Die neurogene Schädigung des analen Sphinkters korreliert nur teilweise mit dem klinischen und manometrischen Funktionsverlust
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- Lukas Hochberg
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1 coloproctology Originalarbeit Die neurogene Schädigung des analen Sphinkters korreliert nur teilweise mit dem klinischen und manometrischen Funktionsverlust Matthias Kraemer 1, Wolfgang Jost 2, Wilhelm Stuhlmann 3, Lothar Duschka 3, Heinrich Müller-Lobeck 3 Zusammenfassung Fragestellung: Ist bei Patienten mit morphologisch intaktem, aber klinisch und manometrisch nachweisbarem Funktionsdefizit des analen Sphinkters immer eine neurogene Schädigung als Ursache nachweisbar? Patienten und Methodik: Teilauswertung aus einer prospektiv erstellten Datenbank mit den prä-, peri- und postoperativen Daten von 164 konsekutiven Patienten (w = 141, m = 23; medianes Alter 59 Jahre), die vorwiegend wegen Beckenbodeninsuffizienz und Stuhlinkontinenz operiert wurden. Ausgewertet und korreliert wurden präoperative klinische, manometrische und neurologische Befunde. Ergebnisse: 106 der 164 Patienten wurden präoperativ mittels Nadel-EMG neurologisch untersucht. Neun Patienten wiesen keinen neurogenen Schaden auf. Klinisch wurden bei diesen neun Patienten folgende Befunde erhoben: niedriger Tonus (n = 5), niedriger Kneifdruck (n = 3), beides niedrig (n = 3). Die Manometrie (n = 6) ergab folgende Befunde: niedriger Ruhedruck (n = 2), niedriger Kneifdruck (n = 3), beides niedrig (n = 2). Eine leichte neurogene Schädigung wurde bei 48 Patienten erhoben. Klinisch ergaben sich in diesem Kollektiv folgende Befunde: niedriger Tonus (n = 14), niedriger Kneifdruck (n = 19), beides niedrig (n = 9). Manometrie (n = 24): niedriger Ruhedruck (n = 10), niedriger Kneifdruck (n = 19), beides niedrig (n = 9). Schlussfolgerung: Funktionsbeeinträchtigung und neurogene Schädigung korrelieren nur teilweise bei der so genannten neurogenen, ehemals als idiopathisch bezeichneten Inkontinenz. Es gibt offensichtlich noch andere Ursachen für die besonders bei Frauen weit verbreitete Schließmuskelschädigung und -schwächung. Möglicherweise spielt die mechanische Behinderung der Schließmuskelaktivität als unmittelbare Folge der Beckenbodeninsuffizienz eine Rolle in der Pathogenese. Schlüsselwörter: Stuhlinkontinenz Beckenbodeninsuffizienz Rektumprolaps 1 Abteilung Allgemeine und Viszeralchirurgie, Koloproktologie, St.Barbara-Klinik, Hamm 2 Abteilung Neurologie, Deutsche Klinik für Diagnostik, Wiesbaden 3 Abteilung Chirurgie, Koloproktologie, Deutsche Klinik für Diagnostik, Wiesbaden Eingang: 10. Juli 2006; Annahme: 14. Juli 2006 coloproctology 2006;28:270 4 DOI /s coloproctology Nr. 5 Urban & Vogel
2 Neurogenic Damage of the Anal Sphincter and the Correlation to Functional Deficits Abstract Background: Can neurogenic damage always be correlated to the degree of functional deficit in patients with morphologically intact but clinically and/or manometrically proven anal sphincter deficiency? Methods: All relevant clinical and follow-up data of 164 patients (f = 141, m = 23; median age 59 years) who were operated primarily for fecal incontinence and pelvic floor insufficiency were prospectively collected in a data-bank. For the purpose of this study, preoperative clinical, manometric and neurological findings were correlated. Results: 106 of the 164 patients underwent preoperative assessment with needle EMG by an experienced neuro-proctologist. Nine patients were graded as no neurogenic damage. Clinical findings on digital examination in these 9 patients were: low resting pressure (n= 5), low squeeze pressure (n = 3), both low (n = 2). Anal manometry findings (n = 6) were: low resting pressure (n= 2), low squeeze pressure (n = 3), both low (n = 2). 48 patients were graded as mild neurogenic damage. Clinical findings in these 48 patients were: low resting pressure (n= 14), low squeeze pressure (n = 19), both low (n = 9). Anal manometry findings (n = 24) were: low resting pressure (n= 10), low squeeze pressure (n = 19), both low (n = 9). Conclusion: Conclusion: Functional deficit ( weakness ) of the anal sphincter and neurogenic damage can only partially be correlated in patients with so called neurogenic fecal incontinence (which not long ago was generally termed idiopathic incontinence). Quite obviously, there are also other factors involved in the pathogenesis of fading anal sphincter strength which is so commonly encountered in adult females and sometimes also in male patients. It is possible that degenerative patho-anatomical changes associated with pelvic floor insufficiency result in direct mechanical impairment of pelvic floor and sphincter muscular activity. Forced muscular inactivity leads to muscular atrophy and degeneration. This is similar to the pathogenesis postulated for neurogenic damage. Key Words: Fecal incontinence Pelvic floor insufficiency Rectal prolapse Einleitung Die häufigste Form der Stuhlinkontinenz betrifft vorwiegend Frauen und ist mit den Erscheinungsformen der Beckenbodeninsuffizienz assoziiert. Dieser etwas schwammige Überbegriff steht für ein ganzes Spektrum degenerativer Veränderungen, darunter am augenscheinlichsten der manifeste Rektumprolaps, aber auch für funktionelle Defizite, vor allem Entleerungsprobleme und für die Inkontinenz. Der anale Sphinkterapparat weist dabei typischerweise keine oder allenfalls nur geringe (z.b. geburts-)traumatische Veränderungen auf. Bei nahezu allen Patienten ist eine auffällige Schwächung des analen Schließmuskels zu erheben, die von den Patienten übrigens oft auch bemerkt wird. Pathognomonisch für diese Art der Sphinkterschwächung ist, dass die Patienten nach Aufforderung zu kneifen angestrengt die Gesäßbacken anspannen, der anal tastende Finger aber keine oder eine nur geringe Kontraktion des Afters fühlt. Dabei bleibt festzustellen, dass viele der Patienten, bei denen sich eine coloproctology Nr. 5 Urban & Vogel 271
3 derartige Schwächung des analen Schließmuskels klinisch manifestiert, keine oder allenfalls nur unwesentliche Beschwerden einer Inkontinenz berichten. Anale Sphinkterschwäche ist somit keineswegs synonym für Stuhlinkontinenz. Da die Ursachen dieser Schwächung des Schließmuskels über lange Zeit unklar waren, wurde sie allgemein als idiopathisch bezeichnet. Stimuliert durch urologische Publikationen setzte sich etwa ab Ende der Siebziger Jahre zunehmend das Konzept der neurogenen Inkontinenz durch [1], mit der Erkenntnis, dass sich bei vielen Patienten mit dieser Form der Inkontinenz eine Schädigung des Nervus pudendus nachweisen lässt [2]. Mittlerweile wurde mit dem Begriff neurogene Inkontinenz der früher verwendete Terminus idiopathische Inkontinenz weitgehend ersetzt. Dieser Begriffgebrauch lässt eine gewisse Exklusivität der neurogenen Schädigung als alleinige Ursache für Sphinkterschwäche und Inkontinenz vermuten. Dies ist aber im klinischen Umgang mit diesem Leiden bei Patienten, die sich einer differenzierten Diagnostik unterzogen haben, nicht immer nachzuvollziehen. Wir sind daher der Fragestellung nachgegangen, ob sich bei Patienten mit morphologisch intaktem analen Schließmuskel, aber klinisch und manometrisch nachweisbarem Funktionsdefizit immer eine neurogene Schädigung als Ursache belegen ist. Patienten und Methodik In einer Datenbank wurden alle Patienten eingebracht, die während eines Jahres (August 2000 bis Juli 2001) wegen Manifestationen einer Beckenbodeninsuffizienz, hierdurch verursachter Obstruktion und/oder Inkontinenz abdominell operiert wurden. Alle koloproktologischen Patienten wurden im Rahmen der klinischen Routine einem etablierten Befunderhebungs- und diagnostischen Protokoll unterworfen, einschließlich ausführlichem Befragungsbogen, standardisierter proktologischer Untersuchung und, nach Bedarf, weiterführenden funktionsdiagnostischen Untersuchungen. In die Datenbank eingeflossen sind alle prä-, peri- und postoperativen Daten und Befunde sowie eine Nachbefragung mittels Fragebogen. Die vorliegende Studie beruht auf der Teilauswertung von den Patienten der Tabelle 1. Einteilung der neurogenen analen Sphinkterschädigung. Einzelpotenziale Maximalmuster Normalbefund Normwertige Einzelpotenziale Interferenzmuster Leichte neurogene Schädigung Leichter Umbau m. E. Interferenzmuster Mäßige neurogene Schädigung Mäßiger Umbau m. E., Evtl. Nachweis eines erhöhte Polphasierate Ausfalls m. E. Deutliche neurogene Schädigung Deutlicher Umbau m. E., Gelichtetes Muster, erhöhte Polphasierate Ausfall m. E. Schwere neurogene Schädigung Ausgeprägter Umbau m. E. Einzeloszillationen erhöhte Polphasierate m. E. = motorische Einheiten Datenbank, die eine neuroproktologische Untersuchung hatten (106 von 164). Die neurologische Untersuchung wurde durch einen neuro-proktologisch versierten Facharzt durchgeführt. Dabei ist das EMG mit konzentrischer Nadelelektrode wichtigster Bestandteil der Untersuchung. Nur so kann eine myogene oder neurogene Schädigung und die Funktionsfähigkeit der einzelnen Muskeln erfasst und quantifiziert werden [3, 4]. Beurteilt werden Spontanaktivität (Hinweis auf akute Schädigung) und Einzelpotenziale, was mit Oberflächenelektroden nicht möglich ist. Bei einer Inkontinenz kann anhand der Einzelpotenzialanalyse und des Aktivitätsmusters bei den verschiedenen Untersuchungsbedingungen eine neurogene Schädigung nachgewiesen bzw. ausgeschlossen werden, das Ausmaß quantifiziert und zwischen floridem und chronischem Stadium unterschieden werden. Bei einem neurogenen Schaden kann sich in Ruhe Spontanaktivität (Fibrillationen und positive scharfe Wellen; sehr selten auch pseudomyotone Entladungen) zeigen. Bei Willkürinnervation zeigt sich eine Verlängerung der Muskelaktionspotenziale (verbreiterte Potenziale) mit höheren Amplituden. Daneben finden sich gehäuft polyphasische Potenziale. Bei maximaler Willkürinnervation kommt es zu einem gelichteten Aktivitätsmuster (in schweren Fällen Einzeloszillationen). Die Reflexaktivität ist zumeist reduziert. Zentrale Läsionen führen bezüglich Dauer, Amplitude und Form nicht zu Veränderungen der Einzelpotenziale, aber zu einer verminderten Willküraktivität und verstärkter ungehemmter reflektorischer Aktivität. Für die tägliche Praxis hat sich eine einfache Einteilung bewährt (Tabelle 1). Die Manometrie wurde in üblicher Perfusionstechnik durchgeführt. Werte unter 20 mmhg (Ruhedruck) 272 coloproctology Nr. 5 Urban & Vogel
4 Tabelle 2. Korrelation von klinischem (rektal-digitalen) und manometrischem Befund bei Patienten, die keine neurogene Schädigung aufwiesen (von 106 evaluierten Patienten). Klinisch schwach Niedriger Tonus 5 Niedriger Kneifdruck 3 Beides niedrig 3 Manometrie (n = 6) Niedriger Ruhedruck 2 Niedriger Kneifdruck 3 Beides niedrig 2 bzw. 50 mmhg (maximaler Kneifdruck) wurden als pathologisch niedrig eingestuft. Für die Studie wurden die neuroproktologischen Befunde von Patienten, die als keine bzw. als leichte neurogene Schädigung klassifiziert wurden, mit den klinisch und manometrisch erhobenen Befunden korreliert. Ergebnisse Unter den 106 neuroproktologisch beurteilten Patienten zeigten neun Patienten (8%) keine neurogene Schädigung (Tabelle 2). In diesem Kollektiv wiesen fünf der neun Patienten bei der klinischen Untersuchung, drei von sechs Patienten, die manometrisch evaluiert wurden, eine Schwächung des analen Schließmuskels auf. Tabelle 3. Korrelation von klinischem (rektal-digitalen) und manometrischem Befund bei Patienten, die eine leichte neurogene Schädigung aufwiesen (n = 48, 45% von 106 evaluierten Patienten). Klinisch schwach Niedriger Tonus 14 Niedriger Kneifdruck 19 Beides niedrig 9 Manometrie (n = 24) Niedriger Ruhedruck 10 Niedriger Kneifdruck 19 Beides niedrig 9 Bei 48 Patienten (45%) wurde eine leichte neurogene Schädigung nachgewiesen (Tabelle 3). Hier wiesen 24 von 48 Patienten bei der klinischen Untersuchung, 20 von 24 Patienten bei der manometrischen Untersuchung einen geschwächten analen Schließmuskel auf. Diskussion Die Untersuchung zeigt, dass Funktionsverlust und neurogene Schädigung des analen Schließmuskels nur teilweise korrelieren. Der Begriff neurogene Inkontinenz beschreibt lediglich einen wichtigen Teilaspekt der Pathogenese, ist aber für den Gebrauch als allgemeiner Überbegriff für diese Form der Schließmuskelschwäche nicht ausreichend. Welche weiteren Ursachen könnte es für diese überwiegend bei Frauen ab dem mittleren Lebensalter zu beobachtende, weit verbreitete Schwächung des analen Schließmuskels geben? Die Ursachen liegen vermutlich in der direkten mechanischen Behinderung und sukzessiven Schwächung der Schließmuskelaktion durch eine Beckenbodeninsuffizienz. Durch Absenkung des Beckenbodens wird der Schließmuskel vermehrten radiären Zugkräften ausgesetzt. Dieser Mechanismus (Dehnungs- und Scherkräfte) ist letztlich derselbe, der als wesentliche Ursache der neurogenen Schädigung postuliert wird [5 8]. Die Ziehkraft behindert den Verschluss des Schließmuskels. Abbildung 1. Beispielhafter Defäkographiebefund bei 53-jähriger Patientin: keilförmiges Auseinandertreiben des analen Schließmuskels von innen durch pfropfartigen inneren Rektumprolaps. Zusätzlich treibt in vielen Fällen der pfropfartige innere Rektumprolaps den Schließmuskel von innen keilförmig auseinander (Abbildung 1). Beide Mechanismen behindern die Schließmuskelmotorik. Die Folgen sind analog denen, wie wir sie bei Immobilisation oder Aktivitätsbehinderung anderer Muskeln kennen: Schwächung bis hin zum Funktionsverlust. coloproctology Nr. 5 Urban & Vogel 273
5 Neben der neurogenen ist somit auch eine mechanische Schließmuskelschädigung zu postulieren. Sie ist Folge der direkten mechanisch-physikalischen Behinderung der Schließmuskelaktivität, die durch die Beckenbodeninsuffizienz verursacht wird. 6. Neill ME, Parks AG, Swash M. Physiological studiesof the anal sphincter musculature in faecal incontinence and rectal prolapse. Br J Surg. 1981;68: Parks AG, Swash M, Urich H. Sphincter denervation in anal incontinence and rectal prolapse. Gut 1977;18: Lubowski DZ, Swash M, Nicholls RJ. Increase in pudendal nerve terminal motor latency with defaecation straining. Br J Surg 1988;75: Literatur 1. Neill ME, Swash M. Is faecal incontinence in the elderly neurogenic? Lancet 1979;18: Kiff ES, Swash M. Slowed conduction in the pudendal nerves in idiopathic (neurogenic) faecal incontinence. Br J Surg 1984;71: Floyd WF, Wallis EW. Electromyography of the sphincter ani externus in man. J Physiol 1953;122: Pedersen E. Electromyography of the sphincter muscles. Contemp Clin Neurophysiol 1978;34:405 16, EEG Suppl. 5. Bartolo DCC, Roe AM, Mortensen NJMcC. The relationship between perineal descent and denervation of the puborectalis in continent patients. Int J Colorectal Dis. 1986;1:91 5. Korrespondenzanschrift Priv.-Doz. Dr. med. Matthias Kraemer Abteilung Allgemeine und Viszeralchirurgie, Koloproktologie St.-Barbara-Klinik Hamm-Heessen GmbH Am Heessener Wald Hamm mkraemer@barbaraklinik.de 274 coloproctology Nr. 5 Urban & Vogel
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