FORUM MUSIKPÄDAGOGIK Band 94. Hallesche Schriften zur Musikpädagogik. herausgegeben von Rudolf-Dieter Kraemer

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1 FORUM MUSIKPÄDAGOGIK Band 94 herausgegeben von Rudolf-Dieter Kraemer Hallesche Schriften zur Musikpädagogik herausgegeben von Georg Maas im Auftrag des Instituts für Musik, Abteilung Musikpädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

2 Helmut Rennschuh Klavierspielen, Alexander-Technik und Zen Frei von störenden Mustern die Musik geschehen lassen

3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Satz und Bearbeitung der Grafiken: Andrea Bayer-Zapf Projektleitung: Albrecht Lamey Covergestaltung: Lisa Schwenk Coverbild: Zina Seletskaya, 2011 Benutzung unter Lizenz von Shutterstock.com, Druck: Druckerei WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang ISBN ISSN X (Forum Musikpädagogik) 3., unveränderte Auflage: Wißner-Verlag, Augsburg 2016 Erstauflage: Wißner-Verlag, Augsburg Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf deshalb der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

4 Gewidmet meiner Lehrerin und Freundin Jeanne Day ( ), der ich so viel verdanke und die die Alexander-Technik und die Musik so sehr liebte.

5 Statt eines Mottos: Variationen über das Thema Nicht-Tun Wenn wir aufhören das Falsche zu tun, geschieht das Richtige von ganz allein. F. M. Alexander (siehe Kapitel 5.2) Je hartnäckiger Sie dabei bleiben, das Abschießen des Pfeiles erlernen zu wollen, damit Sie das Ziel sicher treffen, um so weniger wird das eine gelingen, um so ferner das andere rücken. Es steht Ihnen im Wege, dass Sie einen zu willigen Willen haben. Was Sie nicht tun, das, meinen Sie, geschehe nicht. Der Meister in E. Herrigel, Zen in der Kunst des Bogenschießens, S. 41 (vgl. Kapitel 7.3) Also man ist unglaublich aktiv, und in der gleichen Zeit unglaublich passiv. Man will nichts, man lässt es entstehen. S. Celibidache (siehe Kapitel 7) Wenn der Arm entspannt ist, reagieren die Armmuskeln und Handmuskeln auf die Wünsche der Ohren. W. Gieseking (siehe Kapitel 6) Gutes Klavierspielen wird nicht erreicht, indem man den Widerstand des Instruments bricht, sondern durch Ausschaltung der Widerstände in einem selbst. H. Taylor, S. 82 (vgl. Kapitel 5) Strengt Euch bei Schwierigkeiten nicht an, aber spielt geschmeidig und langsam, denn zweifellos ist das ein versteckter Schatz, den ihr entdecken werdet. F. Chopin (siehe Kapitel 3) 7

6 Inhaltsverzeichnis Vorwort Einleitung Der Weg von der Anstrengung zur Mühelosigkeit Meine Geschichte Ist Klavierspielen schwierig? Wunderkinder und genial Begabte Hindernisse auf dem Weg Der Teufelskreis der Anstrengung Unsere Ich-Identität als Quelle des Denkens und Wollens Gewohnheiten Hilfe aus unerwarteter Richtung Langsames und leises Üben Nicht-Tun statt versuchen es besser zu machen Üben heißt sich zu konditionieren Alexander-Technik: Grundlage der Koordination Alexanders neuer Weg Befreiung von einengenden Gewohnheiten Natürliche Koordination Bewusste Kontrolle

7 Inhaltsverzeichnis 5. Klavierspielen und Alexander-Technik Innehalten Rücken und Primärkontrolle Anweisungen Klavierspielen aus dem Rücken heraus Mentales Üben Üben nach Leimer-Gieseking Mentales Üben und Konditionierung Entwurf einer effektiven Art zu üben Zen: Befreit von der Dominanz des Ich Zen und Musik Meditation Die Kunst des Bogenschießens Klavierspielen als Zen-Kunst Klavierspielen Spielen Das Spiel der Finger mit den Tasten Mozarts Sonaten und Variationswerke Zurück zu Alexander Zum Schluss: Innehalten ist der Schlüssel Anhang: Natürliche Klaviertechnik in Beispielen Claudio Arrau Liszt als Pianist Entwicklung

8 Inhaltsverzeichnis Finger Vom Rücken Verbindung zur Wirbelsäule, das Wirbeln Ganzheit Chopin als Pianist Haltung Neue Methode Einfachheit Finger und Handgelenk Kontakt mit der Taste Ludwig Deppe Armleiden und Haltung Freies Handgelenk und Unterarm Kein Anschlagen Arm und Rücken Raymond Thiberge Übereinstimmungen Literaturverzeichnis Bücher CDs DVDs

9 Zur zweiten Auflage Das Buch hat sich weiterentwickelt. Ich freue mich, eine neue erweiterte Auflage vorlegen zu können. Es ist um ein Kapitel zum Spielen sowie um ein kurzes Schlusskapitel gewachsen und damit noch mehr zu einem Buch über das Klavierspielen geworden. Ansonsten hat es gegenüber der ersten Auflage nur kleine Änderungen gegeben. Weimar, im Juli 2013 Vorwort Dies Buch richtet sich besonders an Menschen, die mit Leidenschaft ein Musikinstrument spielen, doch dabei das Gefühl haben, dass irgendetwas ihnen im Wege steht, die Musik so klingen zu lassen, wie sie es sich wünschen und vorstellen. Dieses Etwas sind unsere ungünstigen Gewohnheiten: unsere Bewegungs-, Lern- und Denkmuster. Im Folgenden beschreibe ich am Beispiel meines eigenen Weges, wie sich solche Muster auflösen lassen und wir so zu einem freieren, unbeschwerten Musizieren gelangen können. Ein Lernprozess, wie er beim Klavierspielen zu beobachten ist, gleicht einem langen Aufstieg im Gebirge. Aus tiefen Tälern, in die nur selten die Sonne scheint, gelangt man in luftige Höhen, ins gleißende Licht, wo der frische Wind der Freiheit weht. Der Wert eines Vorgehens ermisst sich dabei nicht allein aus der Höhe, die man erreicht, sondern vor allen Dingen aus dem Höhenunterschied, den man zurücklegt. Im Laufe vieler Jahre hat mich mein Weg aus den tiefen Tälern eines mühsamen und wenig erfolgreichen Ringens mit technischen Schwierigkeiten hinauf in die Bergwelt geführt, in der ich staunend den Meisterwerken der Klavierliteratur begegne und ihrer Klangwelt beim Spielen mit Hingabe lauschen kann. Dies ist der Weg vom angestrengten Tun zum Nicht-Tun einer besonders mühelosen Art zu handeln, bei der wir uns nicht anstrengen und alles von allein zu geschehen scheint. 13

10 Vorwort Eine ausführliche Darstellung des Phänomens Nicht-Tun findet sich in meinem Buch Das Richtige geschieht ganz von allein. Darin beschreibt der Begriff Nicht-Tun eine besondere Qualität in unseren Handlungen, die entsteht, wenn wir natürliche Bewegungsabläufe und eine natürliche Aufrichtung unseres Körpers nicht stören. Bewegungen geschehen dabei so mühelos und leicht, dass wir den Eindruck gewinnen, sie nicht selbst zu tun. Verbunden ist dies mit einer besonderen inneren Einstellung. Statt sich krampfhaft um ein gewünschtes Ergebnis zu bemühen und mit den Dingen zu ringen, werden wir hellwache, präsente Beobachter, die an einem Geschehen teilnehmen. Statt gegen Widerstände zu kämpfen, bewegen wir uns mit dem Fluss des Geschehens. Beim Musizieren hat das Nicht-Tun zwei Aspekte, die so eng zusammenhängen, dass sie eigentlich nicht zu trennen sind: Es gibt den körperlich-technischen und den musikalisch-geistigen Aspekt. Dem freien Fluss von natürlichen Bewegungsabläufen entspricht ein ungestörtes Strömen der Musik. Die folgenden Kapitel weisen den Weg zu einem ungestörten Spiel mit der Tastatur des Klaviers. Damit lösen sich nicht nur technischer Probleme, sondern wir gewinnen durch ein solches unbeschwertes Spielen die Freiheit, einem musikalischen Geschehen zu folgen und so Musik in einer natürlichen Weise entstehen zu lassen. Selbstverständlich ist das Spiel mit der Tastatur nicht in erster Linie eine mechanische Aktivität der Finger. Es umfasst vielmehr die Koordination des gesamten Körpers, insbesondere von Hals, Schultern und Rücken. Eine solche Koordination entsteht durch eine gewisse innere Einstellung und eine erhöhte Aufmerksamkeit für den Bewegungsapparat. Es handelt sich also nicht um eine mechanische Klaviertechnik, sondern um eine Ausrichtung des ganzen Menschen. Eine Methode, durch die man eine solche Ausrichtung des ganzen Menschen erlernen kann, gibt es seit über hundert Jahren. Es ist die Alexander-Technik. Sie hilft uns, die Fesseln ungünstiger Gewohnheitsmuster zu lösen und zu einer natürlichen Koordination, wie man sie bei kleinen Kindern beobachten kann, zurückzufinden. Ähnlich dem Zen-Weg bietet sie die Möglichkeit, unsere innere Einstellung dem Musizieren gegenüber grundlegend zu ändern. 14

11 Das Geheimnis eines erfolgreichen Spiels liegt in der absoluten Konzentration auf eine absolute Entspannung. A. Schnabel 1 Einleitung Das Vorwort mag mehr Fragen als Antworten geliefert haben: Wie können wir beim Klavierspielen von Nicht-Tun sprechen, wo die Finger doch oft unglaubliche Dinge in Windeseile zu vollbringen scheinen, und was hat die Ausrichtung von Hals, Kopf und Rücken mit dem Geschehen auf der Tastatur zu tun? Das mag zunächst genauso rätselhaft erscheinen wie die Anweisung des Zenlehrers beim Bogenschießen, nicht die Scheibe treffen zu wollen, oder wie in der Alexander-Technik gelehrt eine Vorstellung von Loslassen, bei welcher der Arm nicht schwer wird und als eine Art totes Gewicht an der Schulter hängt. Ungewohnte Ideen und Gedanken bieten die Chance, die eigenen eingefahrenen Muster und Denkweisen zu erkennen und selbstverständlich Gewordenes zu hinterfragen. Gewohnheiten bestimmen nicht nur unsere Bewegungen und unsere Haltung, sondern auch unser Denken. Wenn wir diese Muster verlassen wollen, so begeben wir uns auf einen langen Weg des Umlernens und der Befreiung. Ein solcher Weg beginnt damit, dass wir uns solcher Gewohnheiten zunächst einmal bewusst werden. Der Alexander-Technik-Unterricht führt uns aus den eigenen Bewegungs- und Haltungsgewohnheiten in eine freiere und leichtere Art der Aufrichtung und der Bewegung. Im Vergleich mit dieser neuen Koordination erleben wir die einschränkenden Fesseln der eigenen Gewohnheiten unmittelbar. Hinter unseren gewohnten Bewegungsmustern steht ein vorwärts strebender Wille, der uns Ergebnis orientiert handeln lässt. Je mehr wir uns um ein bestimmtes Ergebnis bemühen, desto stärker sind wir in diesen Mustern gefangen. Haben wir im Laufe 1 H. Taylor 1996, S

12 Einleitung der Jahre ungünstige Bewegungsmuster entwickelt, so hindert unser Wollen uns daran, unsere gewünschten Ziele auch zu erreichen. Wenn wir erkennen, dass unsere innere Einstellung unser Wollen und Zielstreben einen entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis unserer Aktivitäten hat, so werden wir bereit dafür, unser Denken und Wollen genauso als Übungsfeld zu betrachten wie die Tastatur des Klaviers. Neben der Alexander-Technik stellt uns der Zen-Weg dafür die geeigneten Mittel zur Verfügung. So lernen wir in der Meditation unsere Gedankenmuster kennen und eine Zen-Kunst wie das Bogenschießen hat genau diese innere Einstellung zum zentralen Thema. Wir werden damit aus der Begrenzung unseres Wollens unseres vorwärts strebenden und ehrgeizigen Ichs in die Freiheit geführt. Während uns die Gewohnheiten in körperlichen sowie Gedanken- und musikalischen Ausdrucksmustern festhalten, ermöglicht der skizzierte Weg eine natürliche Koordination sowie einen natürlichen musikalischen Ausdruck, der dem Wesen der Musik gemäß ist. Folgen wir dabei mit unserer Koordination der Weisheit der Evolution, die eine Unzahl automatischer und reflexartiger Vorgänge in unserem Körper entwickelt hat, so folgen wir, wenn wir nicht länger vom Wollen des Ich bestimmt sind, der schöpferischen Weisheit, die in der Komposition, die wir spielen, ihren Ausdruck gefunden hat. Die so gewonnene Freiheit führt nicht in die Willkür, sondern sie erlaubt uns, der Musik ungehindert zu dienen. Nicht-Tun bedeutet dabei neben einer Minimierung der körperlichen Anstrengung, den musikalischen Entstehungsprozess nicht zu stören. 16

13 Einleitung Abb. 1: Nur ein geringer Teil der in den Noten angelegten Musik kann zu Klang werden, wenn das Ich und unsere Gewohnheiten, ihre Realisierung verhindern. Das Ich und die Gewohnheiten wirken als starke Filter, die nur wenig von der ursprünglichen Musik durchlassen. Abb. 2: Ideale Situation: Das Ich und die Gewohnheiten sind weniger dominant und transparent. Die in den Noten angelegte Musik kann zu Klang werden. Wenn wir uns vorstellen, dass in der Komposition eine Kraft steckt, die durch uns wirken kann, solange wir sie durch unser Wollen und unsere Gewohnheiten nicht stören, so hilft uns das, die Mischung aus Aktiv- und Passivsein zu erreichen, die viele große Musiker als wünschenswert beschreiben. 17