Manuskript Beitrag: Zu wenig Geld für häusliche Pflege Im Stich gelassen Sendung vom 19. Februar 2019 von Ingo Dell und Jörg Göbel Anmoderation: Was tun, wenn Familienmitglieder, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen, nicht mehr können, wenn sie am Ende sind? Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte doch versprochen, die Pflege zu verbessern: O-Ton Jens Spahn, CDU, Bundesgesundheitsminister: Mit dem Gesetz, das vorliegt, lösen wir ein, was wir versprochen haben: bessere Arbeitsbedingungen, mehr Pflegekräfte, eine bessere Bezahlung in der Pflege. Und das ist ein ganz, ganz wichtiges Zeichen für die Pflege in Deutschland. Und tatsächlich: Es soll 13.000 neue Stellen in Pflegeheimen geben. Aber zu Hause, dort wo die meisten Pflegebedürftigen versorgt werden, herrscht trotz Gesetz oft blanke Not. Denn ambulante Pflegekräfte werden meist viel schlechter bezahlt als stationäre. Und die Familienangehörigen, die bis ans Ende ihrer Kräfte gehen, damit der alte Vater oder das schwerkranke Kind zu Hause bleiben können, finden allzu oft kein Personal, das ihnen hilft, und sind verzweifelt. Ingo Dell und Jörg Göbel über den Pflegenotstand daheim. Text: Mit der Kanüle in der Luftröhre - nur so kann der 12-jährige Adrian Fels überleben. Weil Lunge und Herz zu schwach sind, ist er an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Regelmäßig müssen Schleim und Sekret abgesaugt werden. Was eigentlich die Aufgabe einer ausgebildeten Pflegefachkraft wäre, leistet seine Mutter. O-Ton Anita Fels, Mutter: Der Schlauch ist an einer Kanüle befestigt, die durch die Luftröhre geht, und wenn dann die Kanüle rausflutscht, dann besteht halt Lebensgefahr, weil Adrian droht zu ersticken
und es muss innerhalb von Sekunden Hilfe geleistet werden. Eigentlich braucht Adrian gerade wegen seiner Beatmung die 24-Stunden-Pflege rund um die Uhr. Weil er die nicht bekommt, muss Anita Fels ihren Sohn versorgen, Tag und Nacht die Atmung überwachen, ihren Sohn mit künstlicher Nahrung über eine Sonde versorgen, 20 verschiedene Medikamente verabreichen. So eine 24-Stunden- Betreuung durch einen Intensivpflegedienst würde die Krankenkasse monatlich rund 25.000 Euro kosten. O-Ton Anita Fels, Mutter: Seit drei Monaten mache ich es komplett alleine, weil aufgrund des Personalmangels wir sowieso schon Probleme haben, einen Intensivpflegedienst zu finden. Und dann kommt noch ein größeres Problem hinzu: Wenn ich mal einen finde, der zumindest stundenweise was abnehmen kann, dass die Krankenkasse die Stundensätze nicht zahlt. Auf Nachfrage teilt die Techniker Krankenkasse mit: Die Stundensätze seien deutlich gestiegen, höhere Personalkosten müssten laut Gesetz individuell verhandelt werden. Die TK unterstütze die Familie bei der Suche, aber: Zitat: Zu unserem Bedauern können wir nicht immer einen Pflegedienst mit entsprechend qualifizierten Kräften finden. Und so muss die gesamte medizinische Rund-um-die-Uhr- Betreuung weiterhin die dreifache Mutter Anita Fels leisten. Sie wird nur ab und zu abgelöst von ihrem berufstätigen Ehemann. Ihren Job hat die studierte Betriebswirtin mit Adrians Geburt aufgegeben. O-Ton Anita Fels, Mutter: Also, Freizeit habe ich gar keine mehr. Adrian ist wirklich eine 24-Stunden-Versorgung, das heißt auch nachts. Mein Mann und ich wechseln uns ab. Wie lange ich das durchhalte, keine Ahnung. Ich hab Gott sei Dank keine Zeit darüber nachzudenken. Ich muss! Der Motor läuft und solange er läuft, muss man da durch. Ja, ich weiß es einfach nicht. Verzweifelt auf der Suche nach einem Pflegedienst - das hat auch Rollstuhlfahrerin Jacqueline Grommisch aus Dresden erlebt. Ihr schwerkranker Mann braucht nach einem Schlaganfall auch einen 24-Stunden-Intensivpflegedienst. Jacqueline Grommisch selbst kann sich nur eingeschränkt um ihn kümmern. Im Herbst vergangenen Jahres kündigte der alte Pflegedienst. Der Grund: Personalmangel. O-Ton Jacqueline Grommisch, Ehefrau:
Ich habe seit der Aussprache der Kündigung sozusagen, habe ich jeden Tag versucht mit Pflegediensten Kontakt aufzunehmen, hab im Internet recherchiert. Und bei allen Pflegediensten kam eine Absage, dass keine Eins-zu-eins- Betreuung möglich ist. Und das hat mir vor Augen geführt, ich muss was finden, sonst müsste ich meinen Mann weggeben. Und das war für mich das Schlimmste. Inzwischen hat sie eine Lösung gefunden: Sylvia Franke betreut den Mann von Jacqueline Grommisch. Die examinierte Krankenschwester macht ihren Job eigentlich gern, doch sie verdient in der ambulanten Pflege nur etwas mehr als elf Euro die Stunde - deutlich weniger als im Krankenhaus. O-Ton Sylvia Franke, Krankenschwester: Ich selber habe jahrelang in Krankenhäusern auch gearbeitet, ich weiß was die verdienen, und das ist hier wirklich unter der Gürtellinie, sage ich mal. Ich habe zum Beispiel auch eine Freundin, die ins Krankenhaus gegangen ist, weil sie dort halt mehr verdient, die bei uns auch in der Firma vorher gearbeitet hatte und die kommt auch nicht mehr zurück. Sebastian Stegmaier ist Geschäftsführer des Intensivpflegedienstes von Sylvia Franke. Seit Jahren kämpft er ums Überleben seines Unternehmens - und das, obwohl es viel zu tun gäbe. Im vergangenen Jahr hatte er 32 Anfragen von Patienten, nur zwei konnte er annehmen. Gleichzeitig sind zahlreiche Mitarbeiter gegangen, der Grund dafür laut Stegmaier: lange und schwierige Verhandlungen mit den Krankenkassen. O-Ton Sebastian Stegmaier, Geschäftsführer Zentrum der Gesundheitsdienste Dresden: Wir haben 60 Mitarbeiter verloren. Und von diesen 60 Mitarbeitern - würde ich sagen - sind 80 Prozent in die Krankenhäuser gewechselt. Das ist für uns eine Entwicklung, die wir nicht aufhalten können. Aufgrund der niedrigen Vergütung sind wir nicht in der Lage, mehr zu bezahlen. Laut Zahlen der Bundesregierung sind die Gehaltsunterschiede in der Pflege enorm. Ambulante Pflegefachkräfte verdienen durchschnittlich 917 Euro brutto weniger als im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Der Unternehmensberater Andreas Heiber untersucht den Pflegesektor schon seit Jahren, wird immer wieder als Experte im Bundestag gehört. O-Ton Andreas Heiber, Unternehmensberater: Wir sagen die ganze Zeit, zu Hause ist es am schönsten. Aber die Menschen, die das ermöglichen können letztendlich, werden im Gesundheitssystem am
schlechtesten bezahlt. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ich sehe es seit Jahrzehnten, dass es so ist. Ich finde es ungerecht und wenn wir dort nicht massiv was ändern, dann werden wir die ambulante Versorgung einfach einstellen. Morgens, acht Uhr, beim ambulanten Pflegedienst von Petra Ziemer in Zerbst. Die 20-jährige Lea Schumann, gelernte Krankenpflegehelferin, bekommt ihren nächsten Einsatz mitgeteilt. 30 Stunden arbeitet sie die Woche. Die Arbeit macht sie gern, doch die Bezahlung ist ernüchternd. O-Ton Lea Schumann, Krankenpflegehelferin: Am Ende des Monats habe ich so circa 1.000 Euro auf dem Konto, also netto. Das heißt, wenn meine Miete noch abgezogen wird, habe ich am Ende des Monats so um die 450 Euro, hochgerechnet, zum Leben. Und natürlich reicht das hinten und vorne nicht. Ich habe viel Unterstützung von meiner Familie, da bin ich auch sehr froh drüber. Und ohne diese Hilfe wäre es nicht möglich. Beim ersten Hausbesuch von Lea Schumann zeigt sich, warum sie so wenig verdient. Das Pflegesystem ist kompliziert. Grundpflege wie Anziehen oder Waschen bezahlt die Pflegekasse. Lea Schumann erbringt aber auch medizinische Leistungen, die der Arzt verordnet hat. Und diese Tätigkeiten, Behandlungspflege genannt, bezahlt die Krankenkasse. Und das ist das Problem. Denn Lea Schumann misst erstens den Blutzuckerspiegel, spritzt zweitens Insulin, gibt drittens Medikamente und zieht viertens Kompressionsstrümpfe an. Aber nicht alles wird bezahlt. Für Chefin Ulrike Ziemer ist das nicht nachvollziehbar. Aus ihrer Sicht ist die Bezahlung durch die Krankenkassen zu schlecht. O-Ton Ulrike Ziemer, Pflegedienst und Tagespflege Ziemer: Lea hat insgesamt vier Leistungen erbracht vor Ort und wir bekommen aber nur aus der höchsten Gruppe das Anziehen der Kompressionsstrümpfe vergütet mit knapp neun Euro. Und das ist das große Problem bei uns, weil, wie gesagt, vier Leistungen fallen an, aber nur eine wird bezahlt. Seit 25 Jahren betreibt sie den ambulanten Pflegedienst. Ihren Beschäftigten muss Ulrike Ziemer Pflegemindestlohn bezahlen. Um das zu schaffen, hat sie sogar private Ersparnisse eingesetzt. O-Ton Ulrike Ziemer, Pflegedienst und Tagespflege Ziemer: Wir haben seit 2010 den Mindestlohn, der ist bis 2020 festgelegt. Wir hätten dann eine Lohnsteigerung von 40 Prozent aufsummiert und analog praktisch von den Kassen bis jetzt nur 20 Prozent refinanziert. Und daher ergibt sich diese Schere, dass praktisch die Einnahmen nicht die Ausgaben ausgleichen.
Seit Jahresbeginn sollte alles besser werden. Das Pflegepersonalstärkungsgesetz soll sicherstellen, dass Ulrike Ziemer ihre ambulanten Pflegekräfte besser bezahlen kann. Die sollen einige Euro mehr pro Stunde erhalten: Tariflohn - von den Krankenkassen finanziert. Doch davon merkt Ziemer bisher nichts. Nachfrage beim Spitzenverband GKV. Warum zahlen die Krankenkassen keine höheren Löhne in der ambulanten Pflege? Der GKV erklärt, eine höhere Vergütung setze voraus, Zitat: dass der Pflegedienst in den Verhandlungen die entsprechende Transparenz herstellt. Dies ist notwendig um zu gewährleisten, dass Vergütungserhöhungen tatsächlich den Pflegekräften zugutekommen. Weniger Geld als das Gesetz vorschreibt wegen zu wenig Transparenz? Pflegeverbände halten das für vorgeschoben. Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung fordert Verbesserungen beim Lohn: O-Ton Andreas Westerfellhaus, CDU, Bundespflegebeauftragter: Dann muss der Gesetzgeber hier eingreifen, denn das ist ja nicht Ziel und Ergebnis des Gesetzes, sondern wir wollen anständige Löhne in den ambulanten und den häuslichen Bereichen für die dort Pflegenden. Alles andere wäre fatal für die Versorgung und würde am Ende bei ungleichen Löhnen auch zur Abwanderung sorgen. Dann stehen wir tatsächlich vor einer großen Frage, wie die Versorgungsstrukturen denn im häuslichen Bereich zukünftig aussehen kann. Öffentlichkeitswirksam haben die drei Bundesminister Jens Spahn, Franziska Giffey und Hubertus Heil kürzlich betont: Die Pflege muss gestärkt werden. Doch passiert ist in der ambulanten Pflege zu Hause bisher zu wenig. O-Ton Andreas Heiber, Unternehmensberater: Ich höre die Sonntagsreden der Politik: ambulant vor stationär. Aber keiner begibt sich mal sozusagen auf dieses krude Feld der Refinanzierungen und guckt mal, was da wirklich bezahlt wird. Weil dann würde man verstehen, warum das so ist, und dann könnte man da auch steuernd eingreifen. Wer zu Pflegende und ihre Angehörigen nicht allein lassen will, der muss dafür sorgen, dass Betreuung zu Hause anständig bezahlt wird. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur
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