Die Stellungnahme von Jürgen Habermas zur Frage nach der Willensfreiheit

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Transkript:

Lieferung 5 Hilfsgerüst zum Thema: Die Stellungnahme von Jürgen Habermas zur Frage nach der Willensfreiheit Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2004, Nr. 267, Seite 35 36. Die Fragestellung erneute Aktualität einer Diskussion im 19. Jahrhundert Determinismus, der eine kausal geschlossene Welt für die Freiheit der Wahl zwischen alternativen Handlungen keinen Platz läßt. Ausgangspunkt: Libets Experimente Habermas will das alltägliche Selbstverständnis handelnder Subkjekte mit dem naturgesetzlichen Determinismus zusammenführen. Das Alltagsbewußtsein lehnt den Determinismus ab, aber schirmt sich von der kognitiven Dissonanzen dadurch ab, daß es den Konflikt bloß grammatikalisch deutet. Habermas betrachtet die Debatte als eine Auseinandersetzung über die richtige Weise der Naturalisierung des Geistes.

2 Jürgen Habermas um ein kohärentes Bild des Universums, das den Menschen als Naturwesen einschließt, zu finden Es ist eine Frage, ob der Determinismus selbst eine naturwissenschaftlich begründete These [ist], oder ist sie nur Bestandteil eines naturalistischen Weltbildes, das sich einer spekulativen Deutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verdankt. Abschnitt 1: eine dualistische Beschreibung Gründe werden von (deterministischen) Ursachen unterschieden. Libets Experimente sind so definiert, daß das normale Netzwerk von motivierenden Gründen ausgeklammert wird. Normalerweise sind Handlungen das Ergebnis einer komplexen Verkettung von Intentionen und Überlegungen, die Ziele und alternative Mittel im Lichte von Gelegenheiten, Ressourcen und Hindernissen abwägen. Das Phänomen des Überlegens gehört dazu. überlegt, also frei handeln können als Kennzeichen einer freien Wahl Mit einer solchen Überlegung öffnet sich der Freiheitsspielraum

Stellungnahme zur Willensfreiheit 3 Also: Rationalität schließt die Offenheit der Freiheit nicht aus. Mit anderen Worten: eine Freiheit unter Bedingungen Der Handelnde ist Urheber im wahren Sinn, obwohl er nicht absolut frei ist. Wird der Handelnde durch einen kausal erklärbaren Naturprozeß bestimmt, empfindet er das als Zwang und Gewalt. Daher lehnt Habermas die Auffassung mancher Neurowissenschaftler ab: Deswegen ist es nicht nur grammatisch falsch zu sagen: Wenn der Aktor anders geurteilt hätte, hätte er anders wollen müssen. Der zwanglose Zwang des besseren Arguments, der uns zu Ja und Nein Stellungnahmen motiviert, ist von dem kausalen Zwang einer auferlegten Einschränkung zu unterscheiden, die uns nötigt, anders zu handeln, als wir wollen. Im wirklichen Leben kommen Phänomene vor wie meinen und überzeugen, bejahen und verneinen sowie für wahr oder falsch halten. Abschnitt 2: Neurowissenschaftlicher Reduktionismus löst den Dualismus auf Geist ist demnach ein Epiphänomen.

4 Jürgen Habermas Epiphänomenalismus des bewußten Lebens Die vernünftigen Handlungsmotiven reichen aber nicht aus, um die Handlung zu erklären. Zur verantwortlichen Autorschaft gehört nicht allein die Motivation durch Gründe, sondern das begründete Ergreifen einer Initiative, die sich der Handelnde selbst zuschreibt: Das macht den Aktor erst zum Urheber. Das Subjekt identifiziert sich mit seinem Leib und versteht sich somit als Urheber der Handlung, obwohl er durch den Leib auch mitbestimmt wird. Auf solche Weise bestimmt zu sein, gehört zur Selbstbestimmung. Unser Charakter wirkt sich ähnlich aus. Das Gehirn ebenfalls Die Anwälte einer reduktionistischen Forschungsstrategie unterlaufen diesen Dualismus, indem sie eine der beiden Erklärungsperspektiven beiseite schieben. Aber: Der Reduktionismus kann rationale Motivationen nicht erklären.

Stellungnahme zur Willensfreiheit 5 Außerdem: Wenn man Gründe und die logische Verarbeitung von Gründen als Epiphänomene abtut, kann man nicht erklären, warum solche Phänomene, evolutionär betrachtet, überhaupt entstanden sind. der Luxus eines Raums der Gründe Abschnitt 3: Zweifel, ob wir die beiden Erklärungsperspektiven hintergehen können Wir sind auf eine komplementäre Verschränkung beider Wissensperspektiven angewiesen. Aus der anthropozentrischen Sicht bleiben die beiden Vokabulare und Erklärungsperspektiven, die wir der Welt auferlegen, für uns nicht hintergehbar. Das erklärt die Stabilität unseres Freiheitsbewußtseins gegenüber dem naturwissenschaftlichen Determinismus. Abschnitt 4: Der Dualismus läßt sich mit einem Monismus verbinden weil er gleichzeitig mit der kulturellen Lebensform selbst entstanden ist Von anderen Menschen lernen Menschen, die Welt zu objektivieren.

6 Jürgen Habermas Zuerst kommt die Intersubjektivität und erst dann die Objektivität, d. h. das Vermögen des Objektivierens. Ohne Intersubjektivität des Verstehens keine Objektivität des Wissens. Wir werden vom objektiven Geist erzogen. Abschnitt 5: ein nichtdeterministisches Bild von der Interaktion zwischen Geist und Gehirn Subjektiver Geist ist durch objektiven Geist geprägt. Das Ich ist keine Illusion, denn im Ichbewußtsein reflektiert sich gleichsam der Anschluß des individuellen Gehirns an kulturelle Programme, die sich nur über gesellschaftliche Kommunikation, also verteilt über die Kommunikationsrollen von Sprechern, Adressaten und Beobachtern, reproduzieren. die Vergesellschaftung der Kognition Geist ist nicht, wie W. Singer annimmt, eine geistige Entität, eine Substanz. 1 1 Wir verstellen uns den Blick auf eine mögliche Lösung, wenn wir den Geist als Substanz ansetzen, als etwas Intelligibles, um dann mit Wolf Singer ironisch zu fragen, wie diese immaterielle geistige Entität mit Gehirnprozessen in Wechselwirkung treten könne.

Stellungnahme zur Willensfreiheit 7 das cartesische Bild von isolierten Bewußtseinsmonaden Tatsächlich existiert so etwas wie der Geist nur dank seiner Verkörperung in akustisch oder optisch wahrnehmbaren materiellen Zeichensubstraten. Warum sollte es dann aber nicht, gegenläufig zur Determinierung des subjektiven Geistes durch das Gehirn, auch eine mentale Verursachung im Sinne der Programmierung des Gehirns durch den objektiven Geist geben? Dieser Gedanke stößt freilich wegen der Nicht-Hintergehbarkeit der komplementär verschränkten Wissensperspektiven auf ein ernstes Problem: Wir wissen nicht, wie wir so etwas wie eine mentale Verursachung begreifen sollen. Wie der Raum der Gründe den Willen beeinflußt, erklärt Habermas nicht näher. Eine nähere Definition des Begriffes Grund, etwa im Unterschied zu Ursache (causa) gibt Habermas ebenfalls nicht an.