Vorlesungsabschlussklausur und Zwischenprüfung 24. Juli 2015
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- Stephanie Martina Baumhauer
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1 Universität Augsburg Juristische Fakultät Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Zivilverfahrensrecht, Römisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte Dr. Peter Kreutz, Akademischer Rat a.z. Vorlesung Rechtsgeschichte II SoSe 2015 Vorlesungsabschlussklausur und Zwischenprüfung 24. Juli 2015 In der von Friedrich Carl von Savigny 1814 publizierten Schrift Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Ausgabe: Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften. Mit einer Einführung von Professor Dr. Hans Hattenhauer, 2. Auflage, München 2002) heißt es wörtlich: Frage 1: a) Was meinte Friedrich Carl von Savigny ( ), wenn er von den Justinianischen Rechtsbüchern schreibt, in deren Mittelpunkt [ ] eine Compilation aus Schriften einer classischen Zeit stehe? Geben Sie Hinweise zu diesen Rechtsbüchern, zu der Zeit und den Umständen ihres Entstehens und zu den Inhalten, die darin zu finden sind. b) Worauf bezieht sich die Formulierung von der classischen Zeit, die Friedrich Carl von Savigny verwendet? Wie lässt sich die römische Rechtsgelehrsamkeit in Epochen einteilen? Frage 2: Friedrich Carl von Savigny schreibt davon, dass das Römische Recht zu den neueren Staaten in Europa gekommen sei. Auf welchen Vorgang der mittelalterlichen Rechtsgeschichte spielt er damit an? Erläutern Sie diesen Vorgang. Frage 3: a) Geben Sie Hinweise zu Anlass und Hintergrund des oben abgedruckten Textausschnittes Friedrich Carl von Savignys. Warum publizierte er 1814 seine Schrift Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft? Gehen Sie dabei auch kurz auf die Person Savignys ein. b) Charakterisieren Sie anhand des oben wiedergegebenen Textausschnittes Friedrich Carl von Savignys Vorstellung von Rechtswissenschaft.
2 Frage 4: Gustav Radbruch (1878 bis 1949, deutscher Justizminister 1921/22 und 1923) hat in einem Beitrag für die Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 105 ff [S. 107], folgendes formuliert: Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung»Gesetz ist Gesetz«den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts. Dabei ist der Positivismus gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen. [ ] Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als»unrichtiges Recht«der Gerechtigkeit zu weichen hat. a) Worauf bezieht sich Gustav Radbruch, wenn er schreibt, dass der Juristenstand [ ] wehrlos gewesen sei? Ordnen Sie das Zitat in den zeitgeschichtlichen Kontext ein. b) Wie lässt sich nach Gustav Radbruch plausibel die Grenze zwischen Gesetzen, die noch beachtet werden müssen, und unrichtigem Recht im Sinne Radbruchs ziehen? Hinweise zur Bearbeitung: Es sind alle Aufgabenteile zu bearbeiten. Die Bearbeitungszeit beträgt 120 Minuten. Hilfsmittel: Gesetzestextausgaben. Ergebnisse im Datenverarbeitungssystem STUDIS voraussichtlich im Herbst Achten Sie auf Nachricht vom Abschluss der Beurteilung durch Aushang am Lehrstuhl und Bekanntgabe im Internet. Viel Erfolg!
3 Universität Augsburg Juristische Fakultät Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Zivilverfahrensrecht, Römisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte Dr. Peter Kreutz, Akademischer Rat a.z. Vorlesung Rechtsgeschichte II SoSe 2015 Vorbemerkung: Vorlesungsabschlussklausur und Zwischenprüfung 24. Juli 2015 LÖSUNGSSKIZZE Ziel der Prüfung ist der Nachweis, dass die Bearbeiterin/der Bearbeiter in der Lage ist, methodisch schlüssig auf die gestellte Frage einzugehen. Im Vordergrund steht das Verständnis für die Zusammenhänge der Rechtsgeschichte, es ist weniger um Faktenwissen zu tun, welches in gewissem Rahmen freilich Voraussetzung für eine verständige Auseinandersetzung ist. Gerade bei den Fragen 3. b) und 4. b) steht eine selbständig argumentierende Beschäftigung mit der Frage im Vordergrund. Es genügt in allen Teilen der Aufgabenstellung, wenn eine ungefähre zeitliche Einordnung der Zusammenhänge gelingt (korrekte Jahrhunderthälfte, z.b. erste Hälfte des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts ). Nachdem alle Fragen zu bearbeiten sind, können Defizite bei einer Frage zwar bis zu einem gewissen Grad durch Ausführlichkeit an anderer Stelle ausgeglichen werden. Jedoch sollte zu jeder Fragestellung verwertbares Gedankengut geboten werden. Frage 1: a) Friedrich Carl von Savigny bezieht sich in seiner Äußerung auf das Corpus Iuris Civilis, welches in der ersten Hälfte des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts am Hofe des oströmischen (byzantinischen) Kaisers Justinian entstanden ist, der die Wiedererrichtung des teilweise zusammengebrochenen römischen Reiches insbesondere mit den Mitteln des Rechts erreichen wollte. Es setzt sich aus den Institutionen, den Digesten (Pandekten) und dem Codex zusammen. Die Novellen gehören nicht zum eigentlichen Bestand, sie wurden später von fremder Hand ergänzt. Die Institutionen haben den Charakter eines Einführungslehrbuches und orientieren sich stark an der gleichnamigen Schriften des klassischen Juristen Gaius (zweites nachchristliches Jahrhundert), nach dessen Gliederungsschema personae, res, actiones sie aufgebaut sind. Sie sind in vier Bücher gegliedert. Die Digesten / Pandekten bilden den Hauptteil der Rechtsbücher Justinians. Sie bestehen aus 50 in grobe thematische Titel gegliederten Büchern, in denen Exzerpte aus Juristenschriften aus allen Epochen der römischen Rechtsgelehrsamkeit mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der hohen römischen Kaiserzeit (zweites und drittes nachchristliches Jahrhundert) zusammengestellt sind. Auf diesen Abschnitt des Gesamtwerkes bezieht sich das Wort von der Compilation, der bloßen Zusammenstellung ohne tiefere systematische Ordnung (letzteres wäre eher als Kodifikation zu bezeichnen). Der Codex umfasst eine Sammlung der Kaiserkonstitutionen seit Kaiser Hadrian (76 bis 138) und ist in zwölf Bücher unterteilt. b) Mit der classischen Zeit bezieht sich Friedrich Carl von Savigny auf die traditionelle Epochengliederung, mit der die Geschichte der antiken römischen Rechtsgelehrsamkeit beschrieben wird. Üblicherweise wird die römische Jurisprudenz in Vorklassik (spätrepublikanische Rechtsgelehrsamkeit), Frühklassik (erstes Jahrhundert nach Christus), Hochklassik (bis etwa 190 nach Christus), Spätklassik (erste Hälfte drittes Jahrhundert nach Christus), und Nachklassik unterteilt. Gerade in der Hochklassik entfalteten die römischen Rechtsschulen, nach bedeutenden Schulhäuptern als Sabinianische und Proculianische Schule bezeichnet, ihre volle Relevanz.
4 Frage 2: Friedrich Carl von Savigny bezieht sich in diesem Zitat auf die Rezeption des römischen Rechts im Hochmittelalter. Ihr Anfang gehört in das Umfeld der Artistenfakultäten (von lateinisch ars, Kunst oder Wissenschaft ), die zumindest in Italien seit der spätrömischen Antike existierten und allgemein bildenden Charakter in einem zweigeteilten Bildungsgang hatten: Grundstudium, trivium, bestehend aus den Fächern Grammatik, Rhetorik und Dialektik, dann Aufbaustudium, quadrivium, aus Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. Zusammen bilden sie die septem artes liberales, die sieben freien Künste. Im Zuge der Spezialisierung in der wissenschaftlichen Ausbildung kam in Bologna neuartiger Rechtsunterricht auf, fußend auf den Justinianischen Gesetzen. In diesem Zusammenhang wird traditionell Magister Irnerius (gestorben nach 1125) der entscheidende Anstoß dazu zugeschrieben. Der Rechtsunterricht des Irnerius in Bologna gilt als wesentliche Geburtsstunde der abendländischen Universität. Schriftfassung der juristischen Lehrinhalte durch sogenannte Glossen im Text des Corpus Iuris Civilis zur Erklärung. Die Absolventen der in rascher Folge entstehenden Hohen Schulen kamen nicht notwendig aus deren unmittelbarem geographischen Umkreis. Sie trugen die erworbenen Kenntnisse in die Heimat zurück und wandten sie dort in der alltäglichen Praxis an. Auf diese Weise bildete sich neben den lokalen Rechten ein sehr einheitlich strukturiertes allgemeines Rechtsdenken in Europa heraus, das sich auf die Materien des römischen und des kanonischen Rechts stützte und bald als ius commune, als (All ) Gemeines Recht, bezeichnet wurde. Frage 3: a) Die Schrift Friedrich Carl von Savignys gehört in den Kontext des Kodifikationsstreites des Jahres 1814: Anton Friedrich Justus Thibaut (1772 bis 1840) hatte in seinem Traktat Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen buergerlichen Rechts für Deutschland die hergebrachte gemeinrechtliche Rechtskultur als ungeeignet zur Bewältigung der Rechtsprobleme der Zeit erachtet und in Anlehnung an das französische Vorbild des Code Civil (1804) eine deutsche Zivilrechtskodifikation zur Beförderung der Einheit der deutschen Lande angeregt, die politisch bis auf weiteres nicht zu erreichen sei. Gegen die Position Thibauts hatte sich Friedrich Carl von Savigny (1779 bis 1861) mit seiner Schrift Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft deutlich gewandt. Er argumentierte, dass Deutschland wissenschaftlich nicht in der Lage sei, eine qualitätvolle Zivilrechtskodifikation zu erarbeiten, weswegen zunächst eine Erneuerung der Wissenschaft auf der Grundlage eines geschichtlich betrachteten römischen Rechts nötig sei. Savigny setzte sich mit seiner Meinung zunächst durch. Er war als Professor für römisches Recht in Landshut und Berlin einer der einflussreichsten Zivilrechtslehrer seiner Zeit und zeitweise auch Gesetzgebungsminister des Königreiches Preußen. Auf ihn geht die Geschichtliche (Historische) Rechtsschule zurück, die die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts maßgeblich prägte. b) In dem abgedruckten Zitat beschreibt Friedrich Carl von Savigny zwar vordergründig die antike römische Rechtsgelehrsamkeit der Klassik, tatsächlich zielt er, wie sich aus dem Gesamtcharakter seiner Schrift, die das römische Recht als prinzipiell vorbildlich herausstellt, ergäbe, auf die Rechtswissenschaft seiner Zeit. Die Wissenschaft vom Recht gründe auf Begriffe und Sätze, die nicht willkürlich gebildet seien, sondern sich erst durch langfristige Beschäftigung in ihrem wirklichen Sinn zeigten. Savigny geht damit letztlich von einer naturrechtlichen Gründung ( wirkliche Wesen ) der wesentlichen Begriffe und Dogmen des Rechts aus, deren Verständnis allein durch eine historische, also empirische Auseinandersetzung erschlossen werden kann. Damit wendet er sich gegen eine ausschließlich logisch philosophische ( willkürliche ) Begriffsbildung im Recht. Die Begriffe selbst sieht er offenbar gleichwohl in einem natürlich harmonischen, logischen System, wenn er die Rechtswissenschaft mit der Mathematik vergleicht. Dieses Wissenschaftsverständnis Savignys ist zur Grundlage der Historischen Rechtsschule und der aus ihr entstandenen Pandektistik geworden. Um die Mitte des 19. Jahrhundert wurde diese Methode als Begriffsjurisprudenz zusehends kritisch gesehen. Frage 4: a) Gustav Radbruch nimmt die Erfahrungen und Beobachtungen, die er während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gemacht hat, zum Anlass für seinen Beitrag. Die nationalsozialistische Diktatur war ab 1933 mit formalem Gesetzesrecht errichtet worden, darunter das Ermächtigungsgesetz von 1933, die gesetzmäßige
5 Herstellung der Einheit von Partei und Staat 1933 oder die formell gesetzmäßige Feststellung der Staatsnotwehr Auch wenn manche Juristen die (regelmäßig außerordentlich unbestimmten) Inhalte dieser und weiterer Gesetze der Diktatur ablehnten, so fühlten sie sich doch an das formal gesetzte Recht gebunden, vollzogen es und wandten es an. Gegen diese positivistisch orientierte Grundhaltung wendet sich Radbruch. b) Gustav Radbruch setzt sich in dem abgedruckten Zitat mit der Frage auseinander, wo die Grenzen eines Gesetzesbefehls liegen. Er geht dabei grundsätzlich davon aus, dass formal ordnungsgemäß gesetztes Recht ohne weiteres zu beachten ist, auch wenn der einzelne Rechtsanwender das Gesetz für inhaltlich unrichtig hält. Hier betont Radbruch das Erfordernis der Rechts ( anwendungs ) sicherheit. Unbeachtlich wird Gesetzesrecht nach Radbruch nur dort, wo der Gesetzesinhalt als unerträglich falsch empfunden wird, wo also extreme Ungerechtigkeit durch das fragliche Gesetz bewirkt wird. Radbruch möchte damit die Inhalte formalen Rechts in letzter Konsequenz an naturrechtlich gegründeten normativen Grundwerten messen, die Vorrang vor dem positiven Recht hätten, da sie nötigenfalls dessen Unwirksamkeit bewirken könnten. Drei Jahre nach dem Beitrag von Radbruch wurde das Grundgesetz erlassen, dessen Grundrechte (Art GG) nicht nur prominente Stellung in der Verfassung bekommen haben, sondern wegen Art. 1. Abs. 3 GG als unmittelbares Recht gelten, das seinem Wesensgehalt nach nicht angetastet werden darf, Art. 19 Abs. 2 GG, und das auch nicht durch Verfassungsänderung beseitigt werden kann, Art. 79 Abs. 3 GG. Die in den Grundrechten ausgedrückte Werteordnung erleichtert die Frage, was als unerträglich unrichtiges Recht empfunden werden kann, deutlich. Im Kern stellt die Formel Gustav Radbruchs einen Appell an das Verantwortungsbewusstsein des einzelnen Rechtsanwenders dar, sich stets und in jedem Fall kritisch mit dem jeweils einschlägigen Recht auseinanderzusetzen.
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