Mathematik III. Henri Léon Lebesgue ( ) Das Borel-Lebesgue-Maß auf R.

Ähnliche Dokumente
Mathematik III. Vorlesung 68. Das Verhalten von Maßen bei linearen Abbildungen

Prof. Dr. H. Brenner Osnabrück SS Zahlentheorie. Vorlesung 26. Hermann Minkowski ( )

Mathematik III. Produkt-Präringe

Mathematik III. Prof. Dr. H. Brenner Osnabrück WS 2010/2011. Vorlesung 62 In diesem Kurs beschäftigen wir uns mit dem

Analysis III. Vorlesung 61

Das Lebesgue-Maß im R p

Mathematik I. Vorlesung 11. Lineare Unabhängigkeit

Meßbare Funktionen. Die angemessenen Abbildungen zwischen Meßräumen sind die meßbaren Funktionen.

Analysis III. Vorlesung 69. Integrierbare Funktionen

Existenz des Lebesgue-Borel-Maßes

Projektive Räume und Unterräume

TECHNISCHE UNIVERSITÄT MÜNCHEN

Lineare Algebra und analytische Geometrie II

Lineare Algebra und analytische Geometrie I

Lemma (Eigenschaften elementarer Mengen) 1. Jede elementare Menge lässt sich als disjunkte Vereinigung halboffener Intervalle schreiben.

Mathematik für Anwender I

Übungen zur Linearen Algebra 1

Lineare Algebra und analytische Geometrie II

Mathematik III. Vorlesung 74. Folgerungen aus dem Satz von Fubini. (( 1 3 x3 1 2 x2 y +2y 3 x) 1 2)dy. ( y +2y y +4y3 )dy

Mathematik I. Vorlesung 16. Eigentheorie

Algebraische Kurven. Vorlesung 27. Der projektive Raum. Die Geraden durch einen Punkt

1 Das Lebesgue-Maß. 1.1 Etwas Maßtheorie. Sei stets X eine nichtleere Menge mit Potzenzmenge P(X) := {A : A X}.

Analysis III. Vorlesung 72. Korollar Es sei (M,A,µ) ein σ-endlicher Maßraum und v: M R n eine messbare Abbildung. Dann ist die Abbildung

Lineare Algebra I (WS 13/14)

Lineare Algebra und analytische Geometrie I

2 Fortsetzung von Prämaßen zu Maßen, Eindeutigkeit

Vorkurs Mathematik. Vorlesung 8. Angeordnete Körper

Kapitel 19. Das Lebesgue Maß σ Algebren und Maße

6.2 Basen. Wintersemester 2013/2014. Definition Seien V ein K-Vektorraum, n N 0 und v 1,..., v n V. (a) Man nennt

Mathematik für Anwender I

Mathematik für Anwender I

Einführung in die Algebra

Lineare Algebra I (WS 13/14)

Lineare Algebra und analytische Geometrie I

Hausdorff-Maß und Hausdorff-Dimension. Jens Krüger

σ-algebren, Definition des Maßraums

Skript zur Vorlesung Analysis 3

Analysis III. Inhaltsverzeichnis. Martin Brokate. 1 Maße 1. 2 Das Lebesgue-Integral Normierte und metrische Räume 38

Lineare Algebra I. - 9.Vorlesung - Prof. Dr. Daniel Roggenkamp & Falko Gauß. Korrektur: 2. Klausurtermin:

Übungen zur Analysis 3

Lineare Algebra und analytische Geometrie II

Lösungsvorschlag zu den Hausaufgaben der 3. Übung

Grundkurs Mathematik I

Prüfung Lineare Algebra , B := ( ), C := 1 1 0

Lineare Algebra und analytische Geometrie I

KONSTRUKTION VON MASSEN

Vorkurs Mathematik. Vorlesung 5. Cauchy-Folgen

Mathematik I. Vorlesung 14. Rang von Matrizen

Lineare Algebra I (WS 13/14)

Maße auf Produkträumen

Definition Sei V ein Vektorraum, und seien v 1,..., v n V. Dann heißt eine Linearkombination. n λ i = 1. mit. v = v i λ i.

Technische Universität München Zentrum Mathematik. Übungsblatt 7

Kapitel II. Vektorräume

Mathematik III. Vorlesung 61. Abzählbare Mengen

Analysis I. Vorlesung 7. Weitere Eigenschaften der reellen Zahlen

Definitionen und Aussagen zur Maßtheorie

Aufgaben und Lösungen zur Klausur Lineare Algebra im Frühjahr 2009

Skalarprodukt, Norm & Metrik

Lineare Algebra und analytische Geometrie I

1 Endlich additive Volumen auf R n

Lineare Algebra I (WS 12/13)

Unterlagen zur Vorlesung Algebra und Geometrie in der Schule: Grundwissen über Affine Geometrie. Sommersemester Franz Pauer

Aufgaben zu Kapitel 0

Skriptbausteine zur Vorlesung Maßtheorie

2.3 Basis und Dimension

Algebraische Kurven. Vorlesung 3

Prüfung EM1 28. Jänner 2008 A :=

Mathematik I. Vorlesung 7. Folgen in einem angeordneten Körper

Einführung in die Algebra

3 Das n-dimensionale Integral

4 Messbare Funktionen

Seminararbeit Zahlentheorie. Gitter und der Minkowskische Gitterpunktsatz

Mathematik II. Vorlesung 46. Der Gradient

Analysis II. Vorlesung 35. Der Abschluss in einem metrischen Raum

Musterlösung Serie 8

Lineare Algebra und analytische Geometrie I

Analysis II. Vorlesung 48. Die Hesse-Form

Scheinklausur zur Vorlesung Stochastik II

Lehrstuhl IV Stochastik & Analysis. Stochastik II. Wahrscheinlichkeitstheorie I. Skriptum nach einer Vorlesung von Hans-Peter Scheffler

Lineare Algebra und analytische Geometrie I

Lineare Algebra und analytische Geometrie I

Affine Geometrie (Einfachere, konstruktive Version)

Analysis I. Vorlesung 10. Mächtigkeiten

Lineare Algebra und analytische Geometrie II

Analysis II. Vorlesung 47

{ Anzahl Elemente in A wenn endlich, sonst,

Vektorräume. Kapitel Definition und Beispiele

Reelle Analysis. Vorlesungsskript. Enno Lenzmann, Universität Basel. 11. Oktober 2013

Lineare Algebra und analytische Geometrie II

Lineare Algebra I (WS 13/14)

Ferienkurs in Maß- und Integrationstheorie

Elemente der Algebra

3 Die Strukturtheorie der Vektorräume

Kapitel V. Affine Geometrie

( ) ( ) < b k, 1 k n} (2) < x k

Transkript:

Prof. Dr. H. Brenner Osnabrück WS 2010/2011 Mathematik III Vorlesung 67 Wir haben jetzt alle Hilfsmittel zusammen, um auf den Borel-Mengen des R n ein Maß zu definieren, dass für einen Quader, dessen Seiten reelle Intervalle sind, einfach das Produkt der Seitenlängen ist. Dieses Maß heißt Borel-Lebesgue-Maß. Wir beginnen mit der eindimensionalen Situation. Henri Léon Lebesgue (1875-1941) Das Borel-Lebesgue-Maß auf R. Lemma 67.1. Das Mengensystem aller Teilmengen T R, die sich als eine endliche (disjunkte) Vereinigung von halboffenen Intervallen [a, b[ schreiben lassen, ist ein Mengen-Präring. Beweis. Eine Teilmenge T R lässt sich genau dann als eine endliche Vereinigung von halboffenen Intervallen schreiben, wenn dies mit endlich vielen disjunkten halboffenen Teilmengen möglich ist, siehe Aufgabe 67.9. Die leere Menge ist das halboffene Interall [a, a[ (bzw. die leere Vereinigung). Die Abgeschlossenheit unter Vereinigungen ist klar. Sei V = I 1... I m und W = J 1... J n. Dann ist V \W = (I 1... I m )\(J 1... J n ) = (I 1 \(J 1... J n ))... (I m \(J 1... J n )) = ((I 1 \J 1 )\(J 2... J n ))... ((I m \J 1 )\(J 2... J n )). Da I 1 \ J 1 eine Vereinigung von maximal zwei halboffenen Intervallen ist, folgt die Behauptung durch Induktion über n. 1

2 Lemma 67.2. Es sei V der Mengen-Präring aller Teilmengen T R, die sich als eine endliche Vereinigung von halboffenen Intervallen [a, b[ schreiben lassen. Dann gelten folgende Aussagen. (1) Die zu V V über eine Zerlegung in disjunkte halboffene Intervalle definierte Zahl V = [a 1,b 1 [... [a n,b n [ µ(v) = n (b i a i ) i=1 ist wohldefiniert. (2) DurchdieZuordnung V µ(v) wirdeinprämaß auf diesempräring definiert. Beweis. Siehe Aufgabe 67.10. Satz 67.3. Es sei B = B(R) die σ-algebra der Borel-Mengen auf R. Dann gibt es genau ein σ-endliches Maß λ auf (R,B), das für jedes halboffene Intervall [a,b[ den Wert λ([a,b[) = b a besitzt. Statt halboffene Intervalle kann man auch offene oder abgeschlossene Intervalle nehmen. Beweis. Dies folgt aus Lemma 67.2, aus Satz 64.7 und aus Satz 65.7. Definition 67.4. Das eindeutig bestimmte Maß λ 1 = λ auf (R,B(R)), das für jedes halboffene Intervall [a,b[ den Wert λ([a,b[) = b a besitzt, heißt (eindimensionales) Borel-Lebesgue-Maß. Das Borel-Lebesgue-Maß auf R n. Satz 67.5. Der R n sei versehen mit der σ-algebra der Borel-Mengen B n. Dann gibt es auf (R n,b n ) genau ein σ-endliches Maß λ n :B n R 0, T λ n (T), das für alle Quader Q = [a 1,b 1 ] [a n,b n ] den Wert besitzt. λ n (Q) = (b 1 a 1 ) (b n a n ) Beweis. Für n = 1 ist dies der Inhalt von Satz 67.3. Für n 2 folgt dies aus Satz 66.4, angewendet auf das n-fache Produkt von (R,B 1,λ 1 ) mit sich selbst. Definition 67.6. Das eindeutig bestimmte Maß λ = λ n auf (R n,b n ), das für jeden Quader der Form Q = [a 1,b 1 ] [a n,b n ] den Wert λ(q) = (b 1 a 1 ) (b n a n ) besitzt, heißt Borel-Lebesgue-Maß auf R n.

Bemerkung 67.7. Das Borel-Lebesgue-Maß ordnet also jeder Borel-Menge eine reelle Zahl oder das Symbol zu. Die Quader bilden dabei die Grundkörper, denen auf eine besonders einfache Weise ein Maß zugeordnet wird, wodurch das gesamte Maß festgelegt wird. Für eine beliebige messbare Menge T R n ist dabei λ(t) gegeben als das Infimum von i I λn (Q i ) über alle abzählbaren Überpflasterungen von T mit Quadern (so war eben das äußere Maß definiert, mit dessen Hilfe wir den Fortsetzungssatz für Maße aufstellen konnten). Es gibt kein allgemeines Verfahren, für gegebene Mengen (bspw. Flächenstücke, Körper) ihr Maß (ihren Flächeninhalt, ihr Volumen) effektiv zu bestimmen. Eine wichtige Technik ist die Integration von Funktionen. 3 Die Translationsinvarianz des Borel-Lebesgue-Maßes Für eine beliebige Teilmenge T V in einem Vektorraum V und einen Vektor v V nennt man die um v verschobene Menge. T +v = {x+v x T} Definition 67.8. EinMaßauf(R n,b n )heißttranslationsinvariant,wennfür alle messbaren Teilmengen T R n und alle Vektoren v R n die Gleichheit gilt. µ(t) = µ(t +v) Satz 67.9. Das Borel-Lebesgue-Maß λ n ist das einzige translationsinvariante Maß auf (R n,b n ), das auf dem Einheitswürfel den Wert 1 besitzt. Beweis. Sei µ ein solches Maß. Da der R n durch abzählbar viele Verschiebungen des Einheitswürfels überdeckt wird, die wegen der Translationsinvarianz von µ alle das gleiche Maß besitzen, ist µ σ-endlich. Wir müssen zeigen, dass µ mit λ n übereinstimmt, wobei es aufgrund des Eindeutigkeitssatzes genügt, die Gleichheit auf einem durchnittsstabilen Erzeugendensystem nachzuweisen. Ein solches System bilden die Quader der Form [a 1,b 1 [ [a n,b n [ mit rationalen Ecken. Wegen der Translationsinvarianz von µ besitzt ein solcher Quader das gleiche Maß wie der verschobene Quader [0,b 1 a 1 [ [0,b n a n [. Wir schreiben einen solchen Quader unter Verwendung eines Hauptnenners als Q = [0, c 1 m [ [0, cn m [ mit

4 m,c 1,...,c n N. Dieser Quader setzt sich aus c 1 c n Quadern (nämlich [ i 1 m, i 1+1 [ m [in, in+1[ mit i m m j {0,...,c j 1}) zusammen, die alle das gleiche µ-maß haben, da sie ineinander verschoben werden können. Das µ- Maß des Quaders Q ist also das c 1 c n -fache des µ-maßes des Quaders Q = [0, 1[ [0, 1[. Da sich der Einheitswürfel aus m m mn verschobenen Kopien dieses kleineren Würfels zusammensetzt, muss µ( Q) = 1 und damit m n 1 µ(q) = c 1 c n m = n λn (Q) sein. Die Translationsinvarianz des Borel-Lebesgue-Maßes kann man auch so formulieren, dass jede Translation eine maßtreue Abbildung ist. Definition 67.10. Sei V ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum und seien linear unabhängige Vektoren v 1,...,v n V gegeben. Dann nennt man das von den v i erzeugte Parallelotop. P = {a 1 v 1 +...+a n v n a i [0,1]} Lemma 67.11. Es sei λ ein translationsinvariantes Maß auf R n und es sei U R n ein echter Unterraum. Dann ist λ(u) = 0. Beweis. Es sei U R n ein Untervektorraum der Dimension d < n und nehmen wir an, dass λ n (U) > 0 ist. Es sei u 1,...,u d eine Basis von U und P = {a 1 u 1 +...+a d u d a i [0,1]} das davon erzeugte d-dimensionale Parallelotop. 1 Die verschobenen Parallelotope P k = P +k 1 u 1 +...+k d u d, k = (k 1,...,k d ) Z d besitzen wegen der Translationsinvarianz alle dasselbe Maß und bilden eine Überdeckung von U. Da es abzählbar viele sind, muss λ n (P) > 0 gelten. Es sei nun u d+1,...,u n eine Ergänzung der Basis zu einer Basis von V, und sei R = {a 1 u 1 +...+a d u d +...+a n u n a i [0,1]} 1 Wenn man eine Orthonormalbasis wählt handelt es sich um einen Würfel.

das zugehörige n-dimensionale Parallelotop. Für dieses ist λ n (R) <. Wir betrachten nun die abzählbar unendlich vielen Parallelotope P q = P +qu n mit q [0,1] Q. Diese liegen alle innerhalb von R und besitzen wegen der Translationsinvarianz alle das gleiche Maß wie P. Ferner sind sie paarweise disjunkt, da andernfalls ein nichttriviales Vielfaches von u n zu P U gehören würde. Aus λ n (P q ) = λ n ( P q ) λ n (R) q [0,1] Q folgt λ n (R) =, ein Widerspruch. q [0,1] Q Allgemein nennt man Unterräume (und zwar nicht nur Untervektorräume, sondern auch affine Unterräume, also verschobene Untervektorräume) des R n der Dimension n 1 Hyperebenen. Insbesondere besitzen Hyperebenen das Maß 0. Lemma 67.12. Es sei ν ein translationsinvariantes Maß auf (R n,b(r n )). Dann gibt es eine eindeutig bestimmte Zahl c R 0 mit ν = cλ n. Beweis. Es sei c = ν(e), wobei E der Einheitswürfel im R n sei. Wenn c = 0 ist, so liegt das Nullmaß vor, da sich der R n mit abzählbar vielen verschobenen Einheitswürfeln überdecken lässt, die wegen der Translationsinvarianz ebenfalls das Maß 0 haben. Dann hat der Gesamtraum das Maß 0 und damit hat jede messbare Teilmenge das Maß 0. Sei also c 0. In diesem Fall betrachten wir das durch µ(t) := 1 c ν(t) definierte (umskalierte) Maß. Dieses ist nach wie vor translationsinvariant und besitzt auf dem Einheitswürfel den Wert 1. Nach Satz 67.9 ist also µ = λ n und somit ist ν(t) = cλ n. 5

Abbildungsverzeichnis Quelle = LebesgueH.gif, Autor = Benutzer Skraemer auf Commons, Lizenz = PD 1 Quelle = TraslazioneOK.png, Autor = Benutzer Toobaz auf Commons, Lizenz = CC-by-sa 3.0 3 Quelle = Parallellopipedum.png, Autor = Benutzer Svdmolen auf nl. Wikipedia, Lizenz = PD 4 7