgang miteinander als auch in der Arbeitsweise. Der richtige Umgang mit den neuen technischen Mitteln, wenn diese wohl durchdacht angewendet würde, sei hierfür das geeignete und notwendige Medium. Das Haus, was zum Schutz diene und zur Entfaltung und Expression des menschlichen Lebens müsse architektonisch vollständig und für jeden begreiflich sein. Um dies zu erreichen habe Zusammenarbeit Priorität. 737 Aus seiner persönlichen Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Henri Tino Zwiers ( ) und dem Wohnungsbauunternehmen Van Saane entstand das Präfabrikationssystem Nemavo Airey, das durch seine Anwendung in der Nachkriegszeit zur Eindämmung der Wohnungsnot verhalf. Mit dieser deutlichen Stellungnahme ist steht Berhoef diametral zur unterstellten Bauphilosophie, die der so genannten Delfter Schule unterstellt wird. Noch kurz vor Ausbruch des Krieges hatte er zusammen mit Jacob Dunnebier ( ) im Auftrag von Huibert van Saane in Amsterdam den Muzenhof ( ) entworfen. 738 Es handelt sich hierbei um einen luxuriösen Appartementkomplex mittleren Maßstabs zwischen Stadionweg und Cliostraat, der in zwei Phasen 1940 und um 1955 gebaut wurde. (Abb. 198, Abb. 199) Dieser einheitlich gestaltete Wohnblock entspricht dem großformatigen städtischen Wohnungsbau der späten Zwischenkriegszeit, der in den Bauten de Bazels, Berlages, Lelimans und Michel de Klerks seine Vorbilder findet. Die Formensprache ist reduziert und rationalistisch. Den Fassaden liegt als bestimmendes Gestaltungsprinzip die serielle Reihung standardisierter Fenster und betonter Treppenhausachsen zugrunde. Die Fortsetzbarkeit der Fassade konnte als städtisches Kontinuitätselement gelten. Berghoef wendete bei diesem Wohnungsbau bereits Stahlrahmen an, die in dieser Zeit noch eine Neuerung im 735 Vgl. Ovink et al. 2009, 76f. Zum Ratiobouw siehe auch folgendes Kapitel zum Nemavo Airey System. 736 Hiermit beziehe ich mich auf De Jong 1985, De mens en zijn woning 1948, Vgl. Fisher

285 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Materialgebrauch darstellten. 739 Die Wohnungsnot der Nachkriegszeit machte in der Großstadt Amsterdam jedoch Maßnahmen größeren technischen Ausmaßes notwendig. Abb. 198 J. F. Berghoef. Entwurf für den Muzenhof, Fassade am Beethovenweg, Abb. 199 J. F. Berghoef und J. Dunnebier. Wohnungen am Stadionweg Amsterdam, Standardisierung und Normalisierung - Das Nemavo-Airey System Die Geschichte der Standardisierung in der niederländischen Baukunst beginnt mit der Gründung der Stichting voor de Normalisatie in Nederland im Jahre 1916, eingerichtet durch das Königliche Institut für Ingenieure und der Niederländischen Gesellschaft für Industrie und Handel. Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in den Niederlanden bereits eine hohe Nachfrage nach Wohnraum, der erst in den dreißiger Jahren langsam gedeckt werden konnte, indem man um die Wohnungen pro Jahr baute, die sich die Bewohner ohne staatliche Hilfe leisten konnten. 740 Obwohl schon ein Konkurrenzstreit zwischen den großen Bauunternehmern 739 Der Muzenhof wird diesbezüglich auch dem Baustil des Nieuwe Bouwen zugeordnet. Siehe: [eingesehen am ; 12:30] 740 Vgl. F. Liekens in: Korevaar 1955,

286 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau herrschte und damit nach Verbesserung der Wohnungen und eine Rationalisierung in der Ausführung (z. B. erste präfabrizierte Bauelemente) gestrebt wurde, wurde nicht ernsthaft nach neuen Baumethoden gesucht. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die Situation drastisch verschärft, als plötzlich ein Mangel an Wohnungen herrschte. Gleichzeitig mangelte es großräumig an Baumaterial, um dieses Problem schnell zu beheben. Die wenigen Baumaterialien, die in den Niederlanden selbst herzustellen waren (Backstein, Dachziegel, Zement und Kalk), waren kaum in Masse anzufertigen. Zudem waren einige Backsteinfabriken durch den Krieg zerstört und es fehlte überall an Arbeitskräften und Brandmaterial. 741 Durch den Ausbildungsstop war ein chronischer Mangel an gut geschulten Baufacharbeitern entstanden. Dies führte dazu, dass traditionelle Baumethoden nicht mehr schnell genug ausgeführt werden konnten. Zu Beginn stand man noch vor dem Problem, dass die Produktion von Bauelementen in der Fabrik zwar die Arbeit am Bauplatz reduzierte und Witterungsunabhängig machte, doch dass das traditionelle Material in der Herstellung noch günstiger war. Zudem erwies sich der Transportaufwand von vorgefertigten Elementen als größer und die besondere Anwendung der Füllelemente bei einem Skelettbau erhöhte die Material- und Lohnkosten. Trotzdem sah man einzig in standardisierten Bausystemen die schnelle Lösung der Wohnungsnot der Nachkriegszeit. 742 Standardisierung und Normalisierung waren demnach die kennzeichnenden Schlagwörter, wenn es um Serienproduktion im Bauen ging. Zwiers veröffentlichte 1945 mit Normalisatie en Wederopbouw seine Sichtweise auf den Umgang mit Präfabrikation im Bauen. 743 Normalisierung bedeutete die Anwendung von präfabrizierten Produktion im Wohnungsbau im großen Maßstab. Dies enthielt eine Serienproduktion und eine Nivellierung der Baubestandteile. Doch war Normalisierung nichts Neues. Zwiers sah diese als logische Fortsetzung der Überlieferung, d. h. als Weitergabe von Wissen und Tradition der Generationen. Da Normalisierung einen wesentlichen Bestandteil der Geschichte darstelle, sei sie auch ein wichtiger Bestandteil gesellschaftlicher Entwicklung. Durch das fälschliche Verlinken mit Industrie und Fließbandarbeit sei ein negativer Begriff entstanden. Hierbei handelte es sich eigentlich um eine Nivellierung in der Bauproduktion und im Bauprozess. Bauen bezeichnet das Errichten eines Bauwerks vor Ort, an dem es gebraucht wird. Aufgrund des festgelegten Standortes, geschieht dies einmalig, so dass der Produktionsapparat dorthin gebracht werden muss, und nach Fertigstellung des Bauwerks wieder versetzt wird. Das industrielle Produzieren hingegen beinhaltet die Anfertigung mehrerer Bauelemente an einem Ort. Schließlich werden diese Elemente zum Bauort transportiert, während der Produktionsapparat stehen bleibt. Er ist somit nur Zulieferer. Er stellt nicht das Bauwerk her, sondern nur seine Bestandteile. Industrielle Produktion kann letztendlich zu Präfabrikation führen. Doch bedeutet Präfabrikation noch lange keine Industrialisierung, denn auch handwerkliche Produkte, wie der Backstein unterliegen im 20. Jahrhundert schon langer der Serienproduktion in der Fabrik und der Verarbeitung im Bauwerk anderenorts. Eine kontinuierliche Serienproduktion von Bauelementen setzt immer eine universelle Brauchbarkeit voraus. Im kleinen Elementformat ist dies möglich, nicht aber im großen Format, 741 Siehe hierzu u.a. Anonym 25; Centrale Directie van de Wederopbouw en Volkshuisvesting 1949; Systeembouw 1959; De Vreeze Naoorlogsche woningbouwpolitiek 1946; Geïndustrialiseerd bouwen 1958; Systeembouw in Nederland Zwiers

287 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau mit umfangreicher Vorarbeit. Zwiers appellierte gleichermaßen wie Berghoef an die gesellschaftliche Verantwortung, die die Anwendung von Standardisierung und Normalisierung mit sich bringe. Vielseitigkeit und Wahlfreiheit solle größer sein je nach (Produkt-)Charakter eines selbstständigen Bauwerks, bzw. je nach Maß wie das gefertigte Produkt verbunden ist an die Privatperson oder Gesellschaft (`Gemeinschaft ) und seiner Bedeutung innerhalb dieser. Schlussendlich solle auch ein standardisiertes Produkt an den Ort gebunden sein und hieran seinen Charakter entlehnen können. 744 Der Wohnungsbau der Nachkriegszeit bedeutete für die Architekten Berghoef und Zwiers eine gezielte Auseinandersetzung mit dem Montagebau. Da nach 1945 in den Niederlanden von den 2,2 Millionen Wohnungen der Vorkriegszeit ein Viertel zerstört war, galt es eine enorme Nachfrage an Wohnraum zu befriedigen. Ein Ausweg wurde deshalb in schnellen und einfach auszuführenden Konstruktionsmethoden für den Wohnungsbau gesucht wurde zu diesem Zweck von dem Ingenieur Jannis Pieter Mazure der so genannte Ratiobouw (Stichting tot Rationalisering van het Bouwen) ins Leben gerufen und schon zwei Jahre später wurden potentielle Bausysteme vorgestellt, die ab 1946 ihre Ausführung fanden. Berghoefs Name ist mit einem dieser Systeme, das Nemavo-Airey System, untrennbar verbunden. Die NEMAVO (Nederlandse Maatschappij voor Volkshuisvesting), eine niederländische Wohnungsbaugesellschaft, bestand neben Mitgliedern des Wohnungsbau-Ministeriums aus institutionellen Anlegern, Protagonisten der Bauindustrie und des Baugewerbes. Im Auftrag des Ministers für Wohnungsbau, Johan A. Ringers, und M. van Saane, Direktor der NEMAVO Gesellschaft, wurde 1946 eine Reise nach England unternommen, um unter Leitung von Mazure die dortigen Bausysteme zu begutachten. 745 Die Wahl fiel schließlich auf Sir Edward Airey aus Leeds und dessen eigen entwickeltes Montagebausystem Airey, das ursprünglich für Einfamilienwohnungen bzw. Doppelhaushälften konzipiert war (Abb. 200). Von diesem Unternehmen wurde die Lizenz für die Übernahme des Systems erworben. Doch mussten technische Änderungen für den niederländischen Baumarkt gemacht werden, da das System für eine industrielle Serienproduktion von mindestens 1000 Wohnungen anwendbar gemacht werden sollte. Van Saane beauftragte dazu die Architekten Berghoef und Zwiers, gemeinsam mit den Fabrikanten der Nemavo mit den Proben zu beginnen. Beide Architekten hatten auch vor dem Zweiten Weltkrieg schon diverse Wohnkomplexe gebaut und besaßen dementsprechend Erfahrung im Bereich des großformatigen Wohnungsbaus. 746 Das Resultat der Systemmodifikation war schließlich das Nemavo Airey System (Abb. 201, im Folgenden: N.A.-System). 747 Dieses System war für den Flach- und Mittelhochbau geeignet und zeichnete sich durch eine sehr leichte Montage aus, da die vorfabrizierten Betonelemente in Gewicht und Montage so reduziert waren, dass eine Montage per Hand möglich war (Abb. 202, Abb. 203). Die Mauerkonstruktion bestand aus Stahlbetonpfeilern, die in der Länge der Geschoßhöhe entsprechen. An der Außenseite wurde die Mauer mit vier Zentimeter dicken Betonplatten (H 37,5 x L 62,5 cm) verkleidet, die mittels Kupferdrähten und 744 Vgl. Zusammenfassung bei Zwiers Agtsteribbe [2004], 5ff. Zur Person Ringers siehe die Dissertation von T. Pollmann, Van waterstaat tot wederopbouw. Het leven van dr. ir. J. A. Ringers ( ), Amsterdam z. B. Berghoef: Zwanzig Wohnungen im Wieringermeerpolder, 1930 (BERX 81); Zwölf Wohnungen an der Begoniastraat, Aalsmeer, 1937 (BERX 149); 32 Wohnungen an Machineweg, Aalsmeer, 1940 (BERX 174). 747 Zur näheren illustrativen Erläuterung des N.A.-Systems siehe: Berghoef 1951;Vereeniging van systeembouwers 1959; Agtsteribbe [2004]. 285

288 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Bitum an den Betonpfeilern montiert wurden (Abb. 204). Innen wurden zur Wärmeisolation Glaswollplatten und Gipsplatten angebracht. Die Böden wurden in der Niedrigbauweise in der Regel aus einer Holzbalkenlage montiert und mit dem Stahlskelett verbunden, während für die Fenster Stahlrahmen verwendet wurden. Die Produktion der Bauelemente (Pfeiler, Fassadenplatten und Randbalken) geschah in der Fabrik (anfänglich in Arkel, danach in Amsterdam), so dass wenige Betonelemente vor Ort hergestellt werden mussten. Da auch das Fundament aus vorfabrizierten Betonelementen bestand, war eine Verschalung vor Ort nicht notwendig. Für den niederländischen Bau wurden, wie gesagt, einige Veränderungen an dem englischen Airey System vollzogen. Neben weiteren Maßnahmen in der Verbesserung und Rationalisierung in der Produktion, stand die Formgebung der Wohnbauten. An Stelle der in England verwendeten kleinteiligen Bandfenster kamen größere Fensteröffnungen. Ferner wurden die Stützenabstände verbreitert und im Etagenbau Loggias hinzugefügt. Im September 1948 wurden die ersten Wohnungen dieses Systems fertig gestellt. 748 Bis in die fünfziger Jahre wurde das N.A.-System im Bereich des Wohnungsbaus angewendet, und in den Niederlanden mehr als Wohnungen mittels des Airey Systems gebaut. 749 Ab 1961 ist die Produktion wegen der Anwendung anderer Bausysteme und der Eindämmung der Wohnungsnot rückläufig. Abb Airey Urban House in England. 748 Berghoef 1951a, entstanden in Gorinchem und Tiel die ersten Einfamilienhäuser; zu den letzteren Wohnungen gehören die Etagenwohnungen in Amsterdam Osdorp (Teil D und F) zu Beginn der 1960er Jahre und eine Reihe Einfamilienhäuser in Winsum und Leek, gingen alle Rechte zur Nutzung des Airey Systems an N. V. Mesa in Ten Post (Groningen), die das System in erster Linie für den Bungalowbau verwendete. 286

289 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb Nemavo Airey System. Anschluss der Etagenböden an die Außenwand. Abb Eine Nemavo-Airey-Systembauwohnung im Bau. 287

290 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb Eine Nemavo Airey-Wohnung im Bauprozess, Foto aus Archiv Berghoef, ohne Ortsangabe. Abb. 204 Detail der Betonverkleidung einer N.A.-Wohnung in Amersfoort. Die Nemavo Airey-Wohnungen Berghoefs 1934 wurde in Folge der Bemühungen um ein von staatlicher Seite kontrolliertes Städtewachstum, der Allgemeine Ausbreitungsplan von Amsterdam (AUP) von Stadtplaner Cornelis van Eesteren ( ) verabschiedet. Basierend auf wissenschaftlicher Planung und Berechnung des zukünftigen Bevölkerungswachstums, wurden im AUP von Eesteren städtebauliche Ideen der CIAM Eesteren war Vorsitzender der CIAM von 1930 bis 1974 gezielt und in großem Maßstab angewendet. 750 Die Aufgliederung der Stadt nach Funktionen hatte die Ordnung der Stadt als solche im Sinn. Eine Unterteilung der neuen Plangebiete in verschiedene Funktionsgebiete bzw. Zielgruppen (Einkommensstärke der Bewohner), brachte 750 Siehe hierzu u.a. die Dissertation von Somer

291 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau unterschiedliche Bebauungsdichten mit sich, wobei der Streifenbau als neue Lebenshaltung betrachtet wurde. Der Allgemeine Ausbreitungsplan von Amsterdam war in erster Linie nicht ästhetisch, sondern funktional motiviert. Die Stadt wurde als zusammenhängendes Ganzes verstanden, mit darin jedes einzelne Wohnviertel als eigenständige Einheit. Vor Ausbruch des Krieges konnte 1939 nur der Stadtteil Bos & Lommer begonnen werden, der durch den Einfall der Deutschen Besatzungsmacht, jedoch schnell wieder lahm gelegt wurde. 751 Nach der Befreiung wurden die Pläne des AUP wieder aufgegriffen, denn 1946 wurde ein Wohnraumbedarf für etwa Familien gezählt. 752 Berghoef beteiligte sich hierbei äußerst aktiv beim Wohnungsbau in den neuen Stadtvierteln des AUP. Zahlreiche Wohnungen in Amstelhof, Slotermeer und Sloterhof/Slotervaart sollten der immensen Zahl an Wohnungslosen eine neue Heimat bieten. Diese ausgeführten Entwürfe stellen den umfangreichsten Beitrag Berghoefs am Massenwohnungsbau des Wiederaufbaus dar. Unter Anwendung des N.A.-Systems wurden von den Architekten Zwiers, Wilhelmus Th. H. ten Bosch ( ) und Berghoef fünf große Siedlungsanlagen in Amsterdam entworfen: Gartenstadt Oostzaan-Ost (begonnen 1950), Gartenstadt am Populierenweg/Watergraafsmeer- Ost (begonnen 1950), Amstelhof in Zuider-Amstel (begonnen 1951), Slotermeer in Amsterdam-West (begonnen 1951) und Slotervaart/Sloterhof in Amsterdam Süd-West (begonnen 1957). Die drei letztgenannten beinhalten den persönlichsten Beitrag Berghoefs und sind repräsentativ für den nachkriegszeitlichen Wohnungsbau im großstädtischen Raum. Amstelhof Im Jahr 1951 wurde, unter Ausschluss eines ehemaligen Erweiterungsplans von 1939, der Ausbreitungsplan südlich der ehemaligen Rivierenlaan (heute President Kennedylaan), zwischen der verlängerten Waalstraat und dem ehemaligen Westerscheldeplein (heute Europaplein) abgesegnet. Hier sollte der Amstelhof, eine Gartenstadt nach einem Entwurf Berghoefs, beauftragt von der Niederländischen Wohnungsbaugesellschaft in Amsterdam (NEMAVO) entstehen. 753 Im gleichen Jahr fiel der Startschuss für den Bau der ersten N.A.- Wohnungen. Der gewünschte Wohnnutzraum sollte in 96 Wohnungen in Baublöcken über vier Etagen, 192 Wohnungen in Wohnblöcken über drei Etagen, 18 Einfamilienhäuser und drei Ladenhäuser realisiert werden. Ferner beinhaltete der Plan eine Tankstelle inklusive Werkstatt, 57 Garagen und ein Transformatorhäuschen mit u.a. der Anlage für die Zentrale Heizversorgung. Die zwei größten Appartementblöcke erstrecken sich über eine Länge von 125 bzw. 175 Metern entlang der President Kennedylaan (Abb. 205, Abb. 206). Als viergeschossige Etagenbauten schirmen sie den dahinter liegenden Teil des Amstelhof von der Hauptverkehrsstraße ab. Der Entwurf Berghoefs zeigt, dass die Wohnblöcke aus vier Wohnetagen auf einem Unterbau bestehen.(abb. 207). Einen vergleichbaren Aufbau sehen wir auch bei Ouds Entwürfen für die Siedlung Kiefhoek und Witte Dorp in Rotterdam oder bei Merkelbach, Karsten und Van Tijn in der Indische Buurt Amsterdam. Im Amstelhof berherbergt der Unterbau, gefertigt in roten Groninger Backstein, die Garagen, Abstellräume für die Wohnungen, sowie die mit einem Vordach betonten Eingänge /47 sollte Berghoef gemeinsam mit Wegener Sleeswijk mit der Supervision von Wohnbauten in Bos & Lommer West betraut werden. Siehe hierzu u.a. BERX s Agtsteribbe [2004], 34 inkl. Fußnote. 753 Im Archiv Berghoef wird in der Fotomappe (Map 1) auf die N.A.-Wohnungen an der Rivierlaan verwiesen mit der Dossiernummer 408. Diese ist jedoch im Archiv nicht mehr anwesend. Siehe darum Berghoef 1954b. 289

292 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Das Vorhandensein von Privatgaragen war für die 1950er Jahre ein absolutes Novum. Da es sich bei dem Konzept des Amstelhof um an privat zu vermittelnden Wohnraum handelte, gehörte Fazilitäten wie diese, gleichsam der Standardeinrichtung der Vier- bis Fünfzimmerwohnungen mit Zentralheizung, Kücheneinrichtung, Badezimmer und Warmwasser zu den attraktiven Angeboten dieses Wohnungsbaus. 754 Die nach dem Airey System mit Betonplatten verkleidete Fassade wird von der gleichförmigen Abfolge der den Wohnungen zugehörigen Fenstern und Balkonen rhythmisiert. Über den langen Zeitraum ihres Bestehens wurde an den Wohnungsbauten des Amstelhof wenig verändert, so dass sie sich auch heute noch in beinahe originalem Zustand befinden. Die stählernen Fensterrahmen als auch die Balkonbalustraden sind in der Regel noch original. Hinter diesen langen Appartementblöcken wurden acht dreigeschossige Wohnblöcke im rechten Winkel hierzu situiert. Auch sie verfügen über ein vergleichbares Sockelgeschoss mit Garagen etc. und zwischenliegenden Grünräumen (Abb. 208) Die achtzehn Einfamilienhäuser mit rückwärtigen Gartenanlagen befinden sich in der südöstlichen Ecke des Amstelhof- Komplexes. Der Amstelhof ist das erste großformatige Wohnviertel, das Berghoef in der Nachkriegszeit entwarf. In Anordnung und Aufbau der Wohnarchitektur zeigt es sich als eine nachkriegszeitliche Weiterentwicklung der Gartenstadtidee. Neben der Anwendung präfabrizierter Bautechnik versuchte Berghoef den Etagenbauten eine persönliche Note durch die hervorstechende Eingangsgestaltung und den zur Schau getragenen Gebrauch verschiedener Materialien mitzugeben. Auch die Gestaltung der Schornsteine tritt im vorgefertigten Bauelement in dekorativer Aufwertung der Fassade nach vorn (Abb. 209, Abb. 210). Abb. 205 J. F. Berghoef. Eingang eines Nemavo-Airey-Wohnblocks an der President Kennedylaan, Amstelhof Amsterdam. Foto Siehe hierzu ferner die Erläuterung in Agtsteribbe [2004],

293 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 206 Rückseite des Nemavo Airey-Wohnblocks an der President Kennedylaan, Amstelhof Amsterdam. Foto Abb. 207 J. F. Berghoef. Entwurf für die N.A. Wohnungen Amstelhof Amsterdam, Abb. 208 Sicht auf den Amstelhof Richtung Baroniestraat, Amsterdam. Foto

294 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 209 Stirnseite einer Nemavo-Airey-Wohnung an der Betuwestraat, Amstelhof Amsterdam. Foto Abb. 210 Detail zur Fassade des Nemavo Airey Systems, Amstelhof Amsterdam. Slotermeer Die zweite Gartenstadt, die Berghoef im Zuge des Ausbreitungsplans von Amsterdam entwarf, war die Siedlung Slotermeer, die auch heute noch entlang der Burgemeester de Vlugtlaan (ehem. Bos und Lommerweg) und Burgemeester Fockstraat (ehem. Cunettenweg) zu finden ist erstellte Berghoef an diesen beiden Bauorten für verschiedene Wohnungsbaugesellschaften einen ersten Plan für knapp 480 Wohnungen (plus Ladenräume), der mit kleinen Änderungen schließlich ausgeführt wurde. 755 Der größte Teil der Nemavo Airey Wohnungen wurde entlang der Nordseite der Burgemeester de Vlugtlaan entworfen. Zur räumlichen Auflockerung positionierte Berghoef die dreizehn Wohngebäude abwechselnd schräg bzw. lotrecht zur Straßenführung (Abb. 211, Abb. 212.). Auch hier wurde den zwischenliegenden Grünräumen von Berghoef eine wichtige Funktion zugedacht. Der Aufbau und die Formgebung dieser als dreigeschossige Bauten ausgeführten Wohnungen entsprechen an vielen Stellen den Wohnbauten des Amstelhofs, jedoch ohne das in Backstein abgesetzte Sockelgeschoß. 755 BERX 351 (0051). 292

295 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Parallel zur Burgermeester Fockstraat wurden für die Gesellschaften Amsterdam Zuid und Zomers Buiten vier Baublöcke, je zwei zu jeder Seite der Straße, angelegt. Sie beherbergen 224 Wohnungen über vier Etagen auf einem wie bereits vom Amstelhof bekannten Sockelgeschoß. Abweichend davon sind alle Wohnbauten in Slotermeer mit einem Flachdach versehen, und nicht mit einem flachen Satteldach wie beim Amstelhof. Ferner sind die Eingänge hier durch ausgesparte Entreebereiche mit mittiger Säulenstellung im Sockelgeschoß markiert. Die auf eine Gracht orientierten Stirnseiten der Etagenbauten ruhen auf Betonpfeilern, so dass entlang des Wasserlaufs ein teils überdeckter Laubengang kreiert wird. Zahlreiche Renovierungen und Umbauten haben den ursprünglichen Charakter der Wohnbauten von Slotermeer sehr verändert, so dass an vielen Stellen der intendierte Eindruck einer geschlossenen Siedlung verloren gegangen ist. Abb. 211 J. F. Berghoef. Slotermeer, Wohnbauten an der Burgermeester Fockstraat, Foto Abb. 212 Slotermeer. Entwurfsausschnitt zur Anordnung der Streifenbauten an der Burgermeester Fockstraat. 293

296 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Slotervaart/Sloterhof Im Zuge der Stadterweiterung Amsterdams wurde 1952 auch nach neuen Bebauungsplänen für eine großformatige Prämienwohnanlage gestrebt. Zwei Jahre später 1954 entwarf Berghoef hierfür den so genannten Sloterhof, der 1957 in Angriff genommen und 1959 fertiggestellt wurde. Insgesamt sollten in Sloterhof an die sechshundert Wohnungen entstehen, darunter eine große Anzahl Familienwohnungen (594), Single- und Seniorenwohnungen (58) sowie Atelierwohnungen (4). Ferner galt es mit einer Anzahl Ladenwohnungen, Cafés, Banken, Kindertagesstätten, Tankstellen und Garagen die Infrastruktur der Gartenstadt anzufüllen. 756 Begrenzt von der Comeniusstraat im Norden und der Cornelis Lelylaan im Süden, besteht die Siedlung insgesamt aus sechzehn nordsüdlich ausgerichteten Baublöcken in Streifenraster (Abb. 213). 757 Auffallend sind unter diesen drei Maisonettewohnungen von sieben Etagen, die über eine Ziergracht gebaut sind (Abb. 214, Abb. 215, Abb. 216). Durch die Bearbeitung der Betonplatten mit Asphaltschicht erhielt die Fassade ihre dunkle Farbgebung. Markant sind auch die außenliegenden Wendeltreppen am südlichen Ende der Baukörper. Zwischen den Maisonettewohnungen sind jeweils vier niedrigere Wohnblöcke á vier Wohnetagen mit einem Galerieunterbau angeordnet (Abb. 217). Die Formgebung der Maisonettewohnungen ruft unvermittelt eine Referenz zu Le Corbusiers Unités d Habitation auf, die zu gleicher Zeit in u.a. Berlin und Marseille errichtet wurden (Abb. 218, Abb. 219). Besonders die Erhebung des Baukörpers auf einem Freigeschoß mit Betonstützen an den jeweiligen Stirnseiten ist auffällig. Während Le Corbusier aus konzeptueller Überzeugung einen aus den dreißiger Jahren stammenden Entwurf in der Nachkriegszeit ausführt, entwirft Berghoef aufgrund der aktuellen Forderung nach Wohnraum einen vergleichbaren Wohnungsbau. In beiden Fällen handelt es sich um Bauten der Moderne, die die Gegebenheiten und Anforderungen ihrer Zeit widerspiegeln, wenn auch bei Le Corbusier mehr an einer langentwickelten Idealvorstellung orientiert. Berghoef dahingegen verfolgte eine schnelle und praktisch orientierte Schaffung von Wohnraum. Beherrscht wird der ganze Siedlungskomplex schließlich von einem zwölfgeschossigen Turmbau im Westen der Anlage (Abb. 220, Abb. 221). Es sollte hier laut dem Bebauungsplan für Amsterdam ein echter Hochbau entstehen, doch war dies für die Architekten noch recht kontrovers. Denn wirklicher, präfabrizierter Hochbau mit mehr als vier Etagen war Mitte der 1950er Jahre im Bereich des Wohnungsbaus in den Niederlanden noch nicht gängig ausgeführt worden. 758 Berghoef beschreibt aber schon 1951 in seiner Erläuterung des N.A.-Systems in der Zeitschrift Forum, dass man während des Anpassungsverfahrens und den ersten empirischen Erfahrungen mit diesem Bausystem schnell zu dem Schluss kam, dass diese Bauweise sich mit kleineren Modifikationen hervorragend für die Konstruktion von Hochbauten eignete. 759 Das Resultat dieser Systemmodulation zeigt sich schließlich in der Errichtung des Sloterhofturms (Abb. 222), ein zwölfgeschossiger Wohnturm, ausgeführt in dunkler Verkleidung mit weißer 756 Zur genauen Anzahl verweise ich auf Agtsteribbe [2004], Zum Ausmaß der Anlage: 594 Wohnungen für Familien, zehn Wohnungen für Alleinstehende, 48 Seniorenwohnungen, vier Atelierwohnungen, zwölf Läden mit Wohnung, neun Einrichtungen mit Kindergartenfunktion, 105 Garagen, zwei Tankstationen, eine Bankfiliale und ein Restaurant. 758 Ferner gilt zu berücksichtigen, dass der Hochbau in seinem Preis abhängig war von der geplanten Anzahl an Mittelstandswohnungen. Wollte man ein echtes Mittelstandsviertel, wie in Slotervaart, so musste auch der Hochbau hier konzentriert werden. Vgl. Andela et al. 1983, Berghoef 1951,

297 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Bänderung. Das neue N.A.-System wurde mit diesem Wohnturm erstmals auf einen Hochbau mit zwölf Etagen angewendet. Im Hinblick auf die neuen Anforderungen des Wohnkomforts wurden alle Wohnungen in Sloterhof, Slotermeer und Amstelhof mit den neuesten Einrichtungsstandards versehen. Die Ausstattung mit Zentralheizung, Warmwasser und Einbauküchen (Firma Bruynzeel) war ebenso selbstverständlich wie das Vorhandensein von Aufzügen und einer zentralen Müllabfuhr. Besonders das Vorhandensein von Badezimmern stellte für die Bewohner eine attraktive Neuerung an Komfort dar. 760 Ferner wurden im Sinne einer offenen Bebauung Grünräume und Kinderspielplätze berücksichtigt. Im Zuge der Kostenreduzierung wurden auch hier die ursprünglichen Pläne des AUP vereinfacht und eine kostengünstige, unterhaltsarme Bepflanzung mit Rasen und kanadischen Pappeln durchgeführt. Die Gartenstadt Sloterhof befindet ebenso wie der Amstelhof überwiegend noch im originalen Zustand, und ist durch seine besondere rhythmische Anlegung in Hoch- und Niedrigbauweise ein exempel par exellence für den großformatigen Massenwohnungsbau der Nachkriegszeit. Der Erfolg des N.A.-Systems zeigt sich im Rückblick durch seine großflächige Anwendung. Parallel zu den neuen Wohnvierteln in Amsterdam wurden an verschiedenen Orten in den Niederlanden Wohnungen unter Einsatz dieser Bauweise errichtet (z. B. Eindhoven Strijp, Emmen, Meppel und Amersfoort). 761 Der größte Teil existiert noch immer und wird wenn auch nach heutigem Standard teilweise als zu klein erfahren bewohnt, sowie regelmäßig renoviert (Abb. 223, Abb. 224). Abb. 213 J. F. Berghoef. Gartenstadt Sloterhof/Slotervaart, Foto 1960er. 760 Bei Agtsteribbe [2004] werden diese Einrichtungselemente, wie das Vorhandensein eines `lavet, einer multifunktionellen Waschgelegenheit, detaillierter vorgestellt. 761 Siehe hierzu ferner Berghoef und Zwiers

298 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 214 J. F. Berghoef. Maisonettewohnungen Sloterhof, Foto 1960er. Abb. 215 J. F. Berghoef. Maisonettewohnungen über der Gracht, Sloterhof Amsterdam, Foto 1960er. 296

299 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 216 Maisonettewohnungen Sloterhof Amsterdam, Foto Abb. 217 Laubengang einer N.A. Wohnung an der Comeniusstraat Amsterdam Sloterhof, Foto Abb. 218 Le Corbusier. Unité d Habitation, Berlin,

300 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb Le Corbusier. Unité d Habitation, Marseille, Abb. 220 J. F. Berghoef. Sloterhoftoren, Foto

301 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 221 Eingang Sloterhoftoren an der Hemsterhuisstraat Amsterdam, Foto 2011: Abb. 222 J. F. Berghoef. Sloterhoftoren im Bauprozess, Ende 1950er. 299

302 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 223 N.A.-Wohnungen am Eggerspad in Amersfoort, Foto Abb. 224 Eingänge zweier N.A.-Wohnungen am Kelkweg in Amersfoort, Foto Die Form-Kritik Berghoefs am Systembau Die vorab beschriebenen Amsterdamer Wohnungsbauprojekte zur Schaffung von Wohnraum sind exemplarisch für die Maßnahmen des Wohnungsbaus der Nachkriegszeit unter Anwendung moderner Bautechniken und deren Möglichkeiten. Der Architekt Berghoef sah diesbezüglich die Notwendigkeit und die Vorteile der Präfabrikation und des Montagebausystems für die Lösung des Wohnungsproblems in der Nachkriegszeit. Doch zeigt sich in der Beurteilung der neuen Bautechnik durch den Architekten Berghoef eine gewisse Polemik. Zum Zeitpunkt der Planung und Erbauung der N.A.-Wohnungen in Amsterdam äußerte sich Berghoef positiv über die Vorteile der Vorfabrikation. Laut einer Erläuterung zum neuen Wohnkomplex Amstelhof durch Berghoef konnte das neue Montagebausystem eine wertvolle und bleibende Rolle neben den traditionellen Baumethoden erhalten. Zudem war seines Erachtens der Systembau im Etagenbau kostengünstiger als die traditionelle Bauweise. 762 Demzufolge konnte laut Berghoef die Vorfabrikation von Bauelementen neben 762 Berghoef 1954b; Berghoef 1951,

303 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau den traditionellen Baumethoden seinen dauerhaften Platz in der Baupraxis einnehmen. Ferner erwähnt er die Flexibilität der Grundrisse, die im Sinne eines Baukastensystems angewendet werden und deshalb bezüglich des räumlichen Gestaltens sehr vorteilhaft seien (Abb. 225, Abb. 226). 763 Berghoef war sich der Vorteile und der Möglichkeiten der neuen Bautechniken und Materialien bewusst. Doch eindeutig schätzte er die baulichen Resultate handwerklicher Arbeit auf ästhetischer Ebene höher ein; und auch die Kontextualisierung von Neubauten in das Stadtbild mittels Backsteinfassaden und traditionellem Formvokabular hat für ihn eine große Bedeutung, wie er in seinem Aufsatz Nederland bouwt bij traditie in baksteen (1962) beschreibt. 764 Der lokale Bezug eines Gebäudes mittels eines spezifischen Materials und einer historisch bezogenen Formgebung besitzt in seinem Werk eine große Gewichtung. Doch wies Berghoef die industrialisierte, neue Bautechnik nicht von sich wie es beispielsweise sein Lehrer Granpré Molière im Jahr 1962/1966 noch propagierte, sondern setzte sich intensiv mit den neuen Methoden der Baukonstruktion auseinander. 765 Zu Beginn der 1950er Jahre war Berghoef in seiner Beurteilung des neuen Montagebaus und der Uniformität der neuen Wohnbauten sogar milder als sein modernistische Kollege Van Tijen. 766 Während Van Tijen 1948 vor der Gefahr einer zu weit geführten Nivellierung und dem damit einhergehenden Verlust an Formenreichtum warnte, sah Berghoef in der angewendeten Neutralität der Wohnbauten bessere Chancen zu einer freien Entwicklung der Bewohner, im Gegensatz zu einem durch einen Architekten persönlich ausgeführten Haus. 767 Auch dieser Form der Wohnarchitektur maß er eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe bei. Doch griffen seine Wohnkonzepte nicht so weit wie beispielsweise Ouds Ideal für die Wohnsiedlungen in Kiefhoek und Hoek van Holland, die aufgrund eines zu weitgreifenden gesellschaftlichen Erziehungsprogramms der Bewohner zum Scheitern verurteilt war. Während Oud seine Bewohner in ein fertiges Wohnkonzepte platzierte, das keinerlei Anpassung wünschte 768, sah Berghoef den neutralen Wohnungstyp als Basis für ein persönliche Entwicklung und Anpassung durch den Bewohner. Denn den individuellen Sozialbedürfnissen räumte Berghoef einen hohen Stellenwert ein. Gerade diesen sozialen Aspekten des Präfabrikationsbaus wurde in den darauffolgenden Jahren mehr Aufmerksamkeit zuteil. 769 Trotz allem bevorzugte Berghoef stets das handwerklich gebaute Haus im kleinen Maßstab. Zweifelsohne verließ er schweren Herzens die traditionelle Bauweise in Backstein. Schon während der Planung der neuen Wohnbauten nach dem N.A.-System bemängelte Berghoef, dass im Zuge der Systemmodifikation das Wegfallen der in England gebräuchlichen weißen Fensterrahmen der an sich schon allzu glatten Fassade das letzte plastische Element 763 Übersetzung JM: Originalzitat: Wat de woninginrichting nu betreft, laat het N.-A.-systeem alle mogelijkheden open.[ ] volkomen vrije plattegronden. Berghoef 1951, Berghoef Zu diesem Aspekt siehe das Kapitel zum Rathausbau und Granpré Molière 1966, 5. Ferner gilt in Bezug auf den niederländischen Wohnungsbau zu berücksichtigen, dass der Backstein als Baumaterial in den Niederlanden tief verwurzelt ist. Ein Umsatteln auf die Betonindustrie im Wohnungsbau fand in den Niederlanden im Vergleich zu anderen Ländern Europas recht spät statt, und gänzlich verdrängt wurde der Backstein in der niederländischen Architektur schließlich nie. 766 Agtsteribbe o.j., Van Tijen 1948; Berghoef 1951, Engelberg-Dockal 2006, , Siehe vergleichsweise den Artikel von Buur

304 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau raube. 770 Diese ornamentlose Fassade wird von Berghoef letztlich stark kritisiert. Die Fassaden seien zu glatt, wie aus einem Karton geschnitten. Ein Vordach bzw. ein Balkon hier und da und der ausgebaute Schornstein würden dem etwas Abhilfe verschaffen, doch die geringe Plastizität bleibe, so Berghoef Infolgedessen kommt es zu einer spezifischen Formgebung der Amsterdamer Montagebauten durch Berghoef. Mittels kleiner Details wie Balkone und dekorativer Eingänge werden die flachen Fassaden der Wohnbauten dekorativ angereichert und im Sinne des Architekten dadurch ästhetisch aufgewertet. So verweisen die Eingänge an den Wohnbauten in Sloterhof (Abb. 227, Abb. 228) bezüglich ihrer Formgebung auf das historische Amsterdamer Stadtbild. Das Formmotiv der erhöhten Eingänge mit ein- bzw. zweiseitigem Treppenaufgang ist an vielen frühneuzeitlichen Wohnhäusern in den Straßen und Grachten Amsterdams wiederzufinden. Aus dieser Maßnahme wird deutlich, dass der Architekt versuchte, den Bewohnern ein bekanntes und heimisches Element in die Gestalt der Neubausiedlung zu integrieren. In dieser gezielten Ortsbezogenheit veräußert sich die Idee des Architekten, dass die von ihm entworfene Wohnarchitektur, trotz aller Neutralität und Funktionalität der Bautechnik, einer Kontextualisierung in das niederländische Stadtbild bedurfte. Auch aus psychologischer Sicht war diese Vorgehensweise der Architekturgestaltung von großer Bedeutung für die Funktionalität der neuen Wohnungsarchitektur. Da davon auszugehen ist, dass die Mehrzahl der neuen Bewohner dieser Wohnbauten aufgrund der Kriegszerstörung gezwungenermaßen eines neuen Wohnraumes bedurfte und mit dem Kriegsgeschehen eine große Verlusterfahrung einherging, war die Referenz an bekannte lokale Stadt- und Wohnarchitektur vorteilhaft für die schnelle Entwicklung eines Heimisch-Werdens am neuen Wohnort. Dieser Versuch der Identitätsstiftung durch eine formelle, ästhetische Aufwertung war somit eine Maßnahme gegen die anonyme Wirkung der Wohnsiedlungen. 770 Berghoef 1951, Een moeilijk punt is dat de gevels zo vlak zijn en het geheel daardoor als uit een karton gesneden lijkt. De dak bij de voordeur, een balconnetje hier en daar en de uitgebouwde schoorsteen aan de eindwand helpen wat, maar de geringe plasticiteit blijft. Berghoef 1951,

305 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 225 Grundrisse der Nemavo-Airey-Wohnungen an der Rivierenlaan Amsterdam, Serien 110 und 130. Abb. 226 J. F. Berghoef. N.A. Wohnungen in Emmen, inklusive Grundrissserien. 303

306 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Abb. 227 Eingangssituation einer N.A. Wohnung an der Comeniusstraat Amsterdam Sloterhof, Foto 2011 Abb Eingangssituation einer N.A. Wohnung an der Johan Huizingalaan Amsterdam Sloterhof, Foto Die Konsequenzen des Baubooms - Eine kritische Reflexion zum Wohnungs- und Städtebau der Nachkriegszeit In seiner Abschiedsrede von der Delfter Architekturfakultät (1969), betitelt `Tussen vlekkenplan und bebouwing (Zwischen Fleckenplanung und Bebauung), thematisierte Berghoef die Gestaltung der Umgebung, von der Planologie, d. h. der räumlichen Ordnung nach Bestimmung Gebrauch, bis hin zur Architektur. 772 Dem Städtebauer käme stets die Rolle des Sündenbocks zu, da er in erster Instanz den Wohn- und Lebensraum bestimmt. Da das Tempo des Städtebaus in der Nachkriegszeit zugenommen habe, sollte man aufgrund der Überbelastung die detaillierte Formausarbeitung den Architekten überlassen. Architektur und Städtebau seien zu lange getrennte Wege gegangen, konstatierte er. Die neuen Maßnahmen hätten eine Raumordnung im Sinne der Fleckenplanung unternommen, die in einer besseren Zusammenarbeit zwischen Architekten und Städtebauern mündete. 772 Berghoef

307 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Besonders in seinen späteren Publikationen und schriftlichen Zeugnissen um 1980 zeigt sich in den Dokumenten Berghoefs eine kritische Betrachtung der Entwicklung seiner Umwelt und der Baupraxis der unmittelbaren Nachkriegszeit. Überdies enthüllt sich im fortgeschrittenen Alter des Architekten eine starke Gesellschaftskritik. Noch immer offenbart sich in seinen schriftlichen Zeugnissen die Betonung, dass die Gesellschaft bestimmend sei für die Gestaltung der Umgebung. Deshalb, so Berghoef, solle die zukünftige Umgebung sich an die Entwicklung der Gesellschaft halten (z. B. zunehmende `Technokratisierung und Kollektivierung ). Es müsse stets eine humane Lebenswelt angestrebt werden. Doch seien zu diesem Zeitpunkt (1980) die Bedürfnisse nach humanen Werten noch sehr gering aufgrund der stark ausgeprägten technokratischen und ökonomischen Machteinflüsse der Gesellschaft, wie er sie nennt. 773 Dass sich der städtische Raum bis zur Leere verwässere, sei ein Zeichen der Gesellschaft und deute auf die `asoziale Welt hin, in der man in den 1980er Jahren lebe. 774 Diese Auffassung ist letztlich kennzeichnend für die Achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Neben der Frage wonen of wijken (1978), denen sich Tanghe und Vlaeminck u.a. widmen, verweist auch die Architektin und Stadtplanerin Ulla Schreiber mit Modelle für humanes Wohnen: Moderne Stadtarchitektur (1982) auf diese Entwicklung hin. 775 Wegen der hohen Bevölkerungsdichte sind besonders die Niederlande geprägt vom Wohnen auf geringem Raum. Das `Überschwappen der Städte führte schließlich zur Bildung so genannter Trabantenstädte mit der hier bereits vorgestellten Hochhausarchitektur. 776 Schreiber sah in der Vertikalarchitektur ebenfalls die Gefahr der Desozialisierung, aufgrund von Monotonie, fehlender Infrastruktur und dem Mangel an städtischen Merkmalen. In gleicher Weise könne auch der serielle Charakter von Reihenhäuser zu einer Verarmung der Lebensqualität führen. "Die Versachlichung der Architektur durch das 'Bauhaus', das eine Reinigung vom muffig gewordenen Ballast traditioneller Schnörkelarchitektur anstrebte, hat schließlich im Verlauf eines überzeichneten funktionalistischen Denkens eine industriell produzierte Wohnkistenbauweise hervorgebracht, die hinter Beton und Glas jede Menschlichkeit verkümmern lässt.". 777 Diese `postmoderne Kritik an dem Bauen der `Moderne deckt sich auch mit anderen Stellungnahmen wie der Blomeyers und Tietzes. In Opposition zur Moderne. Aktuelle Positionen in der Architektur (1980) betonen diese, dass kulturelle Identität nur durch die Interpretation der Tradition des Ortes entstehen kann. Aus dieser entwickelt sich im Folgenden eine soziale Identität, die einen wichtigen Bestandteil der Bau- und Stadtkultur darstelle. 778 Nur ein Regionalismus, wie Berghoef ihn praktiziert, nimmt sich sowohl den einzelnen Menschen als auch den gesellschaftlichen Rahmen zum Ausgangspunkt. Wie bereits erläutert, definierte Berghoef die Stadt als kulturellen Brennpunkt im Kontrast zum Land. Früher waren die Städte nach außen hin abgeschlossen. Das öffentliche Leben spielte sich in den Straßen ab, während das Private hinter den Fassaden, d. h. in den Häusern von Statten ging. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich dies. Die Industrialisierung führte zu Überbevölkerung und Städtewachstum. Die sich daraus entwickelnde Städtebaukunst von 1850 bis 1900 habe nach Ansicht Berghoefs kaum noch 773 Vgl. Berghoef 1980b, Vgl. Berghoef 1980a, 124, Tanghe et al. 1978; Schreiber Siehe Schreiber 1982, Schreiber 1982, Blomeyer und Tietze 1980, 17,

308 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau Zusammenhang mit dem Stadtkern gehabt. Auch hinsichtlich der Entwicklung des Stadtbilds zwischen 1950 und 1975 äußerte sich der Architekt um 1980 nicht sehr positiv. 779 Das Stapeln von hohen Wohn- und Bürobauten habe das Verhältnis Stadt zu Land radikal verändert. In Bezug auf die Wohnformen kritisiert er deren Uniformität, den Mangel an Identität und die geringe Relation zum öffentlichen Leben, seine eigenen Etagen-Wohnbauten in Amsterdam dabei nicht ausgenommen. Berghoef sah im Nachhinein die Problematik der neuen Wohnarchitektur darin, dass diese zu anonym war. Es seien Wohnungen `ohne Örtlichkeit, ohne Identität und ohne Wiedererkennung, nur eine Postleitzahl. Deshalb habe so ein Viertel in seinem Wesen einen asozialen Effekt. 780 Bezüglich dieser tödlichen Uniformität der Neubauviertel kritisierte Berghoef, dass diese eine starke Anonymität und `kühle Abstraktheit zwischen den Bewohnern verursache. Er bezeichnete seine Wohnblöcke im Interview mit Hilde de Haan von 1981 selbst als `Antropotheken. 781 Ursache sei, dass mit dem Streifenbau der Unterschied zwischen Vorder- und Rückseite der Wohnung verloren gehe, d. h. die öffentliche und die private Seite. 782 Diese zwei Facetten eines Wohnungsbaus spiegeln unterschiedliche funktionale Räume und Verhaltensmuster der Bewohner. Durch den freistehenden mehrgeschossigen Wohnturm werde außerdem der städtische Raum der Straße entmachtet, denn der Bewohner verliere den Kontakt zur Straße. 783 Jede Familie werde hierbei wie in einem Archiv untergebracht. Ab einer Wohnhöhe von zehn Metern verliere man den Kontakt zu seiner direkten Umgebung. Besonders für Familien mit Kindern, die auf der Straße spielen, ist jeglicher Kontakt unmöglich, was ferner zu Einsamkeit und Melancholie führe. 784 Die gleiche Ansicht vertrat bereits dreißig Jahre früher auch J. J.P. Oud. Der Verlust des Bezugs»zum Boden» sei besonders für Familien mit Kindern ungeeignet, so Oud 1951, womit er einen deutlich anderen Standpunkt vertrat als die übrigen CIAM-Mitglieder. 785 Die Diskrepanz zwischen einer Idealvorstellung von Architektur und der pragmatischen, funktionsgebundenen Ausführung von Wohnungsbauten in der Nachkriegszeit existierte folglich in allen Architektenkreisen und lässt sich nicht in ein Schwarz-Weiß-Bild von Modernismus versus Traditionalismus markieren. Sowohl Oud als auch Berghoef hatten einen wichtigen Punkt erkannt: die `neue Herangehensweise hatte bestimmte essentielle psychologische, soziale und städtebauliche Faktoren aufgegeben. Was hier von Berghoef angesprochen wird, ist das Problem des Massenwohnungsbaus im Hinblick auf die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung von Architektur. Durch die Uniformität der Wohnungen verschwand jegliche persönliche Referenz an den individuellen Platz der Bewohner in der Gesellschaft. Berghoef sprach sich folglich für 779 Vgl. Berghoef 1980a. 780 De Haan 1981, De Haan 1981, Auf diesen Aspekt weist auch Berghoefs Kompagnon Hondius hin. Siehe Beitrag Hondius in: Berghoef 1980a, 3ff. 783 Übersetzung JM: Originalzitat: Met de strokenbouw verdwijnt het voor en achter van de woning, dat wil zeggen de zijde naar de openbaarheid en de private zijde, twee facetten van een huis, die met maatschappelijke en private gedragscodes te maken habben en bovendien ook functioneel verschillen. Ingrijpender is dat de straat, de stedelijke ruimte, ontkracht wordt, wat met vrijstaande hoge woongebouwen trouwens nog pertinenter gebeurt. Hoog wonen, zo boven een meter of tien, heeft bovendien het nadeel dat men de relatie met de grond, met wat beneden gebeurt kwijtraakt, visueel en mentaal. De Haan 1981, BERX s Engelberg-Dockal 2006,

309 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau einen Individualismus und gegen eine radikale Gleichschaltung im Wohnen aus. Das was an Amsterdam-Süd (Berlage) positiv war, fehle in Amsterdam-West. Hier gab es ihm zufolge keine Struktur und kein städtisches Ambiente, denn es fehle der richtige Maßstab, d. h. das Maß zwischen dem Objekt und seiner Umgebung und das Maß zwischen dem Objekt und dem Menschen. Besonders beim Wohnviertel müsse der Mensch das Ausgangsmaß sein, so Berghoef bereits im Jahr An den neuen städtischen Strukturen bemängelt Berghoef überdies, dass Wohn- und Arbeitsort weit voneinander entfernt liegen, und sich die Wohngebiete deshalb entleeren würden. Auch in den Gartenstädten sah er um 1980 ein großes Übel: Formlosigkeit und das Fehlen eines sozialen Miteinanders habe enorme Auswirkung auf die Entwicklung der Jugend. Er sieht den Fehler der Gartenstädte darin, dass man damals unter Verkehr nur das Auto und nicht gleichfalls den sozialen Umgang des Menschen verstanden habe. Berghoef verstand die Stadt nicht nur als eine Ansammlung von Gebäuden, sondern als `eine Einheit von variierten Räumen, von denen jeder eine eigene charakteristische Abgrenzung besaß. Berghoef sah die Bebauung als Mittel, um den öffentlichen Raum zu schaffen, in dem sich das Gesellschaftsleben abspielt. Die Fassaden bildeten die `Wände und den `Dekor dieser Räume, in denen der Mensch agiert. Diese Art und Bedeutung des `menschlichen Verkehrs habe man bei der städtischen Planung häufig übersehen. Die CIAM verstand unter Verkehr nur den wirklichen Transport. Doch der wirkliche urbane Verkehr sei in der Nachkriegszeit `terra incognita geblieben. 787 In den nach 1945 entstandenen Vierteln fehlten somit in den Augen des Architekten Berghoef die soziale Komponente und der gesellschaftliche Umgang. 788 Denn die Essenz der Urbanität, d. h. `die Verflechtung von Funktionen wie Wohnen, Erholung, Spielen, Lernen, Arbeiten und allem, was hieran gekoppelt ist wie Einkaufen, Begegnung, Kommunikation und Interaktion sei in der architektonischen Aufgliederung nach Funktionsbereichen gescheitert. 789 Dadurch seien die `neuen Wohnviertel monoton und einsam geworden. Die infrastrukturellen Einrichtungen ständen entweder konzentriert in Zentren oder lägen zu extern. Dadurch müssten zu große Distanzen zurückgelegt werden durch `ungeschütztes Gebiet, wo es an Urbanität mangle. 790 Berghoef vermisste eine gleichmässige räumliche Verteilung. Die Essenz der Stadt beschreibt Berghoef mit den Worten, dass alles miteinander verflochten sei und jedes Element sein eigenes Wesen und Charakter zeige. In diesem Sinne bezieht er sich auf Aristoteles: jedes Kunstwerk sei das Schönste, das seine Eigenart behält und trotzdem ins Ganze passt. Dies gelte 786 Berghoef Übersetzung JM: Originalzitat: Een stad is niet zomaar een verzameling van gebouwen dan wel een geheel van gevarieerde ruimten, elk duidelijk van gestalte en met eigen karakteristiek en duidelijke begrenzingen. De op rooilijnen geplaatste gevels vormen de wanden en het decor, waarbinnen men gaat en staat, boodschappen doet [.]. Het is deze betekenis van verkeer het vrijblijvend omgaan met anderen die met de trits wonen, werken, recreëren en verkeer totaal over het hoofd gezien werd en wordt. Berghoef, Johannes F.: Architectuur en Stedebouw: Spiegel van de Samenleving. In: De Haan 1981, Vgl. Berghoef 1980a, Übersetzung JM: Originalzitat: de vervlechting van functies, van wonen, recreëren, spelen, leren, werken en al wat daarmee annex is, zoals winkelen, groeten, een praatje, samen oplopen, kijken naar of meedoen; en dat alles binnen maatschappelijke verkeercodes. Het naar functies uiteenleggen van het gebouwde is een ramp gebleken. Berghoef, Johannes F.: Architectuur en Stedebouw: Spiegel van de Samenleving. In: De Haan 1981, Die neuen Polder böten zwar neue Chance, doch seien die neuen Ansiedlungen wie Lelystad und Almere kein Beitrag zu urbaner und ländlicher Schönheit. Siehe Aangevulde alternatieve stand van zaken, Januar BERX s158 (0575). 307

310 Kapitel 7 Wohnen auf dem Land und in der Stadt - Vom Reihenhaus zum Etagenbau auch für das gesellschaftliche Zusammenleben. 791 Architektur und Städtebau, mit ihrer vornehmsten Aufgabe des Kulturschaffens, war in der nachkriegszeitlichen Umsetzung an einigen Stellen gescheitert. Aus diesen Fehlern musste gelernt werden. Eine differenzierte Betrachtung aus aktueller architekturhistorischer und denkmalpflegerischer Sicht ist deshalb notwendig. Diese wurde und wird u.a. von Kuipers und Van Santen unterbaut. Zwar sei der Glanz des Wiederaufbaus inzwischen verblichen, doch verdienen Gebäude, die während und nach dem Krieg gebaut wurden im 21. Jahrhundert mehr Beachtung und diese Aufgabe kommt aus Sicht der beiden Autoren der Denkmalpflege zu. Dies betrifft auch die rund eine Million Wohnungen, die zwischen 1945 und 1965 mittels Präfabrikation und Standardisierung gebaut wurden. 792 Abschließen können wir dieses Kapitel mit einem Zitat Berghoefs, das auf treffendste Weise dessen retrospektive Sicht und Herangehensweise auf den Wohn- und Städtebau verbildlicht. Grosso modo kann man konstatieren, dass Architektur und Städtebau auf redliche Weise den menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen an Obdach dienen müssen, doch gleichzeitig liefern sie damit auch ein konkretes Bild des Zusammenlebens in seiner Struktur, seinem Streben und seinen Potentialen. 793 Und dieses Bild des gesellschaftllichen Zusammenlebens ist immer zeit- und ortsgebunden. 791 Siehe undatierten Vortragstext Berghoefs in BERX s Van Santen en Kuipers Übersetzung JM: Originalzitat: Grosso modo kan men stellen dat architectuur en stedebouw op redelijke wijze dienen te voorzien in menselijke en maatschappelijke behoeften aan onderdak, maar tegelijk geven zij daarmee een concreet beeld van de samenleving in haar structuren, strevingen en potenties. Vgl. Berghoef in: De Haan 1981,

311 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Op dat ogenblik waren wij, waren de meest radicale geesten onder ons, overtuigd, dat wij het eigen cultuurgoed moesten vasthouden en beschutten: wij waren allen vastbesloten tot bewaren. Berghoef, Die Geschichte der niederländischen Moderne ist nicht nur eine Geschichte des Städtebaus, sondern auch des Wiederaufbaus. Kaum ein anderes europäisches Land hat im 20. Jahrhundert mit seinen städtebaulichen Maßnahmen so viel Aufmerksamkeit geweckt wie die Niederlande mit Projekten wie den IJsselmeerpoldern, Neugründungen wie das Dorf Nagele und städtischen Ausbreitungsplänen wie in Amsterdam. Dabei waren nicht nur die allgemeinen Projekte zur Landgewinnung, Neuanlegung von Siedlungen und städtischer Erweiterung, wie sie im vorrangegangenen Kapitel schon beschrieben wurden, Teil der Tätigkeit Berghoefs. Auch der Wiederaufbau zerstörter historischer Innenstädte stellte einen Aufgabenbereich dar, mit dem er sich intensiv auseinandersetzte. Sein persönlicher Beitrag ist am Wiederaufbau der historischen Innenstadt von Middelburg abzulesen. Der städtische Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete für viele europäische Städte nicht nur in finanzieller und organisatorischer Hinsicht eine große Herausforderung. Zu diesem Zeitpunkt entwickelte sich im Kontext der gesellschaftlichen und materiellen Restauration ein neues Denkbild, das in vielen Städten den Wiederaufbau als Möglichkeit einer architektonischen Erneuerung sah. 795 Der zugefügte Schaden wurde zur Mobilisierung einiger rein auf die Zukunft ausgerichteter Programme genutzt. Demgegenüber standen Positionen zur Wiederherstellung vorkriegszeitlicher Zustände sowie Wünsche des Erhalts und des Bewahrens nationalen Erbguts in Zeiten der Fremdbesetzung und Zerstörung. In den Niederlanden forderten besonders die Städte Middelburg und Rotterdam ein hohes Maß an Wiederaufbauleistung und gleichzeitig enorme Eingriffe in die bisherige städtebauliche Situation, und zwar schon zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. 796 Während der Wiederaufbau der Städte Rotterdam und die Neugründung von Nagele von Architekten des sogenannten `modernen Lagers in die Hand genommen wurde, gelten die Städte Middelburg und Rhenen als Objekte traditionalistisch-historisch geprägter Wiederaufbauprogramme. Die architekturhistoriografische Diskussion rund um die Zweiteilung in Modernismus und Traditionalismus bediente sich dieser `konträren Wiederherstellungsprogramme, um das konstruierte Schisma von Moderne und Tradition weiter zu unterbauen. Die genauen Beweggründe der getroffenen Maßnahmen wurden jedoch noch nie ausführlich miteinander verglichen. In Bezug auf die übergeordnete Fragestellung interessiert die Frage, ob das Streben nach Erhalt der nationalen Kultur tatsächlich als a-modern zu beurteilen ist. Lagen den Plänen und Maßnahmen des historischen Wiederaufbaus rein konservative Ideen städtebaulicher und architektonischer Wiederherstellung zugrunde, oder spielten auch hier Aspekte einer funktionalen Zukunftsorientierung eine Rolle? Welche Auffassungen bezüglich Kontinuität 794 Berghoef 1946b, Siehe u.a. Wederopbouw 1946; Vragen en antwoorden Vgl. Colenbrander 1984a,

312 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg und Erneuerung vertraten die Beteiligten? Die Stadt Middelburg dient im Folgenden als Fallbeispiel eines sehr umfangreichen und auch umstrittenen Wiederaufbauprojekts der Niederlande. Die Analyse richtet sich dabei auf eine Betrachtung der allgemeinen urbanen Restauration der Innenstadt und einem spezifischen Gebäudekomplex: die restaurierte Abteianlage und das neugebaute Provinzenhaus von Berghoef. Bereits zu Beginn der 1940er Jahre, kurz nach der ersten Zerstörung der Middelburger Innenstadt, erhielt er den Auftrag zum Entwurf des neuen Provinzenhauses, dem Gebäude zur Unterbringung der Provinzialverwaltung der Provinz Zeeland. Es sollte im Rahmen der wiederaufzubauenden Abtei im Stadtzentrum entstehen. Die Herangehensweise Berghoefs an diese Aufgabe liegt begründet in seiner Sichtweise zum Städtebau, der Bedeutung des Stadtzentrums und dem Umgang mit historischer Architektur, insbesondere im Kontext des Wiederaufbaus. Doch handelte es sich bei dem Gebäude für die Provinzialverwaltung nicht nur um eine Wiederherstellung, sondern auch um eine Erweiterung der wiederaufgebauten und restaurierten Abtei. Das neue Verwaltungsgebäude war eine Hinzufügung eines baulichen Elements in einen wiederhergestellten historischen Komplex. Dies brachte diverse Aspekte der Einpassung, Anpassung sowie Erfüllung aktueller Gebrauchsanforderung mit sich. 797 Die Schlagwörter, die uns rund um die Diskussion nach Tradition und Moderne im niederländischen Wiederaufbau interessieren sind demnach die Frage nach dem Charakter und der Formgebung der Wiederaufbauarchitektur. Wie fügte Berghoef seine Architektur in den wiederaufgebauten und bestehenden städtebaulichen Kontext ein? Ferner interessieren der Umgang des Architekten mit historischer Architektur und kulturellem Erbgut. Einleitend hierzu eine kurze Übersicht über die Rahmenbedingungen des Wiederaufbaus der Innenstadt Middelburgs. Der städtische Wiederaufbau von Middelburg ( ) und die Restauration der Abtei ( ) Am 17. Mai 1940 wurde ein Luftbombardement auf Middelburg verübt, das der Stadt den größten Schaden ihrer Geschichte zufügte. Angefacht durch einen stetigen Nordwind griff das Feuer im Zentrum schnell um sich, so dass beinahe die gesamte städtische Struktur, die bis dato in ihrer historischen Form unangetastet geblieben war, auf einem Schlag vernichtet wurde. Die Anzahl der Todesopfer blieb dank einer zeitigen Evakuierung sehr gering, doch der materielle Schaden stellte sich als umso gravierender heraus. 537 Häuserblöcke, davon 470 im Zentrum der Stadt, waren zerstört. Von den 18 verwüsteten öffentlichen Gebäuden bedeuteten die Abtei und das Rathaus den größten architektonischen Verlust (Abb. 229). 798 Die Stadt als kollektive Erinnerung seiner Bewohner war zerstört und die architektonischen Artefakte, die den konkretesten und fassbaren Teil einer Stadt ausmachen, waren verloren gegangen. 799 Nach dem Bombardement standen die Niederlande unter deutscher Besatzungsmacht und der Planungspolitik der Nationalsozialisten. Der Wiederaufbau der bombardierten Innenstädte bedeutete zwar die umfangreichste Bautätigkeit, die es zu bewältigen gab, doch entzog sich diese auch in Teilen dem Einfluss der Nationalsozialisten, wie sich am Beispiel Middelburg 797 Eine erste Analyse dieser Aspekte wurde von der Autorin bereits in einem Artikel in 2011 veröffentlicht. Vgl. Meyer Das hier vorliegende Kapitel stellt die erweiterte und überarbeitete Analyse dar. 798 Bosma, K.: Het bombardement. In: Bosma 1988, 12-21; Bosma und Taverne Vgl. die Beschreibung einer städtischen Struktur nach Aldo Rossi in: Brand und Janselijn 1983,

313 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg zeigt. 800 Das Interesse an Kontrolle und Mitsprache von deutscher Seite äußerte sich jedoch in der Errichtung eines Organs für räumliche Planung der Niederlande. 801 Herman Roloff wurde durch die Reichsstelle für Raumordnung in Berlin mit dieser Aufgabe belegt. Die niederländische Spitze der Beamten des Dienstes für Wiederaufbau und die ausführenden Architekten entzogen sich jedoch im Verlauf der Wiederaufbautätigkeit in großen Teilen erfolgreich dem Einfluss der Besetzer. J.A. Ringers ( ) wurde schließlich als Reichskommissar für den Wiederaufbau der Niederlande eingesetzt und als zentrale Personen für Zeeland agierten Ir. Jan de Ranitz und R.W. graaf Van Lynden für das Gebiet Walcheren. Am 6. November 1940 wurde schon die Stichting Herbouw Middelburg (Stiftung für den Wiederaufbau von Middelburg) durch den Gemeinderat ins Leben gerufen. In einem weiteren Schritt wurde der Architekt und Stadtplaner Pieter Verhagen mit der Planung und Umsetzung des Wiederaufbauprogramms der Stadt Middelburg beauftragt. 802 Die Entwicklung der Wiederaufbaupläne wurde daraufhin den städtebaulichen Beauftragten und den vor Ort agierenden Architekten überlassen, so dass die Position der niederländischen Städtebauer demnach recht dominant war. 803 Abb. 229 Abteikirche in der Middelburger Innenstadt nach dem Bombardement im Mai Der Wiederaufbau einer historischen Modellstadt Da der Wiederaufbau der Stadt Middelburg von Ringers und seinem Mitarbeiterstab als Modell für den Wiederaufbau der gesamten Niederlande betrachtet wurde 804, lassen sich hieran 800 Vgl. Taverne, In: Bosma 1988, Mit dem sogenannten Basisbeschluss vom 14. Mai 1941 wurde nach deutschem Model ein streek- en nationaal -Plan außerhalb des Wohnungsgesetzes geregelt, so dass es zu einer für die Niederlande unübliche Trennung zwischen Wohnungsbau und räumlicher Ordnung auf regionalem und nationalem Niveau kam. Diese Entwicklung wurde nach dem Krieg gesetzlich bestärkt und war deshalb von großem Einfluss auf den Charakter des Wiederaufbaus. Siehe hierzu ausführlicher Taverne, In: Bosma 1988, Vgl. Colenbrander, B.: De organisatie van de Wederopbouw, In: Bosma 1988, 14-21; Colenbrander 1984b. 803 Vgl. Cusveller et al. 1983, Vgl. Taverne, In: Bosma 1988,

314 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg wichtige städtische und architektonische Ideen niederländischer Architekturgeschichte dieser Zeit ablesen. Im Falle Middelburg galt es, die alte Glorie der Stadt wiederherzustellen. Diese Zielsetzung erhielt in den besetzten Niederlanden eine politische Bedeutung. 805 Das Propagieren niederländischer Kultur wurde, besonders im Nachhinein, d. h. nach der Befreiung 1945, als Zeichen des Widerstands gegen die deutsche Besatzungsmacht verstanden. 806 Das historische Konzept des Wiederaufbaus Middelburgs widersprach dabei in keiner Weise dem Interesse der deutschen Besetzer, die sich ab Herbst 1940 stärker für das Wiederaufbauprogramm der Stadt interessierten. Auch ihnen lag die Zerstörung Middelburgs noch schwer im Magen. Doch sollte selbstverständlich nicht die Autonomie der Niederlande unterstützt werden. Im Gegenteil: In Abgrenzung zum nahgelegenen Großbritannien wurde dieser Wiederaufbau als germanisch und lokalhistorisch begründet. 807 Eine Stellungnahme von Arthur Seyss-Inquart 1940 von deutscher Seite als Reichskommissar angestellt über den Wiederaufbau von Middelburg macht das Paradoxon deutlich. Zum einen sollte der Wiederaufbau der Stadt an eine deutsch-europäische Tradition anknüpfen, zum anderen sollte mit einer bestimmten Tradition gebrochen werden, nämlich der Verbindung der Niederlande als eine Art Kolonie Britanniens. 808 Demnach sollte der Wiederaufbau der Stadt Middelburg im Sinne der Deutschen als Paradebeispiel für den ganzen Aufbau der neu besetzten Region fungieren. Da also in vieler Hinsicht das Ziel Middelburg in historischer Weise wieder herzustellen von deutscher und niederländischer Seite unterstützt wurde, entwickelten die Akteure im Folgenden verschiedene Wiederaufbaupläne. Abb Stadtplan Middelburg vor Die Wiederaufbaupläne der Innenstadt Kurz vor der Zerstörung von 1940 verwies die Kontur des gotischen Stadtzentrums Middelburgs 809 durch die Anwesenheit eines Walls und einer umlaufenden Gracht auf die zirkelförmige Umschließung der ursprünglichen Fluchtburg, die ins 9. Jahrhundert 805 Im Zuge der deutschen Besatzung tritt für den Abteikomplex auch die historisch unzutreffende aber propagandistisch brauchbare Bezeichnung `Reichsabtei erstmals in Erscheinung. 806 Bosma, K.: Het bombardement. In: Bosma 1988, Zur deutschen Intervention siehe Bosma, K. in: Bosma 1995, 129. und Van der Peet 1995, 101f. 808 Vgl. B. Colenbrander in: Plan 15 (1984) 2, 20; Bosma 1984a, 21. Ferner erhielten die Region Walcheren und der Hafen von Vlissingen eine wichtige Bedeutung aufgrund der Nähe zu England. Vgl. Bosma 1995, Vgl. Verhagen 1941, A43-A44; Steenhuis 2007, 311 inkl. Fußnote

315 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg zurückdatieren ist (Abb. 230). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich bereits gezeigt, dass das historische Stadtzentrum im Zuge des wachsenden Gebrauchs des Automobils für einen optimalen Verkehrsfluss unzureichend war. Es mangelte im Wesentlichen an einer breiten Nord-Süd-Verbindung und an breiten Ausfallstraßen. Die Wiederaufbaupläne der Innenstadt nahmen sich im Rahmen der aktuellen Umstände dieses Problems an und suchten nach städtebaulichen Lösungen. 810 Es kam unweigerlich zu einer Spannung zwischen dem Wunsch das alte Stadtbild wieder herzustellen und dem Bestreben durch Verkehrseingriffe, Ausbau der Ladenbetriebe und dem notwendigen neuen Wohnungsbau die Stadt zu modernisieren. 811 Denn die zukünftige Funktion Middelburgs wurde als touristische Attraktion, Marktplatz für den Raum Walcheren und Verwaltungssitz von Zeeland definiert. Darüber hinaus wurde von Verhagen die Schönheit der gotischen und barocken Architektur der Stadt unterstrichen. 812 D. h. es handelte sich bei Verhagens Herangehensweise in erster Linie um ein ästhetisches Konzept einer historischen Innenstadt. Im Sinne eines theoretischen, städtebaulichen Modells muss das Wiederaufbaukonzept deshalb als planologische Aktion gesehen werden. 813 Ausgangspunkt für Verhagen waren die städtischen Funktionen Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Freizeit und das Ziel den Wiederaufbau als Einheit durchzuführen. 814 Infolgedessen wurden die beiden städtischen Dominanten entsprechend einem hierarchischen Ordnungsprinzip innerhalb der Stadt herausgelöst. 815 Während zum einen das Rathaus und der Marktplatz als Handelszentrum verstanden werden und deshalb die Ladenstraße hierhin führen, wird zum anderen die Abtei als Ruhepunkt in der Stadtmitte hauptsächlich von Wohnhäusern gerahmt. 816 Innerhalb des neu geschaffenen Stadtbilds dienen diese beiden Dominanten als Effekte. Eine ähnliche städtebauliche Planung wurde dem Wiederaufbau der Stadt Rhenen von Architekt und Städtebauer Cornelis Pouderoyen zugrunde gelegt. Auch hier bilden Rathaus und Kirche die architektonischen Ausgangspunkte der Stadtplanung und Neuanlegung von Straßenrastern. 817 Die Idee und Ausführung dieses städtebaulichen Programms ist demnach kein Einzelfall in den Niederlanden. Der Stadtplaner Verhagen war neben Middelburg auch am Wiederaufbau von Nijmegen beteiligt gewesen. Während sich der Wiederaufbauplan der Stadt Nijmegen aber im Wesentlichen als Sanierungsplan charakterisieren lässt, kennzeichnet sich das notwendige Programm für Middelburg als komplexe Wiederaufbauaufgabe. 818 Bei beiden Städten wandte Verhagen ein Straßenmuster an, das bestimmte Gebäude im Stadtbild betont, um auf den Besucher einen großen monumentalen Effekt auszuüben. Außerdem gab es von jeder herzustellenden Straßenwand eine gezeichnete Ansicht und Materialzuweisung von Verhagen, an die sich die auszuführenden Architekten als Schemavorlage zu halten hatten. Der Wiederaufbauplan der Stadt Middelburg sollte nicht nur den alten Stadtgrundriss 810 Bosma 1988, 28f. 811 Bosma Vgl. Verhagen 1941, A Cusveller et al Vgl. Verhagen 1940, Vgl. Verhagens Definition von Massenhierarchie, zitiert bei Bosma 1995, 127 inkl. Anm Vgl. Verhagen 1940, Zur Übersicht des Wiederaufbaus von Rhenen siehe Bosma 1984b. Ansonsten verweise ich auf Pouderoyen Vgl. Steenhuis 2007,

316 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg wiederherstellen, sondern diesen verstärken. Genau dies wurde durch die Kritiker als dekorativ und unwirklich typisiert. 819 Insgesamt wurden im Rahmen des Wiederaufbauprogramms für Middelburg vier Pläne zur Stadterneuerung entwickelt. Der erste Plan von De Ranitz ist nicht erhalten und wird nur in Korrespondenzen erwähnt. Die folgenden drei Pläne (A bis C) unter der Leitung von Verhagen zeigen die neu geplante Straßenführung und die Ausmaße wieder herzustellender Häuserblöcke. In Plan C wird deutlich, dass eine stärke Nord-Süd-Ausrichtung gesucht wurde (Abb. 231). Letztlich sollten fünf große funktionale Eingriffe das zukünftige Stadtbild Middelburgs bestimmen: die Verbreiterung des Rings Lange Delft zum Verkehrsring, die Anordnung von zwei Ausfallstraßen, die Anlegung eines grünen Innenrings, die Veränderung der Diagonalen Achse in eine Bajonettform und schließlich die Verschiebung des Marktplatzes. 820 Überdies wurden zwei dominante Gebäude im Stadtbild freier gestellt: Das Rathaus und die Abtei (Abb. 232). Sie wurden von Verhagen, ganz im Sinne eines traditionellen Stadtbilds, als visueller Ausdruck des Profanen und des Sakralen verstanden. Sie sollten als selbstständige architektonische Elemente im Stadtbild ästhetische und großräumige Referenzen liefern. 821 Das Rathaus erhielt eine Wiederherstellung seiner gotisch-barocken Grundsubstanz. Die ehemaligen Anbauten des 17. und 18. Jahrhunderts hatten jedoch zu großen Schaden genommen und mussten abgerissen werden. An ihrer Stelle übernahm ein neuer Anbau die modernen Anforderungen zur Unterbringung des städtischen Verwaltungsapparats. 822 Dementgegen mussten für den Abteikomplex weiträumigere Pläne entworfen werden. Abb Plan C zum Wiederaufbau Middelburgs 819 Bosma 1995, Steenhuis 2007, Vgl. Bosma 1995, 127. Die Idee der zwei Dominanten im Stadtbild ist jedoch schon bei De Ranitz zu finden. Siehe Steenhuis 2007, Siehe hierzu Verschoor, K.; Bosma, K.: `De herbouw van het stadhuis. In: Bosma 1988,

317 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb Rathaus und Abtei von Middelburg. Die Restaurationsprogramme der Abtei Die Abteigebäude hatten einen gravierenden Schaden erlitten und da auch dieser Baukörper auf eine lange Baugeschichte zurückblickte, bedeutete dies einen herben Verlust an historischer Bausubstanz. Die schon zu Beginn des 12. Jahrhunderts gegründete Abtei war im 16. Jahrhunderts von einer kleinen Klostergemeinde zu einem mächtigen kirchlichen Zentrum geworden. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde die Abtei durch die Truppen des Prinzen von Oranien besetzt, im Folgenden säkularisiert, und reformierte zum Hof von Zeeland. 823 Der Nutzung als Administrationssitz haben die Gebäude zwar ihre grundsätzliche Erhaltung zu verdanken, doch wurde die Instandhaltung eher vernachlässigt. 824 Zum Zeitpunkt des Wiederaufbaus bildeten die Restaurationsarbeiten des Architekten J. A. Frederiks, durchgeführt von 1885 bis 1917, die letzte zu berücksichtigende Bauperiode der Abtei. Da man im Laufe der Zeit viele tragende Bauteile u. a. stark verändert bzw. abgerissen hatte, war der Gebäudekomplex in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr baufällig geworden. Frederiks Restaurationskonzept beinhaltete eine persönliche Formgebung der Abtei nach eigener Vorstellung spätmittelalterlicher Architektur (Abb. 233). Es handelt sich demnach bei Frederiks Bautätigkeit zwar um die fünfte große Bauperiode der Abtei, doch erstmals nicht um eine Vergrößerung, sondern um eine Restauration. 825 Diesen Umstand galt es, bei den Wiederaufbauplänen nach 1940 zu berücksichtigen. Überdies fand bis zur Vollendung des Wiederaufbaus der Abtei Ende der 1960er Jahre eine große Veränderung im Nordosten der Abtei statt (Abb. 234). 823 Zur Geschichte der Abtei siehe: Unger 1941, Vgl. Verschoor, K.: De herbouw van het abdijcomplex. In: Bosma 1988, Vgl. De Lussanet de la Sablonière 1951,

318 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb Ansicht Ostflügels des Klostergangs, um Abb Grundriss der Abtei 1939 (links) und 1970 (rechts). Legende: A. Balanspoort B. Ehemaliges Vikarsgebäude C. Neues Reichsarchiv D. Restaurant De Abdij E. Provinciale Griffie van Zeeland F. Ehemaliges Thoolse Huis G. Neue Conciergewohnungen H. Gistpoort J. Chorkirchenhof K. Torgebäude der Chorkirche L. Ehemalige Abtswohnung M. Ostflügel des Pandhof N. Nordflügel des Pandhof O. Klostergang P. Westflügel des Pandhof Q. Ehemalige Speisesäle R. Ehemaliger s Gravenhof S. Ehemaliges Gästehaus T. Provinzialmuseum von Zeeland U. Abteiplatz V. Chorkirche W. Dienstgebäude der Nederlands Hervormde Kerk X. Nieuwe Kerk. In der Planung und Durchführung des Wiederaufbaus der Abtei polarisierten sich schnell diverse Parteien, die gegeneinander arbeiteten. 826 Auf der einen Seite standen Seyss-Inquart und Professor Snijder als Sympathisant der Rechtsradikalen. 827 Sie agierten gemeinsam mit Haakma Wagenaar und George C. Labouchere, um ihr Vorhaben der Erbauung einer historisch wiederhergestellten, gotischen Abtei mit monumentaler Wirkung in die Tat umzusetzen. Demgegenüber standen Dr. Jan Kalf als wichtiger Vertreter der Reichskommission für Denkmalpflege sowie die vier ausführenden Architekten der Restauration der Abtei: Hans de 826 Salet Zur Vision des Wiederaufbaus von Snijder u.a. siehe Bosma 1995,130 inkl. Anm

319 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Lussanet de la Sablonière, Arend Rothuizen, Herman van der Kloot Meyburg und Jan De Meyer. Sie unterstanden der Aufsicht Verhagens (Direktor der Stichting Herbouw Middelburg) und setzten sich als Ziel eine typisch niederländische Abtei mit malerischem Charakter und zeitloser Nutzbarkeit zu schaffen. 828 Die bedeutende Ausgangsfrage war, auf welcher Basis ein Wiederaufbauprogramm überhaupt erstellt werden konnte. Nach dem Luftangriff waren nur noch wenige Gebäudetrakte unversehrt geblieben, darunter die Chorkirche, das Thoolse Huis, der romanische Unterbau der Balanspoort und die Gistpoort. Unmittelbar zwischen 1940 und 1950 kam es zu den ersten Maßnahmen der Konservierung der erhaltenen Bauteile. Doch wurden viele Schuttteile allzu schnell Opfer der Witterung, bevor die Baufragmente dokumentiert werden konnten. Die größte Problematik für die Wiederherstellung der Gebäude bestand darin, dass es zum Zeitpunkt der Zerstörung keine gesicherten Daten des aktuellen Bauzustands gab, d. h. keine Pläne, Zeichnungen oder Maßangaben. Zwar waren aus der Zeit der Restaurierung Frederiks noch einige Baupläne vorhanden, doch ohne anwendbare Abmessungen bzw. Messdaten. 829 Eine wichtige Grundlage der Wiederherstellung der Abtei war deshalb in erster Linie die äußere Formrekonstruktion nach dem ursprünglichen Zustand des 16. Jahrhunderts. Die Rekonstruktionszeichnungen von De Lussanet de la Sablonière liefern hiervon ein gutes Bild (Abb. 235). 830 Diese zeichnen sich u.a. durch unterschiedliche Dachhöhen, rhythmisch angeordnete Dachkapellen und stilisierte Kreuzfenster diverser Größen aus. Die schlussendliche Ausführung zeigt sich dabei im Vergleich zum Vorkriegszustand und auch der publizierten Rekonstruktionspläne von De Lussanet de la Sablonière noch um einiges schlichter hinsichtlich des Formvokabulars und des Dekors. 831 Als charakteristisches Baumaterial wurde an den Abteigebäuden großflächig Backstein verbaut mit Naturstein für gesonderte Rahmenund Dekorationselemente. Im Inneren wurde der Bau jedoch den aktuellen Nutzungen angepasst. 832 Besonders hinsichtlich der Raumaufteilung und den Tür- und Fensterdurchbrüchen wurde im Kern der Gebäude zweckdienlich geplant. Da einige Zeit lang der Gebrauch von Holz für die Deckenkonstruktion aufgrund des Materialmangels verboten war, wurde teilweise auf Beton zurückgegriffen. 833 Dabei stellte der Gebrauch von Beton als modernes Baumaterial in der Wiederherstellung der Abtei dazumal einen vielumstrittenen Diskussionspunkt dar. Insbesondere Haakma Wagenaar und Labouchere, als Beauftragte von Seyss-Inquart, kritisierten den möglichen Aufwand späterer Umbauten und forderten demontierbare Betonelemente. 834 Neben einem Mangel an Baumaterialien wie z. B. teurem Holz, besonders in der Nachkriegszeit, kam es fernerhin zu einer verstärkten Schlichtheitsanforderung besonders hinsichtlich des Interieurs. 835 Denn es war trotz 828 Verschoor, K.: De herbouw van het abdijcomplex. In: Bosma 1988, Auch wenn einzelne Gebäude schon Reichseigentum waren, wurde der Rest in den 1930er vom Staat aufgekauft. Finanziell war der Kirchenkomplex zum Zeitpunkt der Zerstörung nicht versichert, darum übernahm die Regierung in Den Haag größtenteils die Finanzierung der Wiederaufbaukosten. 829 De Lussanet de la Sablonière 1980, Vgl. De Lussanet de la Sablonière 1951; De Lussanet de la Sablonière Vgl. De Lussanet de la Sablonière 1980, 78 Abb. 137, 83 Abb Vgl. Abb. 5 plus Legende. 833 Ausgeführt wurden diese Arbeiten von dem Büro für Betonkonstruktion des Jan Emmen. Dabei wurde versucht so viel ursprüngliche Bausubstanz wie möglich zu erhalten. Siehe Van der Peet 1995, Van der Peet 1995, De Lussanet de la Sablonière 1980, 13f. 317

320 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg langandauernder Diskussionen um die zukünftige Nutzung der Gebäude absehbar, dass es viel Bedarf an nüchternen und einfachen Büroräumen geben würde (z. B. Gebäude N/Flügel des Klostergangs zur Unterbringung der Polizei und des Steueramtes). Abb Restaurationsentwürfe für die Gebäude R und S von De Lussanet de la Sablonière. Kirchen und Klostertrakt Für den Wiederaufbau der beiden Kirchen Koorkerk und Nieuwe Kerk, die man getrennt vom Wiederaufbau des restlichen Komplexes hielt, wurden Van der Kloot Meyburg und Arend Rothuizen beauftragt. 836 Fredericks hatte bei seinen Restaurationsarbeiten den Kirchen die Form verliehen, so wie er ihren ursprünglichen Zustand verstand. Van der Kloot Meyburg und Rothuizen hingegen stellten sich selbst zum Ziel notwendige Korrekturen an Frederiks Werk zu vollziehen. Grundlage war eine Restaurationsform, die in das Gesamtkonzept der wiederherzustellenden Abtei passte. Historisch bedingte Umbauten sollten nicht gänzlich verneint werden. Die Restaurationsstudien von Haakma Wagenaar für die Wiederherstellung der Kirchenräume hingegen weisen stark replizierende Bestrebungen auf. Die Freilegung von Überresten einer romanisch-gotischen Kapelle während der Restaurierungsarbeiten an der Nordmauer der Chorkirche, führten zu Haakma Wagenaars Rekonstruktionsvorschlägen zur Wiederherstellung des Interieurs (Abb. 236). 837 Der Vorschlag zur Ausführung basiert jedoch auf einer Vermischung des Gewölbes des 16. Jahrhunderts mit den Fenstern des 15. Jahrhunderts. Insgesamt zeigen alle Studien der Kirchen von Haakma Wagenaar, dass es sich in erster Linie um analytische Baustudien und detaillierte Aufnahme des aktuellen Bauzustands handelt. Seine Beschäftigung als Restaurator und der damit verbundene Anspruch auf architektonische Korrektheit sprechen sichtlich aus diesen Zeichnungen heraus. Doch sein Entwurf zur Wiederherstellung weicht trotz allem von diesem Sachverhalt der historischen Formkorrektheit ab. Die Fotos in der Publikation über die Abtei von Middelburg von De Kok (1965) zeigen das Interieur der Chorkirche nach ihrer Fertigstellung. An diesen wird ersichtlich, dass die Architekten Rothuizen und van der Kloot Meyburg eine eigene Restaurationsform für den 836 Van der Kloot Meyburg und Rothuizen Zur Kapelle siehe De Lussanet de la Sablonière 1951, 11 Abb. 13 und

321 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Chorbereich gefunden hatten, die in vielen Teilen auch Elemente der Studien und Entwürfe Haakma Wagenaars wiedergeben (Abb. 237). Abb Rekonstruktionsentwürfe von Haakma Wagenaar für die Chorkirche, gezeichnet 1943: v.l.n.r. Zustand 15. Jahrhundert, Zustand Ende 16. Jahrhundert, Restaurationsvorschlag. Abb Interieur der Chorkirche 1960er Jahre. Überdies lieferte Haakma Wagenaar auch für den Langen Jan, dem Turm der Abtei, eine Restaurationsstudie (Abb. 238). Diese zeigt zwei ausgeführte Turmaufsätze des 16. und 18. Jahrhunderts, die jeweils 1712 bzw Bränden zum Opfer fielen. Der 85 m hohe Turm stets ein architektonisches Wahrzeichen der Stadt Middelburg 838 war schon um 1900 sehr baufällig und deshalb zwischen 1906 und 1916 von Frederiks umfassend restauriert worden. Zum Zeitpunkt der Zerstörung 1940 trug der Turm noch seine Barockspitze von Es stellte sich deshalb im Zuge des Gesamtkonzepts zur Restauration des Abteikomplexes die Frage, ob 838 Vgl. Behrendt 1928,

322 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg wieder eine ursprünglichere Renaissancespitze, eine Barockspitze oder gar eine gänzlich neue Form für den Turm angestrebt werden sollte? Für den Entwurf war der Architekt Jan de Meyer zuständig, dessen diverse Entwürfe aber über viele Jahre hinweg immer wieder abgewiesen worden waren, so dass erst der zehnte Entwurf im Jahre 1955 fünf Jahre nach De Meyers Ableben vollendet wurde. Der Wunsch nach einer Vergrößerung des Glockenspiels machte schließlich eine auf Formrekonstruktion des 16. Jahrhunderts basierende Ausführung der Turmspitze nicht mehr möglich. 839 Die Form der Spitze resultierte dementsprechend aus der Größe des Glockenspiels, was auch laut de Meyer historisch gesehen stets ein enger Verband bei Turmformen gewesen sei. Da De Meyer besonders die alten bewährten Bauelemente wertschätzte und nicht unbedingt eine eigene neue Formgebung durchsetzen wollte, strebte er nach einer harmonischen Komposition aller Elemente und Anforderungen. 840 Die heutige Turmspitze ist das Resultat der Erfüllung zwingender Programmanforderungen und De Meyers nachgestrebtem ästhetischen Ideal, und zeigt sich letztlich m. E. als Modifizierung der zuvor bestehenden Barockspitze. 841 Abb Rekonstruktionsentwürfe zum Lange Jan, gezeichnet von Haakma Wagenaar Ein Vergleich von Form und Zustand der Abtei mittels noch erhaltener Fotografien aus der Zeit Frederiks mit der Ausführung der Nachkriegsrestauration lässt deutliche Unterschiede erkennen. So zeigt sich beispielsweise am Thoolse Huis, dass neue Eingänge und Fensterformen ausgeführt wurden (Abb. 239). Auch die Dachform wandelte sich von einem Walmdach zu einem Satteldach mit backsteinernen Treppengiebeln und es verringerte sich die Anzahl an Dachfenstern. Man hielt sich folglich nicht unbedingt an die frühere Formgebung 839 De Meyer Ebda. Vgl. insbesondere die Abb., 36f. 841 Ein weiterer Diskussionspunkt zwischen dem Architekt, der Gemeinde Middelburg und der Reichskomission war u.a. die Fassadenbehandlung des Turmes. Während sich De Meyer und die Gemeinde für ein einfaches (Backstein-)Mauerwerk stark machten, gab die Reichskomission dem Anbringen von Putz Vorrang. Verschoor, K.: De herbouw van het abdijcomplex. In: Bosma 1988,

323 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg bzw. Vorbilder Frederiks, zwar schon im grundsätzlichen Aufbau der Gebäudeform, jedoch nicht hinsichtlich der Formensprache oder des Dekors. Faktisch zeigt sich im Resultat eher die Zielerfüllung von Kalf und der beteiligten Architekten: eine holländische Abtei mit malerischem, intimen Charakter, nicht die gotische Monumentalität, die sich Snijder, Labouchère und Haakma Wagenaar gewünscht hatten. Tatsächlich sind nur die Balanspoort, der Klostergang und die Gistpoort die einzigen, die innen als auch außen nach den alten Bauspuren und Gegebenheiten restauriert werden konnten. Eine Restauration des Exterieurs mit teilweise ursprünglicher Wiederherstellung des Interieurs konnte nur bei den Gebäuden B, K, Q und T vollbracht werden. Bedingt durch die neue Nutzungsbestimmung war es ferner notwendig alle Gebäude den neuen Standardanforderungen, wie z. B. moderne Sanitäranlagen und Zentralheizung, anzupassen. Eine große Anzahl der Gebäude musste dafür im Außenbereich gänzlich der neuen Bestimmung als amtliche Dienst- und Empfangsräume angepasst werden. Die neue Funktion der Abteigebäude machte des Weiteren eine Erweiterung im Osten notwendig, an deren Ausführung Berghoef mit seinem Verwaltungsbau maßgeblich beteiligt war. Ein Vergleich der Grundrisspläne der Abtei kurz vor der Zerstörung um 1939 und nach vollendeten Wiederaufbauarbeiten 1971 zeigt, dass der gesamte Abteikomplex an Ausmaß gewonnen hatte (Abb. 234). Die Grundstruktur wurde zwar beibehalten, doch erhielt die Anlage eine zusätzliche Erweiterung im Osten. Dieser baulichen Hinzufügung lagen keine Restaurationsfragen zu Grunde, sondern eher die Frage nach der Anpassung oder Abgrenzung zum historisch geprägten, wiederhergestellten Gebäudekomplex. Abb Thoolse Huis 1938 und Das Provinciehuis des J. F. Berghoef Das Gebäude für die neue Provinzialverwaltung, entworfen von dem Architekten Berghoef bildet einen wichtigen Bestandteil des wiederhergestellten, vergrößerten Abteikomplexes. 842 Die Zerstörung bot einen neuen Baugrund und die Möglichkeit einer Erweiterung des Abteiterrains zwischen dem Abteiplatz und der St. Pieterstraat. Zuvor standen an dieser Stelle das sogenannte Hotel De Abdij (eröffnet 1836) und einige Wohnhäuser, doch im Zuge der Aufräumarbeiten wurden diese ebenfalls stark verwüsteten Grundstücke für ihre neue Bestimmung freigeräumt. Spätere Ausbreitungen im Osten der Abtei boten sich durch die nahgelegene Gistpoort und das hier angrenzende Grundstück, die später in Reichsbesitz kamen. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Verwaltung der niederländischen Provinz Zeeland im Abteitrakt zwischen den Kirchen und dem Abteiplatz untergebracht; doch schon 1939 schien 842 Diesbezüglich siehe Archivstücke BERX 303, 567,

324 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg diese Unterkunft zu klein zu werden. 843 Es lag deshalb auf der Hand, diesem Umstand im Rahmen des Wiederaufbaus mit einem Büroneubau Abhilfe zu verschaffen. Dabei gab es zwei Anforderungen zu erfüllen. Zum einen sollte hier ein moderner, funktionaler Bürobau für den neuen Verwaltungssitz entstehen, zum anderen sollte sich dieser Neubau harmonisch in den wieder aufgebauten Abteikomplex einfügen. Im Jahre 1942 erhielt Berghoef den Auftrag dieses neue Bürogebäude als Erweiterung der Abteianlage zu entwerfen, wobei eine enge Zusammenarbeit mit de Lussanet de la Sablonière zustande kam waren die ersten Entwürfe fertig, doch dauerte die Submission noch bis in die Mitte der 1950er Jahre, so dass der Bau erst im Mai 1960 eingeweiht werden konnte. 844 In seiner Gesamtheit weist der neue Bürobau einen unregelmäßigen Grundriss auf, da sich seine Rückseite an dem Verlauf der anliegenden St. Pieterstraat orientiert, während die Front auf den Abteiplatz ausgerichtet ist. (Abb. 240) Von der mehrflügeligen Anlage werden ferner zwei Höfe umfasst, von denen der nördliche von der Straße her zugänglich ist und der südlichere einen geschlossenen Innenhof darstellt (Abb. 241). Da sich die gesamte östliche Erweiterung der Abtei mit den neuen Gebäuden C, D und E (plus spätere Erweiterung bis zur Gistpoort H) nach dem unregelmäßigen Straßenverlauf richtet, entfaltet sich eine organische Grundrissform dieser Gebäudetrakte. Für die Errichtung des neuen Verwaltungsbaus wurde werktypisch für den Architekten Berghoef eine Stahlbetonkonstruktion in Skelettbauweise verwendet, die mit Backstein verkleidet wurde. Während für die Außenmauern gesammelter Backstein abgerissener Gebäude verbaut wurde, zog man die innenliegenden Backsteinwände aus neuem Backstein hoch (Abb. 242). In der materiellen Außenwirkung des Gebäudes kamen demnach kostensparende und erinnerungsträchtige Aspekte in der Wiederverwendung des örtlich vorhandenen Baumaterials zusammen. Der Büroneubau verfügt über eine diverse Anzahl an Türmen, die in ihrer Ausführung Bezug auf die Türme der restaurierten Abteianlage nehmen (Abb. 243). Da überdies die Gebäudetrakte der neuen Provinzialverwaltung eine äußerst horizontal geprägte Formgebung aufweisen, insbesondere durch ihren durchgängig zweigeschossigen Aufbau, wurde die Fassade und das lange Satteldach zur besseren Einfügung in den `bestehenden Abteikomplex durch die Dachkapellen aufgelockert, und der Bau durch unterschiedliche Dachhöhen und Türme rhythmisch in die Gesamtsilhouette der Abtei integriert. 845 In der Erläuterung zum Bauprogramm der Abtei von 1949 wurde ferner betont, dass am Provinzgebäude nur ein sehr sparsamer Gebrauch von Naturstein gemacht werden sollte, um die Fassade so schlicht wie möglich zu halten. Die Straßenseite der Provinzialverwaltung erhielt überdies aus programmatischen Gründen eine geschlossene Form, um den intentionierten Eindruck der Einheitlichkeit der Abteianlage zu unterstützen. Die Fassade an der St. Pieterstraat sollte so geschlossen wie nur möglich gehalten werden, um die Ganzheit der ehemaligen Abteimauern 843 Vgl.Berghoef 1962, Die Durchführung des Bauvorhabens wurde zwischenzeitlich abgesagt, und erst 1957 (mit kleineren Anpassungen der ursprünglichen Pläne )wieder aufgegriffen. Siehe hierzu die Korrespondenz in BERX 303 (0034) und der Beiträge von Hans Sinke in Dekker und Heyning 2006, Siehe: Toelichting op de plannen tot restauratie, herbouw en nieuwbouw van het Abdijcomlex te Middelburg. Middelburg 31 Januari In: BERX 303 (0034). 322

325 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg hier fortzusetzen, denn Verhagen forderte eine geschlossene Abtei (Abb. 244, Abb. 245, Abb. 246). 846 Ein Entwurf Berghoefs von 1954 zeigt die Formgebung der langen Frontfassade, die sich zur Platzseite der Abtei öffnet (Abb. 247). Sie erhält eine Unterbrechung bzw. optische Zentrierung mittels des Haupteingangs, dem Balkon vor der Kommissarskammer und dem Erker vor der Collegekamer. Durch die inkongruente Anordnung der Fenster von Unter- und Obergeschoß sollte Monotonie vermieden werden. Der Zierfries zwischen den beiden Fensterreihen war ursprünglich oberhalb gedacht, aus Gründen der Proportionsverhältnisse jedoch verschoben worden. 847 In Übereinstimmung mit der Gestaltung der übrigen Abteigebäude besitzt der neue Bürobau ebenfalls Kreuzfenster, die besonders nach Ansicht von De Lussanet de la Sablonière am besten der neuen Zeit und Nutzung entsprachen. 848 Das Interieur des neuen Verwaltungsgebäudes wurde von Berghoef schlicht ausgeführt (Abb. 248). Die Räumlichkeiten besitzen aufgrund ihrer Raumhöhe, den mit einer leichten Bogenform abgeschlossenen Durchgängen und den abstrahierten traditionellen Elemente wie arkadenartige Raumöffnungen mit künstlerisch verzierten Säulenkapitellen und Nischen eine historisch repräsentative Wirkung. Andererseits wird der Betonbalken der Deckenkonstruktion sichtbar gelassen, so dass der offene Umgang und die Zurschaustellung der neu angewandten Bautechnik durch den Architekten deutlich werden. Sowohl dieser Aspekt der dargestellten Konstruktionsweise als auch die Formgebung der Wendeltreppe weisen Parallelen zur Architektur Schmitthenners auf (Abb. 249). Die Wendeltreppe in dem von Schmitthenner entworfenen Königin-Olga-Bau (1955) für die Dresdner Bank, ist der Berghoefs in der Provinciale Griffie zum Verwechseln ähnlich. Da jedoch diesbezüglich keine Hinweise auf einen Austausch Berghoefs mit seinem deutschen Kollegen vorhanden sind, und die beiden Gebäude zeitgleich entstehen, scheint eine wechselseitige direkte Inspiration ausgeschlossen. Nur ein Vermerk zur Aussage Schmitthenners über die verbindende Funktion von Treppen findet sich in einem Notizbuch Berghoefs ohne Jahresangabe. Berghoef kommentiert diesen Aspekt damit, dass Treppen eine Verbindung zwischen den Dingen legen, aber gleichzeitig auch einen Abstand markieren. 849 Ein detaillierterer Vergleich der Treppen, zeigt eine Reihe kleinerer Unterschiede in der Ausführung der Treppen. Während beim Bau der Dresdner Bank die untersten drei Treppenstufen als Block aufliegen und die erste Stufe einen abgerundeten Ausläufer zur Mitte hin aufweist, behandelt Berghoef alle Treppenstufen gleichwertig (Abb. 250). Die Stufen heben sich unvermittelt vom Boden ab, fügen sich gestapelt aufeinander, ohne eine elegante Profilierung wie Schmitthenner sie handhabte. Des Weiteren wird die Anbringung des Treppengeländers in seiner offenliegenden Konstruktion im Provinzgebäude viel deutlicher demonstriert. Kurz nach Ingebrauchnahme der neuen Büroräume wurde bereits zu Beginn der 1960er eine Erweiterung des neuen Bürobaus der Provinzialverwaltung notwendig, die direkt an die Gistpoort anschließen sollte. Die in der ursprünglichen Planung noch vorgesehenen Wohnhäuser zwischen der neuen Provinzialverwaltung und der historischen Gistpoort sollten 846 Siehe hierzu Toelichting op de plannen tot restauratie, herbouw en nieuwbouw van het Abdijcomlex te Middelburg. Middelburg 31 Januari In: BERX 303 (0034); Verhagen: De Abdij leeft naar binnen, zij leeft op de binnenplaats en heeft een zekere geslotenheid. 846 Vgl. Verhagen 1941, A Vgl. De Lussanet de la Sablonière 1980, Vgl. De Lussanet de la Sablonière 1980, BERX s171 (0576). 323

326 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg einer baulichen Erweiterung des Provinzgebäudes Platz machen (Abb. 251). Auf einem länglichen, rechteckigen Grundriss entwarf Berghoef hier einen dreistöckigen Bürobau, der neuen Büro- und Depotraum bot (Abb. 252, Abb. 253). Die Fassade ist in ähnlichem Stil wie das das Provinzgebäude gestaltet, d. h. mit traditionell inspirierten aber auf Grundformen reduzierten Formelementen wie der Reihe an Dachgauben. An dieser Nahtstelle zur Gistpoort zeigt sich überdies der rücksichtsvolle Umgang des Architekten mit dem historischen Monument. Besonders an der Straßenfront wird erkennbar, dass die im spätgotischen Stil restaurierte und viel dekorreichere Gistpoort durch Berghoefs Büroneubau in keinster Weise übertroffen werden sollte (Abb. 254). 850 Auch im heutigen Straßenbild tritt die restaurierte Gistpoort prominenter nach vorn als der sich hieran anschließende Baukomplex der Provinzialverwaltung. Abb Plan zur Erweiterung der Abtei, 1940er Jahre. 850 Das Gebäude der Gistpoort wurde um 1500 erbaut und bot vermutlich Zugang zum Abteiterrain. Doch ist die Gesamtfunktion des Bauwerks nicht eindeutig geklärt. Vgl. De Lussanet de la Sablonière 1980, 47f. 324

327 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb. 241 J. F.Berghoef. Innenhof des Provinciehuis Middelburg, Foto

328 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb. 242 Provinciehuis in Middelburg. Fassadendetail: wiederverwendete Backsteine als Baumaterial. Abb J. F. Berghoef. Außenansichten des Gebäudes für die Provinizalverwaltung von Zeeland. 326

329 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb. 244 Platzfassade des Provinzgebäudes, Foto Abb. 245 Straßenseite des Provinzgebäudes und des Erweiterungsbaus Richtung Gistpoort, Foto

330 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb Entwürfe zur Straßenansicht an der St. Pieterstraat, gezeichnet von Berghoef Abb J. F. Berghoef. Entwurf der Platzfassade für das Provinzgebäude,

331 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb Interieur des Provinzgebäudes, Eingangshalle. Abb. 249 J. F. Berghoef. Treppenhaus der Provinciale Griffie Middelburg,

332 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb. 250 J. F. Berghoef. Detail der Wendeltreppe der Provinciale Griffie Middelburg, Foto Abb. 251 Grundriss der Abtei mit Erweiterungsbau (schwarz) der Provincialen Griffie, Beginn der 1960er Jahre. 330

333 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb. 252 J. F. Berghoef. Querschnitt durch den Erweiterungsbau des Provinzgebäudes, 1966/67. Abb. 253 J. F. Berghoef. (Interieurs-)Skizze für den Erweiterungsbau des Provinzgebäudes. 331

334 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb. 254 Nahtstelle der Gistpoort (links) und des Erweiterungsbaus der Provinzialverwaltung (rechts), Foto Im Gesamtbild stellt dieser von Berghoef gestaltete Ostteil als Neubauflügel die größte Erweiterung und Veränderung der Abtei dar und band die bis dato frei stehende, monumentale östliche Zugangspforte (Gistpoort H) architektonisch in den Abteikomplex ein. Bei den gänzlich neu errichteten Bauten C, D und E wurde demzufolge versucht, diese in den Rahmen der Abtei einzufügen. Genau diese Intention des Einfügens zeigt sich in der Betrachtung der diversen Entwürfe des Architekten Berghoef. Alle Entwürfe kennzeichnen sich durch eine sehr zurückgenommene Formgebung, klare Linien und wenig Dekor. Nur gezielt ausgewählte Motive wie Dachreiter, Erker und Balkon dienen der Integration der Fassade in das frühneuzeitliche Restaurationskonzept der Abtei. Denn Berghoef musste und wollte seinen Bürobau in dieses bestehende Konzept der wiederaufgebauten Abtei einpassen. Diese Anforderung war für den Architekten nicht allzu schwer zu erfüllen, da es nicht seiner Grundhaltung gegenüber historischer Bebauung und Monumenten widersprach. Mit Restaurationsfragen musste sich Berghoef folglich nicht auseinandersetzen, wohl aber damit, ob er mittels seiner Architektur ein Phasengeschehen bzw. eine historische Kontinuität am Gebäudekomplex äußerlich darstellen möchte. Sein Bürobau gibt nicht vor, ein Bau des 16. Jahrhunderts zu sein. Eine historische Kontinuität, d. h. eine sichtbare Abfolge verschiedener Baustile wird somit nicht verneint. Die gewählte Formensprache ist einfach und schlicht und nicht nur für das geschulte Auge als Architektur des 20. Jahrhunderts erkennbar. Die spezifischen dekorativen Elemente (Dachkapellen, Dachform, Erker etc.) dienen jedoch der historischen und kontextuellen Bezugnahme des Baus auf seinen Standort. Die gleiche Handhabung in Aufbau und Formgebung handhabte Berghoef 1941 beim Bau des Polderhuis Walcheren, das er zeitgleich neben der Abtei im Stadtzentrum Middelburgs am Groenmarkt 10 entwarf (Abb. 255). 851 Auch hier wurden am Außenbau als auch im Interieur Formelemente verwendet, die in das Gesamtkonzept eines historisch orientierten Wiederaufbauprogramms der 851 Dies gilt auch für die Erweiterungsarbeiten von 1942, 1948 und Siehe BERX 192, 246, s51,s88, s96; Zeeuws Archief: 1046 (Stichting Herbouw Middelburg/Walcheren (SHM/SHW)), 3001 Inv.nr (Polder Walcheren ). 332

335 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Stadt passen (Abb. 256). Kennzeichnend für diesen (kleineren) Verwaltungsbau sind die prominente Ausrichtung der Fassade auf die Platzsituation und das für das Straßenbild bestimmende achteckige Türmchen. Im Inneren fand sich eine Ausgestaltung von traditionellen, zeitlosen Grundformen, denen wir in vergleichbarer Form schon im Provinzgebäude begegnet sind, die hier jedoch teilweise in betonterer Schwere und mit mehr Holz ausgeführt wurden (Abb. 257). Sowohl die Provinziale Griffie als auch das Polderhuis für Walcheren sind exemplarisch für die Entwurfspraxis Berghoefs. Diese Manier der Architekturgestaltung verdeutlicht sich expliziter in dessen Haltung gegenüber den Wiederaufbauplänen der Abtei und der Innenstadt Middelburgs. Abb. 255 J. F.Berghoef. Polderhuis Walcheren am Groenmarkt in Middelburg, , Foto Abb. 256 Eingang Polderhuis Walcheren,

336 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb. 257 Interieur des Polderhuis Walcheren, Die Beurteilung des Wiederaufbauprogramms durch J. F. Berghoef Nach der Besetzung stand der Wiederaufbau von Middelburg zweifelsohne unter dem Geist des Widerstands. Die Besinnung auf das `national Eigene zeigt sich in dem diesen Kapitel vorrangehenden Zitat Berghoefs. Es herrschte demnach in den Jahren der Fremdbesetzung ein starkes Bewusstsein für den Erhalt und das Beschützen der eigenen Kultur. 852 Im Zentrum des Wiederaufbaus stand demzufolge das Bewahren des eigenen Kulturgutes. Berghoef betonte 1951 in seinem Vortrag über die städtebaulichen Aspekte von Middelburgs Wiederaufbau, dass es das vordergründige Ziel des Wiederaufbauprogramms für Middelburg gewesen sei, das Neue mit dem Alten zu verbinden, ohne dem Charakter der Stadt Abbruch zu tun. 853 Ein Vergleich der Stadtkernpläne (Abb. 230, Abb. 231) zeigt deutlich, dass die Straßen breiter und damit die Gesamtfläche der Innenstadt luftiger gestaltet wurde. Es wurden mittels der breiten Straßen und der neu angelegten größeren Plätze Sichtachsen angelegt, die auf bestimmte öffentliche Gebäude verweisen. Nach Ansicht Berghoefs hatte sich dabei trotz der versuchten Wiederherstellung der Charakter der Stadt sehr verändert. Das alte, ungeformte Stadtbild habe sich aber durch den Wiederaufbau zu einer Stadtstruktur entwickelt, die auf das Schöne der Architektur ausgerichtet sei. Genau darin sah Berghoef den Unterschied zwischen einer gewachsenen und einer geplanten Stadt. Durch die neuen Sichtbezüge auf die historischen Monumente der Stadt wurde laut Berghoef eine kulissenartige Bebauung entworfen, die bis zu diesem Zeitpunkt in den Niederlanden unbekannt gewesen sei in dieser Art. 854 Dass dieses neue Akzentuieren stark vom ursprünglichen Stadtplan abweiche, rechtfertigte er damit, dass diese Bauten vor der baulichen Verdichtung der Innenstadt im Laufe der Jahrhunderte auch viel freier gelegen hätten. Kirche und Turm sollten wieder eine beherrschende Rolle im Stadtbild spielen. 855 Insgesamt plädierte Berghoef für einen sehr hierarchischen Aufbau der Stadt. Öffentliche Gebäude bzw. Gebäude mit infrastrukturellem sozialem Nutzen und Privathäuser erhielten bei ihm eine unterschiedliche Gewichtung im Stadtbild. Öffentliche Plätze und die Lebbarkeit einer Stadt spielten für Berghoef eine viel größere Rolle als die architektonische Ästhetik. So standen 852 Übersetzung JM: Originalzitat: "Wij beseften op dat ogenblik, sterker dan ooit, dat wij het eigen cultuurgoed moesten vasthouden en beschutten: wij waren vast besloten tot bewaren." Berghoef 1946b, Vgl. Berghoef Berghoef 1946b, Berghoef 1946b,

337 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg auch beim Wohnungsbau die Geborgenheit und die Bewohnbarkeit im Vordergrund. 856 Die Protagonisten auf die Berghoef in seinen Texten schließlich Bezug nimmt sind: Burke (niederländische Stadtgeschichte), Camillo Sitte und Brinckmann (Stadtplanung) sowie Huizinga s Homo Ludens (in Verband mit der Kultur). 857 Erst Sitte und Brinckmann hätten die Augen für eine städtische Struktur geöffnet. Da sie hauptsächlich visuell eingestellt gewesen seien, stünde dadurch das malerische des Stadtbildes im Vordergrund. Überdies lobte Berghoef das Werk Berlages in Amsterdam-Zuid (1915). Dessen Stadtviertel seien in humaner Sicht kaum übertroffen. Durch das System von Haupt- und Nebenstraßen, der Platzbildung mit monumentalen Gebäuden und der Initimität der Wohngebäude, habe Berlage ein großes Vorbild für soziales, humanes Wohnen und eine deutliche Stadtstruktur geschaffen. 858 Im Kontext der Stadtplanung und des Wiederaufbaus spielte die Gestaltung der Innenstadt meist die wichtigste Rolle. Diese sollte sowohl in ihrer Funktion als auch Wirkung dem Wohl der Gesellschaft, die von ihr Gebrauch macht und in ihr lebt und arbeitet, beitragen. Berghoef vertrat die Ansicht, dass eine lebende Innenstadt fortwährend Veränderungen unterworfen sei. Dabei existierten ihm zufolge verschiedene formelle Elemente, die einerseits den Charakter und andererseits die Anziehungskraft einer Innenstadt ausmachen. Zum einen erforderte eine Innenstadt eine deutliche Begrenzung mit markanten Übergängen zwischen dem Innen und Außen des Stadtkerns. Zum anderen musste ein städtisches Raster vorhanden sein, das in seiner Geschlossenheit ein städtisches Interieur lieferte, welches in Form, Art, Hierarchie und Gebrauch abwechselte. Ferner forderte Berghoef eine Bebauung, die (öffentlich wie privat) individualistisch war und stark variierte. Straßen seien ein Vorbild für toleranten Personalismus. Öffentliche Gebäude würden zu selten freiliegend situiert. Kleine Elemente wie geknickte Straßenführungen, Gässchen zwischen den Häuserblöcken, der Bebauung und der Straße, Durchgänge, städtisches Grün und städtisches Wasserläufe (Grachten) sollten der (Innen-)Stadt einen lebendigen Charakter verleihen. Die Berücksichtigung der verschiedenen Verkehrsströme und der funktionalen städtischen Räume, darunter auch Ruheplätze im Stadtkern, trugen nach Meinung Berghoefs überdies zur Lebbarkeit einer Stadt bei. Die Verarbeitung der Architektur und die Materialwahl sollten dabei dem lokalen Gebrauch folgen, so dass traditionelle Materialien und handwerkliche Arbeitsweisen weiterhin anzuwenden seien, so Berghoef (1980). 859 Die Innenstadt Middelburgs erhielt in der Folge eine neue Funktion im städtischen Gefüge: die alte historische Stadt wurde noch stärker zu einer `Innenstadt in der geplanten, wachsenden modernen Stadt. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde auch aufgrund der notwendigen Straßenverbreiterung die Anzahl der Gebäude im Stadtzentrum stark reduziert. Zu den bereits 459 zerstörten Gebäuden wurden weitere 46 abgerissen, um die wiederherzustellenden Häuserfronten zur Straßenseite hin verbreitern zu können. Die Gesamtzahl der wiederaufzubauenden Häuser verringerte sich dadurch auf die Hälfte (ca. 250). Die Funktion der Middelburger Innenstadt verschob sich deshalb weg vom bisherigen Wohnort hin zu einem stärker administrativen, ökonomischen und kulturellen Zentrum. Um den Verlust 856 Berghoef 1980a, Berghoef 1980b, 65ff. Publikationen auf die Berghoef sich bezieht: Burke 1965; Huizinga 1969; Sitte Berghoef 1980b, Vgl. Levende Binnenstad 1973,

338 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg des Wohnraumes wieder gut zu machen, wurde neuer Wohnraum für die niedrigere Einkommensklasse in den Stadterweiterungen außerhalb des Stadtkerns geschaffen. Bezüglich des wiederaufgebauten Stadt- und Straßenbilds der Innenstadt bezog Berghoef eine deutliche, zum Teil aber auch polemische Position. Er sah das Essentielle der alten Architektur in ihrem Verhältnis zum öffentlichen Raum, d. h. in den Proportionen, im Maßstab, dem Fassadenrhythmus und der Farbgebung. Die Gebäude des 17./18. Jahrhunderts zeichneten sich hierbei seiner Meinung nach durch eine große Reserviertheit aus. 860 Doch gäbe es in den noch erhaltenen Straßenzügen wenig Balance aufgrund allerlei architektonischer Ungereimtheiten. Demgegenüber stünde das neue Straßenbild von hoher ästhetischer Qualität. Der Vergleich der alten noch bestehenden Häuserfronten mit dem neuen Straßenbild (Abb. 258, Abb. 259) zeigt, dass die alte Bebauung etwas abwechslungsreicher war. Doch auch die neuen Fassaden zeichnen sich durch individuelle behandelte Fassadengestalt aus mit wechselnder Breite und Höhe, sowie diversen Fenstertypen. Bei genauerer Betrachtung der heute noch bestehenden Häuserfronten zeigt sich, dass teilweise sogar die Idee historischer Kontinuität, d. h. eine Abfolge verschiedener Zeitstile, mittels verschiedener Giebelformen veräußerlicht wurde. Es werden sowohl gotische und barocke Dachformen als auch vorgeblendete Umbauten mittelalterlicher Häuserfronten nachgeahmt. 861 Diese Heterogenität, d. h. dieser abwechslungsreiche Charakter der Fassaden wurde dadurch garantiert, dass Verhagen den Architekten nicht zugestand, zwei direkt nebeneinander stehende Häuserfronten zu entwerfen. Die Einzelprojekte wurden gestreut verteilt. Diese Vorgehensweisen riefen bei Kritikern heftige Reaktionen hervor. So wurden die innerstädtischen Straßenfronten und deren dahinterliegende Baukörper auch als architektonische Lügen bezeichnet, da ein falscher architektonischer Eindruck vermittelt würde. 862 Berghoef selbst bemängelt an dem Wiederaufbau der Stadt, dass man dem Detail, d. h. der Form der Gebäude und dem historischen Motivvokabular mehr Aufmerksamkeit geschenkt habe als dem Wesen der alten Architektur. 863 Diese Problematik wurzelte laut Berghoef in Verhagens Methode der anonymen Architektur, bei der bestimmte Vorgaben und Maßnahmen zur gezielten Regulierung der Fassadenentwürfe der gewählten Architekten die Architektur der Innenstadt bestimmten. 864 Viele Architekten bedienten sich aus dem breiten Formen- und Motivrepertoire, ohne sich jedoch mit der Essenz der öffentlichen Architektur Middelburgs wirklich auseinanderzusetzen. 865 Fernerhin unterstrich Berghoef den Aspekt, dass es bei dem Wiederaufbau von Middelburg nicht so wie in Rotterdam um eine Neuanlegung der gesamten Innenstadt ging. Im Gegenteil, die Abtei mit dem Langen Jan und das Rathaus sollten als einzigartige Bauwerke restauriert werden, integriert in ein historisches Stadtbild. Es stellt sich an dieser Stelle jedoch die Frage, wie sich dieses historische Stadtbild offenbaren sollte. Laut Berghoef spiegelte sich die Geschichte einer Stadt in seiner Struktur und seiner Bebauung wider. 866 Diesbezüglich bezog Berghoef in einem Artikel aus dem Jahre 1946 in der 860 Berghoef 1951, Vgl. Abb. 258: Neue Straßenfront der Nieuwe Burg zweites und drittes Gebäude von rechts; Jansen Vgl.Bosma 1995, Berghoef 1951, Vgl.Bosma 1995, Berghoef 1951, 25f. Verhagen soll später gesagt haben, dass er sich mehr Persönlichkeit in der anonymen Architektur gewünscht hätte. Vgl. Bosma 1995, 134 inkl. Anm Berghoef 1951,

339 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Zeitschrift Forum Stellung auf die Kritik des Amsterdamer Architekten K. L. Sijmons ferner auch Vertreter der Groep 32 an dem Wiederaufbauplan Verhagens. 867 Kern der Diskussion zwischen Berghoef und Sijmons war die Frage nach der Geometrie eines Stadtplans. Als `groß bezeichnete Sijmons die geometrischen Strukturen, die unregelmäßigen Strukturen hingegen als pittoresk. 868 Gewachsene Städte haben stets einen unregelmäßigen Grundriss, doch sei dies kein Zeichen für fehlenden bewussten Formwillen, so Berghoefs Antwort auf die Aussage Sijmons. Der ursprüngliche zirkelförmige Aufbau der Stadt Middelburg wurde bewusst beibehalten. Dass Verhagen den neuen Marktplatz dank des Bajonetts in der Mittellinie auf die Kirchen ausrichtete, wertete Berghoef als räumlichen Gewinn des Stadtbilds. Auch das räumliche Exponieren des Rathauses als freistehende Baumasse befürwortete er. Das Rathaus solle den Marktplatz beherrschen, denn dies sei eine `lebende Tradition. 869 Dieser Tradition sollte nicht abgeschworen werden. Doch sollte jedes Haus nur auf das notwendigste Formvokabular reduziert werden, da die Dominanten Abtei und Rathaus noch immer das Wichtigste im Straßenbild darstellten. Die kleinen Wohn- und Ladenhäuser spielten seiner Ansicht nach eine untergeordnete Rolle. Sie sollten nur helfen, Straßen und Plätze zu begrenzen, und als Hintergrundkulisse fungieren. 870 Auch bei der städtebaulichen Vorgehensweise Verhagens zeigte sich von Beginn an, dass für ihn das Rathaus und die Abtei als Symbole der weltlichen und kirchlichen Macht innerhalb des städtischen Gefüges zentral stehen. Doch konnte die ruinöse Stadt nur dann wieder aufgebaut werden, wenn das individuelle Monument im Zeichen der Restauration des großen Monuments stand, nämlich der historischen Innenstadt. Deshalb sollten die Fassaden der umgebenden Häuser möglichst einfach und anonym erbaut werden. 871 In dieser Beschreibung offenbart sich uns die implizite Kritik, die Berghoef an dem Wiederaufbaukonzept Verhagens äußerte. Schlussendlich zeigt Berghoefs städtebauliche Auffassung und Herangehensweise im Kontext der Architektur ab 1945 die verknüpfende Haltung modern zu bauen und gleichzeitig historische Werte zu bewahren. Werte des alten vorkriegszeitlichen Middelburgs sollten seiner Ansicht nach mit in die Zukunft getragen werden, um den Kontakt zur Vergangenheit, d. h. zur Geschichte der Stadt Middelburg beizubehalten. Diese Art des historischen Wiederaufbaus sollte den Grundstein für die Zukunft der Stadt legen, wie ihn Berghoefs Kompagnon Klarenbeek als Sinnspruch im Kader des European Heritage Year 1975 (Niederl. Monumentenjaar 1975) formulierte: eine Zukunft für unsere Vergangenheit. 872 Diese Haltung beinhaltete die Intention, dass der historische Charakter sichtbar gelassen werden soll und in Bezug auf die Zukunft eine Funktion erfülle. Hierzu mussten Monumente als mehr als nur museale Objekte gesehen werden. Klarenbeek verdeutlichte diesbezüglich die Mentalität, mit der man den Wiederaufbau Middelburgs in Angriff genommen hatte. Es sei der Wunsch aller Beteiligten gewesen, dass die alte Innenstadt genauso unversehrt wie vorher neu entstehen sollte: in dem Sinne, dass die Innenstadt eine Einheit bilden sollte, in 867 Berghoef 1951; Berghoef 1946a. 868 Vgl. Sijmons Zum Hintergrund der Reaktion Sijmons als Amsterdamer Architekt auf die Stadtplanung Verhagen siehe Steenhuis 2007, Dies entspricht Berghoefs Definition von Städtebau, der zu folge diese eine räumliche plastische Kunst darstellt, die die menschliche Gemeinschaft (Hierarchie und Demokratie) umfasst und verbildlicht. Berghoef 1980a, Vgl. Berghoef 1946b, 7ff; Steenhuis 2007, 314f. 871 Vgl. Berghoef 1951, Klarenbeek 1975,

340 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg dem die Monumente ihren eigenen Platz besaßen. Dies führte aber nicht zu einem Stein-auf- Stein-Aufbau in historischen Stilen wie in anderen europäischen Städten. Die Veränderungen des innerstädtischen Straßenplans folgten der ästhetischen und verkehrstechnischen Verbesserung von Sichtachsen und Straßenverläufen, sowie der akzentuierten Visualisierung des historisch verwurzelten Charakters von Middelburg. Man hatte tatsächlich versucht bezüglich Maßstab, Materialgebrauch, Farbe und Baumasse die wesentlichen Elemente der Architektur des 17. und 18. Jahrhunerts wiederherzustellen, ohne aber in eine Stilnachahmung zu verfallen. Laut Klarenbeek würde es immer Kritiker geben, die nicht verstünden, dass viele Wiederaufbaupläne eine absolut freimütige Komposition der alten Gegebenheiten seien. 873 Das Gesicht einer Stadt wird besonders durch ihre historische Schichtung und architekturhistorische Staffelung bestimmt, d. h. durch die Verschiedenheit der Strukturen, unterschiedliche Architekturformen aus verschiedenen Perioden und das Vorhandensein verschiedener Stile. All dies macht in der Regel den Charakter einer Stadt aus und verleiht ihr eine eigene Identität. 874 Im Falle Middelburgs war der größte Teil dieser Identität zerstört, durch die Wiederaufbaumaßnahmen aber wieder neu definiert und (re-)konstruiert worden. Der Wiederaufbauplan von Middelburg war modern bezüglich dem Ziel den Tourismus als dominanten Faktor zu integrieren, gefasst in ein Stadtbild, das für diesen Zweck eine historische Sphäre festhielt. Alle Eingriffe in Middelburg wurden auf die ökonomische Notwendigkeit abgestimmt. Rotterdam schien modern, da es seinen Wiederaufbauplan als Bruch mit der Vergangenheit repräsentierte. Wenn aber der undefinierte Begriff `modern im Städtebau das Suchen einer angepassten städtebaulichen und architektonischen Expression von einem zugrunde liegenden sozial-ökonomischen Programm bedeutet, dann sind die Wiederaufbauprogramme von Middelburg (1940) und Rotterdam (1946) beide auf ihre Art modern, da die architektonischen Form in beiden Fällen direkter Ausdruck der Funktion war. 875 In diesem Kontext müssen wir demnach auch die Arbeit Berghoefs als strebend nach Erneuerung bewerten. Abb Straßenansichten von Middelburg: noch bestehende (oben) und geplanter Wiederaufbau (unten), publiziert von Berghoef Klarenbeek 1975, Siehe zu diesem Aspekt auch De Back et al. 2004, Steenhuis 2007, 322 und Stellungnahme 5 zur Verteidigung. 338

341 Kapitel 8 Fest entschlossen zu bewahren Der Wiederaufbau der Stadt Middelburg Abb. 259 Wiederaufgebaute Ladenhäuser an der Nieuwe Brug in Middelburg, Foto Über die Zukunftsfähigkeit der historischen Modellstadt Middelburg Die vorrangegangene Analyse des Wiederaufbaus der historischen Innenstadt Middelburgs hat gezeigt, dass die Planung und die Ausführung der Wiederaufbautätigkeiten schon während des Krieges und unter deutscher Besetzung zustande gekommen sind. Das spezifische Wiederaufbauprogramm wurde dabei durch traditionell-geprägte Städtebauer und Architekten geplant und ausgeführt. Aufgrund der Art und Größe des Wiederaufbaus waren sie in der Lage in großem Maße den eigenen Vorstellungen räumlicher, funktionaler, städtischer und architektonischer Planung Form zu verleihen, um ein gezieltes Stadtbild zu realisieren. In diesem Zusammenhang zeigt sich überdies eine starke Relation zwischen dem architektonischem Monument und der städtischen Planung. 876 Doch beinhaltete die Vision der beteiligten Architekten eine zweckmäßig moderne Stadt unter größter Bewahrung der historischen Monumente. Die Ideen der Restauration von Abtei und Rathaus gingen dabei nicht von einer kompletten Rekonstruktion der mittelalterlichen Form aus aufgrund der Zerstörung auch kaum möglich, sondern neue räumliche Anforderungen und architektonische Anpassungen wurden kombiniert mit Referenzen an die Middelburger Sphäre. 877 Verhagen ging es bei dem Wiederaufbauprogramm schließlich nicht um das Imitieren von Stilmerkmalen, sondern um die große Linie, um die vertikale Ausarbeitung der individuellen Fassaden und das Handhaben der Middelburger Typologie. Doch musste Verhagen 1942 selbst zugeben, dass das Streben nach dem eigenen Middelburger Stil nicht erreicht worden war. 878 Dieser problematische Aspekt wurde schon 1928 von Behrendt mit der Aussage bekräftigt, dass die holländische Stadt [ist] ein historisches Gebilde 879 sei. "Und wo heute (1928) unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart eine bewußte Nachahmung solcher Wirkungen versucht würde, müsste sie unweigerlich mit einem kläglichen Misserfolg enden." 880 Der historische Wiederaufbau der Stadt Middelburg stellt zwar keinesfalls einen solchen Misserfolg dar, doch gab es seinerzeit ohne Zweifel zahlreiche Kritiken, die den Wiederaufbau aus eben diesen Gründen negativ einschätzten. 876 An dieser Stelle sei auch auf die Publikation zu diesem Thema von Paul Meurs hingewiesen. Meurs Vgl. Bosma 1995, Mit dieser Aussage stütze ich mich auf Steenhuis 2007, Vgl. Behrendt 1928, Mit den Wirkungen ist von Behrendt gemeint, dass im niederländischen Stadtbild keine städtebauliche Planung und Absicht vorherrscht. Ibidem,

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