5. Schlussbetrachtung Die Betrachtung der neueren Ästhetik und ihres Einflusses auf die Literatur um 1800 hat ergeben, dass die Wirkung der Ästhetik auf die Dichtung und ihre Bedeutung für das Kunstschaffen oftmals überschätzt werden. Am meisten kommt diese Überschätzung in dem von Hermann August Korff geprägten Begriff "Goethezeit" zum Ausdruck, der einen ästhetischen Maßstab beinhaltet und Goethe als literarische Leitfigur jener Zeit suggeriert. Es entsteht der Eindruck, als seien die zahlreichen Werke der Unterhaltungsautoren die Ausnahme, die Klassiker hingegen die Regel gewesen. Die Trivialliteratur war um 1800 jedoch alles andere als eine literarische Randerscheinung. Als Haupterscheinung jener Zeit gelten jedoch generell Klassiker und Romantiker. Daher wird ein Trivialautor wie Kotzebue von der Forschung immer wieder im Kontext der "Goethezeit" aufgegriffen, worauf Titel wie Kotzebue im literarischen Leben der Goethezeit von Frithjof Stock oder Theatergenie zur Goethezeit von Armin Gebhardt hinweisen. Die literarische Praxis um 1800 wird durch einen solchen Begriff allerdings nicht in ihrer Realität wiedergegeben. Dass aber ein Ausdruck wie "Goethezeit" überhaupt existiert, zeugt von der nachhaltigen Wirkung der Ästhetik auf das literarische Bildungs- und Kulturgut in Deutschland, auch wenn er die literarische Wirklichkeit, wie man anhand der Untersuchung sehen konnte, nicht trifft. Eine Umsetzung der ästhetischen Forderungen war von Anfang an unrealistisch, denn sie trugen der künstlerischen Praxis keinerlei Rechnung. Man darf hierbei nicht vergessen, dass die Ästhetik in erster Linie eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Schönen darstellt und sich gedanklich mit dem Thema auseinander setzt, ohne hierbei im Dienste der Kunst zu stehen und dem Kunstschaffen in irgendeiner Form verpflichtet zu sein. Die Ästhetik nahm keine Rücksicht auf die künstlerische Umsetzbarkeit ihrer Vorstellung vom Schönen und der Kunst und fragte nicht nach ihrer Realisierbarkeit. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Kluft zwischen künstlerischer Praxis und Ästhetik überhaupt geschlossen werden musste. Vielmehr liefe die Dichtung bei dem Versuch, diese Kluft zu schließen, Gefahr, selbst zur Philosophie zu werden. Wie wenig greifbar die Dichtung für die Ästhetik war, zeigt sich daran, dass sich die ästhetischen Überlegungen oftmals an der bildenden Kunst orientierten, etwa was den Begriff der Nachahmung angeht, und weniger an der Dichtung. Ihre Erwartungen richtete die Ästhetik dennoch hauptsächlich an die Dichter, denn es war in erster Linie die Dichtung, die von den ästhetischen Maßstäben abirren konnte und die von der ästhetischen Revolution erfasst werden sollte, und weniger Malerei oder Musik. 387
Zwar führte die Ästhetik die Dichtung nicht zum Schönen hin, doch hatte sie in anderer Hinsicht bleibende Spuren in der Dichtung um 1800 hinterlassen, so dass manch ein Werk nur noch mit ästhetischem Hintergrundwissen rezipiert werden konnte. Denn die Dichter, die sich am Diskurs der Ästhetik beteiligten, philosophierten auch in ihren Werken über ästhetische Fragen. Die Thematisierung der Kunst stach deshalb besonders hervor. Das Schöne im Allgemeinen stand hierbei gar nicht im Mittelpunkt des Interesses, sondern sämtliche Fragen, die sich um Kunst und Künstler drehten. Die Ästhetik schrieb der Dichtung geradezu vor, von Kunst zu handeln und sich mit sich selbst auseinander zu setzen, um schließlich zur reflexiven Poesie zu werden. Manche sahen die Aufgabe der Dichtung nur noch darin, sich selbst zu bespiegeln. Dichter, deren Interesse durch die Ästhetik geweckt wurde, wollten hinter das Geheimnis ihres Schaffens blicken. Das Resultat dessen war eine Dichtung, die viel Kunstund Literaturtheorie enthielt. Das machte sie oftmals nicht zu einer schönen, sondern zu einer philosophischen Poesie. Letztlich fand also nicht das Schöne durch die Ästhetik Einzug in die Literatur, sondern das Philosophische. Dieser philosophische Zug der deutschen Dichtung stellte nicht die Erfüllung ästhetischer Maßstäbe dar, sondern war, wie die Ästhetik selbst, eine Suche nach diesen. Es wurde gezeigt, dass durch Anstöße der Ästhetik "Kunst" und "Künstler" verstärkt dichterisch behandelt und zum Gegenstand von Dichtung wurden. Maler, Dichter und Tonkünstler schienen die einzig wahre Sicht auf die Welt mitzubringen und sollten die Menschheit aus ihrem gesellschaftlichen und politischen Tief herausführen. Aus politischem Pessimismus heraus legte die Ästhetik die Rettung der Menschheit in die Hände der Künstler. Die Dichter führten aber weder eine ästhetische Revolution herbei, noch konnte die Dichtung sonst irgendwie auf die Gesellschaft wirken. Dies gilt nicht nur für die schöne, sondern auch für die politische Dichtung. Jedoch gingen die jakobinischen Dichter ohnehin nicht davon aus, dass Dichtung allein der Auslöser einer Revolution sein könnte. Dichtung ist grundsätzlich nicht in der Lage, die Grenze zwischen dem ästhetischen Bereich und der Realität aufzuheben. Die Dichter verhielten sich diesbezüglich jedoch ambivalent. Deutlich wurde dies an Schillers Haltung, der zwar die politische Veränderung auf ästhetischem Weg herbeiführen will, das Ideal aber auf den ästhetischen Schein beschränkt und die bemängelte Wirklichkeit aus der Kunst heraushalten will. Da die Ästhetik alle Hoffnung auf Kunst und Künstler setzte, entlud sich die Enttäuschung über den geringen Kunsteinfluss auf die Wirklichkeit vor allem gegen das 388
Publikum, dem die Ästhetik sein grenzenloses Unterhaltungsbedürfnis zum Vorwurf machte. Das Scheitern einer ästhetischen Erziehung des Menschen wurde nicht nur auf das Verhalten der Dichter zurückgeführt, die das Schöne nicht mehr in ihrer Poesie umsetzten, sondern auch auf das Publikum, das nichts von einer ästhetischen Bildung wissen wollte und die Autoren durch sein Verhalten zur Unterhaltungsliteratur motivierte. Deshalb war das Publikum mit seinem "schlechten" Geschmack immer wieder Thema der Ästhetik. Gerade im Publikum spiegelte sich die Fehleinschätzung der Ästhetik wider. Sie hatte sich einen idealen Rezipienten konstruiert, den es in der Realität nicht gab. Der große Erfolg der Unterhaltungsliteratur führte jede Vorstellung der Ästhetik von einer ästhetischen Erziehbarkeit des Publikums ad absurdum. Es war schwieriger, das Publikum für eine schöne Dichtung zu gewinnen, als die Dichter dazu zu animieren, schöne Dichtung hervorzubringen. Denn was nützt eine schöne Dichtung, wenn sie von niemandem rezipiert wird? Die Ästhetik konnte also weder auf die Literaturproduktion noch auf die -rezeption in der von ihr erhofften Weise Einfluss nehmen und ästhetische Ziele verwirklichen. Ohnehin war die Ästhetik nicht in der Lage zu klären, was das Schöne tatsächlich ist. Ist es ein reines Empfinden im Subjekt oder eine objektive Eigenschaft von Dingen und Kunstwerken? Ist es überhaupt eine Frage der Kunst? Immer wieder wurde das Schöne aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, aber eine klare, d. h. einhellige Definition des Schönen existiert nicht, auch wenn sich Ästhetiker lange darum bemühten. Allerdings konnte die Ästhetik klar benennen, dass es eine schöne Poesie gab, nämlich die Poesie der griechischen Antike. Die Kunst der Moderne wurde nur noch an der Kunst der Antike gemessen und beurteilt. Im Grunde war die Antike nur ein Notbehelf, weil das Schöne als Begriff schwer zu definieren war und man anhand der griechischen Kunst veranschaulichen konnte, was man mit dem Schönen meinte. Aber auch der Anspruch, sich an der Antike zu orientieren, war nicht konkret und beschränkte sich auf den "griechischen Geist", der nachgeahmt werden sollte. Besonders hilfreich war dieser Anspruch nicht, denn was es genau heißt, im griechischen Geist zu dichten, ohne den Fehler zu begehen, die Griechen dabei zu kopieren, konnte die Ästhetik nicht beantworten. Am meisten konzentrierte sich die Ästhetik auf die Mythologie der Antike, die als Hauptmerkmal der antiken Kunst hervorgehoben wurde. Es wurde für die Moderne konstatiert, dass das Fehlen einer Mythologie zugleich für das Fehlen des Schönen in der 389
Dichtung verantwortlich sei. Mythologie und Schönheit wurden auf diese Weise miteinander verknüpft. Daher forderte die Ästhetik immer wieder die Hervorbringung einer Mythologie für die Moderne. Die Hinwendung zur Mythologie und die dadurch beabsichtigte Annäherung an die Antike stellten einen Versuch dar, das Niveau der Dichtung anzuheben. Die Mythologie sollte dazu beitragen, das Schöne wieder in die Dichtung einzuführen. Eine schöne Dichtung im griechischen Geist ist dadurch nicht entstanden. Dafür aber fand die antike Mythologie Einzug in die Dichtung um 1800 und vermischte sich mit Ideen der Moderne. Die Mythologie hatte aber in der Moderne keine religiöse Bedeutung mehr wie in der Antike und stellte auch keine Erklärung mehr für die Vorgänge in der Welt dar, sondern war nur noch von ästhetischer Relevanz und sollte die Dichtung lediglich aufwerten. Dem modernen Publikum war sie nicht mehr vertraut wie dem antiken, gerade weil sie ihren religiösen Sinn verloren hatte und nicht mehr Teil des öffentlichen Lebens war. Eine solche Dichtung wurde zwangsläufig zu einer Dichtung für Gebildete. Die Ästhetik musste vor allem gegen die Unterhaltungsliteratur ankämpfen. Die Trivialautoren zeigten sich ästhetisch uneinsichtig. An ihnen ist die Ästhetik in der literarischen Praxis hauptsächlich gescheitert, denn was bringt eine Definition des Schönen und die damit verbundene Beschäftigung mit der Antike, wenn die Mehrheit der Autoren die daraus hervorgehenden ästhetischen Maßstäbe ignoriert. Vor allem die Masse der Trivialliteratur machte die Kluft zwischen der ästhetischen Theorie und der literarischen Praxis aus. Die Dichter waren gegen die Trivialautoren nicht konkurrenzfähig, denn sie ließen sich auf keinen Kompromiss zwischen dem Schönen und dem Vergnügen ein. Der Standpunkt der Ästhetik bestand in der Unvereinbarkeit beider. Man kann es als Fehler der Ästhetik auslegen, dass sie Vergnügen und Unterhaltung kategorisch ablehnte und eine Dichtung vorschrieb, die sich davon distanziert. Eine Divergenz zwischen ästhetischem Anspruch und literarischer Praxis ist daher auch auf eine Diskrepanz zwischen Ästhetik und Publikumsgeschmack zurückzuführen, den die Mehrheit der Autoren nicht ignorieren wollte. Zum ästhetischen Problem wurde auch der Dilettantismus. Hierbei geht es nicht darum, dass ein Autor ohne den Einsatz ästhetischer Mittel schreibt, um die Rezipienten zu unterhalten, sondern dass ein Dilettant durchaus bemüht ist, den großen Dichtern nachzueifern, jedoch aufgrund mangelnder Kompetenz kein Kunstwerk zustande bringt. Ein Dilettant will in der Regel kein Trivialautor, sondern ein wahrer Dichter sein, besitzt jedoch kein Genie, wie es die Ästhetik ausdrückte. Sie behandelte diesen Aspekt als 390
Dilettantismusproblem, das zu jenen Problemen zählte, die sie zwar benennen, die sie aber, wie so viele andere unerwünschte Erscheinungen in der Literatur, nicht einstellen konnte und die den Erfolg des ästhetischen Projekts gefährdeten. Im Kern lässt sich sagen, dass die Ästhetik wenig Einfluss auf die Literaturlandschaft im Allgemeinen nehmen konnte. Sie konnte die Literaturproduktion nicht ihrem Diktat unterwerfen und zu einer ausnahmslos schönen Poesie hinleiten, aber sie prägte und formte einen Teil der Literatur um 1800. Das Interesse der Gegenwart an dieser Literatur ergibt sich aus dem Umstand, dass sie im Kontext der Ästhetik um 1800 entstanden ist. Was heute in Deutschland als literarisches Bildungs- und Kulturgut gilt, findet seine Prägung in der Ästhetik um 1800. Dass es nicht Kotzebue und Iffland sind, die dazu zählen, sondern vor allem Klassiker und Romantiker, zeugt von der anhaltenden Wirkung der Ästhetik auf das literarische Bewusstsein. Sie hat, auch wenn sie keine umfassende Verbesserung der literarischen Praxis um 1800 bewirkt hat, ein bestimmtes Verständnis von Literatur geprägt, das noch immer anhält. 391