1 Sucht Krankheit, Abwehr, Hilfen. Medizinische und psychologische Grundlagen Heide, 06. September 2018 Referent: Michael Klein
Vom (Irr-) Sinn der Sucht (1) Nur dem rationalen Denken erscheint Suchtverhalten unlogisch und irr sinnig. Vor allem weil die langfristige Bilanz negativ ist ( Konsequenzen des süchtigen Substanzgebrauchs ). (2) Für das psychologische Denken ist das Suchtverhalten eine zutiefst konsequente und damit in letzter Hinsicht subjektiv logische ( sinnvolle ) Verhaltensweise. Besonders die schnelle und kontingente Verstärkung steht dabei im Vordergrund. (3) Die Definition des Begriffes Sinn (Logos) ist dabei jedoch zutiefst subjektiv und individuumsbezogen. Ein übergeordneter Sinn ( höhere Ordnung ) ist zumindest fragwürdig oder oft zunächst nicht erkennbar.
Sucht: Eine Störung der Motivlagen und Selbststeuerung Je psychisch bedürftiger eine Person ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit des gewohnheitsmäßigen Substanzgebrauchs ( Lebensstil) und der Suchtgefährdung, wenn psychoaktive Substanzen prinzipiell verfügbar sind.
Menschliche Grundmotivationen und ihre Bedeutung in der Ätiologie der Sucht (empirische Psychotherapieforschung und Meta- Analysen; GRAWE, 2001, 2003; Neuropsychotherapie) (1) Kontrolle (2) Bindung (3) Selbstwerterhöhung (4) Wohlbefinden (Lust) (5) Vermeidung von Unlust (6) Befriedigung von Neugierde Chronische Nicht-Befriedigung dieser Bedürfnisse führt zu Befindensstörungen. Dies erhöht die Motivation zu Intoxikation und Alltagsflucht.
Basics zu Suchtstörungen 1 1. Was ist Sucht? Wer wird süchtig? Wie verlaufen Suchtstörungen?
Was zur (epidemischen) Ausbreitung von Substanzkonsum und Suchtstörungen in Gesellschaften führt? Allerverfügbarkeit von Suchtmitteln Wirkstoffpotenzierung Synthetisierung der natürlichen Substanzen Niedriger Preis Entgrenzung der Gebrauchsrituale Schaffung und Verfestigung subkultureller Milieus (mit Kriminalisierung der Konsumenten) Konsumfreundliches Klima Ungünstige psychosoziale Bedingungen
Dynamisches Bedingungsgefüge der Abhängigkeitsentstehung ( Ätiologie ) Psychische Funktionen Biologische Funktionen Umfeld Substanz
Merkmale der psychischen Abhängigkeit 1. Gesteigertes Verlangen nach der Substanz 2. Mangelnde Fähigkeit, den Konsum der Substanz zu kontrollieren 3. Zentrierung des Denkens und Handelns auf die Substanz und deren Beschaffung und Konsum 4. Fortsetzung des Konsums trotz subjektiv wahrgenommener negativer Konsequenzen
10. September 2018 Epidemiologie von Suchtstörungen 9
Suchtprävalenzen Folgende Jahresprävalenzen werden für Suchtstörungen in Deutschland auf der Basis verschiedener Studien (ESA, Drogenaffinitätsstudie, PAGE, PINTA etc.) angenommen: 9 Mill. Personen mit riskantem Alkoholgebrauch davon 1.7 Millionen mit Alkoholabhänigkeit 1.7 Millionen mit Alkoholmissbrauch 1.6 Millionen Personen mit Medikamentenabhängigkeit 4.3 Millionen Personen mit Tabakabhängigkeit 5.3 Millionen Personen mit Tabakmissbrauch 0.2 Millionen Personen mit Drogenabhängigkeit (außer Cannabis) 0.3 Millionen Personen mit Cannabisabhängigkeit oder -missbrauch 10. September 2018 Epidemiologie von Suchtstörungen 10
Sucht und Komorbidität Folgende Jahresprävalenzen werden für Suchtstörungen in Deutschland auf der Basis verschiedener Studien angenommen: 0.6 Millionen Personen mit Glücksspielsucht 0.7 Millionen Personen mit Internetsucht 10. September 2018 Epidemiologie von Suchtstörungen 11
Verstärker und Dopaminausschüttung 1000% 900% 800% 700% 600% 500% 400% 300% 200% 100% 0% 50% 100% 175% 200% 225% 300% 400% 1000% Essen Sex Cannabis Alkohol Nikotin Morphin Kokain Amphetamin (Wise, 2000) Dopaminausschüttung
Basics zu Suchtstörungen Kerngruppe: Chronisch mehrfachbelastete Abhängigkeitskranke (CMA) Ca. 0.5% der erwachsenen Bevölkerung, überwiegend Männer Definition: Chronisch mehrfachgeschädigt ist ein Abhängigkeitskranker, dessen chronischer Alkohol- bzw. anderer Substanzkonsum zu schweren bzw. fortschreitenden physischen und psychischen Schädigungen (incl. Komorbidität) sowie zu über- durchschnittlicher bzw. fortschreitender sozialer Desintegration geführt hat bzw. führt, so dass er seine Lebensgrundlagen nicht mehr in eigener Initiative herstellen kann und ihm auch nicht genügend familiäre oder andere personale Hilfe zur Verfügung steht, wodurch er auf institutionelle Hilfe angewiesen ist. (nach Böttger et al., 1999)
Basics zu Suchtstörungen 1 2. Diagnostik und Klassifikation von Suchtstörungen? Wie ist ein Suchtkranker?
Grundmerkmale der Sucht 1. Zwang, Verlangen, Impulsivität 2. Regelmäßigkeit, Häufigkeit, Frequenz, Stil 3. Kontrollverlust, Exzessivität, Grenzüberschreitung 4. Dosissteigerung (Toleranz) 5. Positive Funktionalität 6. Negative langfristige Konsequenzen
Riskanter Konsum: Frauen > 20g tgl. Männer > 30 g tgl. Aus: DHS, 2011
Funktionalität des Substanzkonsums Grundbedürfnis nach Rausch und Ekstase Mittel zum Glücksstreben und zur Selbstbelohnung ( Lust und Euphorie ohne Anstrengung ) im mesolimbisch-dopaminergen System Mittel zur (temporären) Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderung Soziales Schmiermittel (Förderung der Geselligkeit, Abbau sozialer Hemmungen)
Substanzbezogene Störungen (ICD-10 F1) 1 F1x.0 Intoxikation F1x.1 Schädlicher Gebrauch (ICD-10), Missbrauch (DSM-IV) Nicht stoffgebundene Süchte Verhaltenssüchte (Spielsucht, Kaufsucht, Arbeitssucht) F1x.2 Abhängigkeit Impulskontrollstörungen (Pyromanie, Kleptomanie) F1x.3 Entzugssyndrom F1x.4 Entzugssyndrom mit Delir F1x.5 Psychotische Störung F1x.6 Amnestisches Syndrom F1x.7 Restzust. u. verz. auftr. 1 Psych. Störung F10 Alkohol F11 Opioide F1x.8 Sonst. psych. u. Verh. Stör. F12 Cannabinoide F13 Sedativa u. Hypnotika F1x.9 Nicht näher bez. psych. u. F14 Kokain F15 Sonst. Stimmul. inkl. Koffein Verh.störungen F16 Halluzinogene F17 Tabak F18 Flüchtige Lösungsm.F19 multipler Substanzgebrauch u. Konsum sonstiger psychotroper Substanzen.
Suchtstörungen (beyond ICD) Zwänge (unwiderstehlicher Drang, Unfähigkeit zur Abstinenz; von außen ) Verhaltenssüchte Suchtverhalten (vom Missbrauch zur Chronifizierung) Substanzsüchte Impulskontrollstörungen (craving and urges; konsumieren müssen; Dominanz von instant gratification ; von innen ) Verhaltenskontrollstörungen (Grenzüberschreitung, Exzess, Vorsätze verletzen, Lustgewinn, Maximierung)
ICD-10 Kriterien Substanzabhängigkeit
Analog einer Klassifikation der WHO wird im ICD-10 zwischen psychischen und verhaltensbezogenen Störungen durch folgende Substanzen unterschieden: F10 F11 F12 F13 F14 F15 F16 F17 F18 F19 Störungen durch Alkohol Störungen durch Opioide Störungen durch Cannabinoide Störungen durch Sedative oder Hypnotika Störungen durch Kokain Störungen durch andere Stimulanzien, einschl. Koffein Störungen durch Halluzinogene Störungen durch Tabak Störungen durch flüchtige Lösungsmittel Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen
Basics zu Suchtstörungen 1 3. Behandeln, helfen, therapieren, begleiten, betreuen und was noch?
Suchttherapie heißt dafür sorgen, 1. dass der Suchtkranke/-gefährdete in Behandlung geht. 2. dass er wiederkommt. 3. dass er sich öffnet und sich den relevanten Problemen stellt. 4. dass er sein Verhalten verändert. 5. dass er insbesondere Verantwortung für sich übernimmt. 6. dass er die erreichten Veränderungen kontinuierlich einübt (stabilisiert). 7. dass er bei Rückschlägen ( Rückfällen ) nicht aufgibt, sondern umso intensiver weiter an sich arbeitet
Veränderungsziele festlegen Aus: Körkel (2014)
Adresse Referent: Prof. Dr. Michael Klein Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW) Deutsches Institut für Sucht- und Präventionsforschung Wörthstraße 10 D-50668 Köln www.addiction.de Email: Mikle@katho-nrw.de