Morphologische Theorien IV. Distribuierte Morphologie 3 Verarmung und Spaltung: Germanische und afroasiatische Verbflexion bei Frampton

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Transkript:

Lit.: Frampton (2002) Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 1 / 32 Morphologische Theorien IV. Distribuierte Morphologie 3 Verarmung und Spaltung: Germanische und afroasiatische Verbflexion bei Frampton Gereon Müller Institut für Linguistik Universität Leipzig SoSe 2015 www.uni-leipzig.de/ muellerg

Zentrale Behauptungen: (i) Die klassischen Personenmerkmale (1, 2, 3) in der verbalen Konjugation müssen dekomponiert werden in Kombinationen primitiver Merkmale [±1], [±2]; Vokabularelemente können bzgl. dieser Merkmale unterspezifiziert sein, was Synkretismus erfasst. (ii) Die Analyse erfordert die post-syntaktischen Operationen Verarmung (impoverishment) und Spaltung (fission); insofern, als sie als erfolgreich gelten kann, ist sie somit ein Argument für die Distribuierte Morphologie. (1) Verarmung (impoverishment): Verarmungsregeln reduzieren morpho-syntaktische Merkmalsbündel von der Syntax zur Morphologie; die Morphologie operiert dann auf vereinfachten Strukturen, und es resultiert ein retreat to the general case. Bemerkung: Das Konzept der Verarmung ist Standard; Spaltung ist nicht wie bei Halle & Marantz (1993) definiert (Spaltung a ), sondern wie bei Noyer (1992) und Trommer (1999, 2001) (Spaltung b ). Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 2 / 32

(2) Spaltung a (fission a ; Halle & Marantz (1993)): a. Spaltung gliedert aus einem Morphem M mit den Merkmalen α ein Merkmalsbündel β aus, so dass zwei terminale Knoten M 1 und M 2 entstehen. b. (i) M 1 hat die Merkmale β. (ii) M 2 hat die Merkmale α β. (3) Spaltung b (fission b ; Noyer (1992), Trommer (1999, 2001)): a. Ein gespaltenes Morphem M mit den Merkmalen α wird bei Einsetzung eines Vokabularelements V mit den Merkmalen β in zwei Merkmalsbündel β und α β zerlegt, so dass (a) und (b) gelten: b. (i) α β ist für weitere Einsetzung gemäß Teilmengenprinzip zugänglich. (ii) β ist für weitere Einsetzung nicht zugänglich. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 3 / 32

Bemerkung: Spaltung eines Morphems ist rekursiv; d.h., nach Einsetzung eines Vokabularelements in ein Morphem ist dieses Morphem mit seinen (u.u.) übrig gebliebenen Merkmalen wiederum Gegenstand von Spaltung. (4) Teilmengenprinzip: Ein Vokabularelement V wird in ein funktionales Morphem M eingesetzt gdw. (i) und (ii) gelten: (i) Die morpho-syntaktischen Merkmale von V sind eine Teilmenge der morpho-syntaktischen Merkmale des M-Kontexts. (ii) V ist das spezifischste Vokabularelement, das (i) erfüllt. Bemerkung: Frampton nennt dieses Prinzip Principle of Decreasing Specificity (PDS). Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 4 / 32

(5) Spezifizität von Vokabularelementen: Ein Vokabularelement V i ist spezifischer als ein Vokabularelement V j gdw. es mehr morpho-syntaktische Merkmale hat. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 5 / 32

Synkretismus in der englischen Verbflexion (6) a. be b. work präs prät präs prät 1 sg am was 2 sg are were 3 sg is was 1 pl are were 2 pl are were 3 pl are were 1 sg work worked 2 sg work worked 3 sg works worked 1 pl work worked 2 pl work worked 3 pl work worked (7) Generalisierungen: a. Im Präteritum gibt es einen Synkretismus von 1. und 3. Pers. Sg. b. Im Plural gibt es keine Person-Unterscheidung. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 6 / 32

Annahme: Diese beiden Generalisierungen sind nicht zufällig; sie sollen durch daher nicht durch arbitäre Eigenschaften von Vokabularlementen abgeleitet werden, sondern durch Verarmungsregeln, die syntaktisch vorgegebene Merkmalsstrukturen für die Morphologie systematisch reduzieren und vereinfachen, und somit bestimmte Synkretismen als Systemeigenschaft vorhersagen. Beobachtung: Zumindest der 1./3.-Synkretismus ist eine fundamentale Eigenschaft der germanischen Sprachen; er gilt z.b. auch im Isländischen. Grundproblem: Wie kann der 1./3.-Synkretismus mit Hilfe des Konzepts der natürlichen Klassen erfasst werden? Plank (1991, 19): Dies zeigt, dass Synkretismus auch ohne irgendeine Bedeutungsähnlichkeit vorliegen könne; 1. und 3. Person seien intuitiv keine natürliche Klasse ( no natural class on any plausible criterion ). Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 7 / 32

Annahme (Wiese (1994)): 1. und 3. Pers. sind sehr wohl eine natürliche Klasse (auf die sich Flexionsmarker dann per Unterspezifikation beziehen können); man muss nur Personmerkmale dekomponieren. (8) Dekomposition von Personmerkmalen bei Wiese: a. [±demonstrativ] b. [±adressierend] (9) Personen bei Wiese: a. [ d, a] = 1. Pers. b. [+d,+a] = 2. Pers. c. [+d, a] = 3. Pers. d. [ d,+a] = (1. Pers. inkl.?) Ergebnis: 1. und 3. Person sind eine natürliche Klasse: [ adressierend] Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 8 / 32

Bemerkung: Unabhängig hiervon, aber unter Bezug auf Noyer (1992), schlägt Frampton eine ganz ähnliche Dekomposition vor. (10) Dekomposition von Personmerkmalen bei Frampton: a. [±1] b. [±2] Es gilt: (i) [+a] bei Wiese = [+2] bei Frampton (ii) [ a] bei Wiese = [ 2] bei Frampton (iii) [+d] bei Wiese = [ 1] bei Frampton (iv) [ d] bei Wiese = [+1] bei Frampton Resultat: Wiederum sind 1. und 3. Person eine natürliche Klasse: [ 2]. (11) Personen bei Frampton: a. [+1, 2] = 1. Pers. b. [ 1,+2] = 2. Pers. c. [ 1, 2] = 3. Pers. d. [+1,+2] = 1. Pers. inkl. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 9 / 32

Bemerkung: Die primitiven Merkmale werden semantisch interpretiert; ob [+1,+2] kohärent interpretiert werden kann, ist Gegenstand der Parametrisierung. In (z.b.) indo-europäischen Sprachen steht die Kombination wegen fehlender semantischer Kohärenz nicht zur Verfügung. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 10 / 32

(12) Vokabularelemente bei be : a. /am/ [+1, 2, pl, prät] b. /ı/ [ 2, pl, prät] c. /are/ [ prät] d. /was/ [ 2, pl,+prät] e. /were/ [+prät] Problem: Der Synkretismus ist jetzt durch Dekomposition von Personmerkmalen abgeleitet, aber er wird als eine Zufälligkeit eines Lexikoneintrags (vgl. (12-d)) analysiert, nicht als systemweite Generalisierung. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 11 / 32

Annahmen über die syntaktische Struktur (13) a. Vereinfachte Satzstruktur vor Kopfbewegung: [ AgrP [ Agr Agr [ TP [ T T [ VP... V... ]]]]] b. Resultat der Kopfbewegung: [ Agr [ T V T ] Agr ] Bemerkung: Hieraus lassen sich die abstrakten Paradigmen in (14) ableiten. (Diese abstrakten Paradigmen sind nicht als genuine Objekte der Grammatik anzusehen, nur als Generalisierung darüber, welche vollständigen Spezifikationen alle durch Vokabulareinsetzung zu füllen sind. Im Einklang mit der restlichen Literatur zur Distribuierten Morphologie geht Frampton davon aus, dass Paradigmen keine Objekte sind, auf die morphologische Beschränkungen zugreifen könnten.) Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 12 / 32

(14) Durch Vokabularelemente zu realisierende Spezifikationen, Version 1: [+1, 2, pl] [+1, 2,+pl] a. V + [ prät] + [ 1,+2, pl] [+1,+2,+pl] [ 1, 2, pl] [ 1, 2,+pl] b. V + [+prät] + [+1, 2, pl] [ 1,+2, pl] [ 1, 2, pl] [+1, 2,+pl] [+1,+2,+pl] [ 1, 2,+pl] Annahme: Durch Verarmung wird (14) vereinfacht. (15) Verarmung für den Plural im Englischen: [±1,±2] Ø/ [+pl] Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 13 / 32

(16) Durch Vokabularelemente zu realisierende Spezifikationen, Version 2 (nach Verarmung): a. V + [ prät] + [+1, 2, pl] [ 1,+2, pl] [ 1, 2, pl] [+pl] [+pl] [+pl] b. V + [+prät] + [+1, 2, pl] [ 1,+2, pl] [ 1, 2, pl] [+pl] [+pl] [+pl] Konsequenz: Es kann nun keine Vokabularelemente geben, die für Personunterschiede im Plural sensitiv sind. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 14 / 32

Synkretismus in der altenglischen Verbflexion (17) Schwache Verben: dēmen ( urteilen ) präs prät [+1, 2, pl] dēm-e dēm-d-e [ 1,+2, pl] dēm-est dēm-d-est [ 1, 2, pl] dēm-eþ dēm-d-e [+1, 2,+pl] dēm-aþ dēm-d-on [ 1,+2,+pl] dēm-aþ dēm-d-on [ 1, 2,+pl] dēm-aþ dēm-d-on Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 15 / 32

(18) Starke Verben: singan ( singen ) präs prät [+1, 2, pl] sing-e sang [ 1,+2, pl] sing-est sung-e [ 1, 2, pl] sing-eþ sang [+1, 2,+pl] sing-aþ sung-on [ 1,+2,+pl] sing-aþ sung-on [ 1, 2,+pl] sing-aþ sung-on Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 16 / 32

(19) Suppletive Verben: sindon ( sein ) präs prät [+1, 2, pl] eam wæs [ 1,+2, pl] eart wær-e [ 1, 2, pl] is wæs [+1, 2,+pl] sindon wær-on [ 1,+2,+pl] sindon wær-on [ 1, 2,+pl] sindon wær-on Annahme: Die systematischen Synkretismen im Plural und im Prät der 1. und 3. Pers. Sg. sind durch Verarmung abzuleiten. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 17 / 32

(20) Verarmungsregeln: a. [+prät] wird zu einem privativen Merkmal [prät], [ prät] wird getilgt. b. [+pl] wird zu einem privativen Merkmal [pl], [ pl] wird getilgt. c. [±1] Ø/[prät]. d. [±1,±2] Ø/ [pl]. Bemerkung: (20-cd) sind die entscheidenden Regeln. (Es ist nicht ganz klar, ob man (20-ab) überhaupt braucht. Frampton führt die Regeln als Privativierungsregeln ein, aber es scheint klar, dass es sich um Verarmung handelt.) Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 18 / 32

Konsequenz: Aus (14) wird jetzt statt nur (16) das abstrakte Paradigma (21); dies legt die möglichen Einsetzungskontexte für altenglische Verbflexionsmarker exhaustiv fest. (21) Durch Vokabularelemente zu realisierende Spezifikationen, Version 3 (nach Privativierung und zweifacher Verarmung): a. V + [+1, 2] [pl] [ 1,+2] [pl] [ 1, 2] [pl] b. V + [prät] + [ 2] [pl] [+2] [pl] [ 2] [pl] Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 19 / 32

(22) Vokabularelemente: (23) a. V + a. /wæs/ sindon/ [ 2,prät] b. /wær/ sindon/ [prät] c. Ø [prät]/v stark d. /d/ [prät] e. Ø [ 2]/V stark,[prät] f. /e/ [+2]/V stark,[prät] g. /eþ/ [ 1, 2] h. /est/ [+2] i. /e/ [ 2] j. /on/ [pl]/[prät] k. /aþ/ [pl] [+1, 2] [pl] [ 1,+2] [pl] [ 1, 2] [pl] b. V + [prät] + [ 2] [pl] [+2] [pl] [ 2] [pl] Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 20 / 32

Problem: Warum erscheinen keine Flexionsmarker bei den Suppletivformen von sindon im Präsens? Lösung: sindon (= V) und Agr fusionieren, wenn sie adjazent sind (also wenn kein T[prät] interveniert). (24) a. /eam/ sindon,[+1, 2] b. /eart/ sindon,[+2] c. /is/ sindon,[ 2] d. /sindon/ sindon,[pl] Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 21 / 32

Komplexität: Frampton weist darauf hin, dass unter dem Teilmengenprinzip (a) erst einmal die Vokabularelemente ermittelt werden müssen, die für einen gegebenen Kontext passen, und dann (b) der spezifischste Marker unter den passenden determiniert werden muss. Bei Annahme von Verarmung werden beide Prozesse signifikant verkürzt. Daher sei die Theorie unter Komplexitätsgesichtspunkten attraktiv. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 22 / 32

Synkretismus in der deutschen Verbflexion (25) Schwache Verben: glauben präs prät [+1, 2, pl] glaub-e glaub-te [ 1,+2, pl] glaub-st glaub-te-st [ 1, 2, pl] glaub-t glaub-te [+1, 2,+pl] glaub-en glaub-te-n [ 1,+2,+pl] glaub-t glaub-te-t [ 1, 2,+pl] glaub-en glaub-te-n Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 23 / 32

(26) Starke Verben: singen präs prät [+1, 2, pl] sing-e sang [ 1,+2, pl] sing-st sang-st [ 1, 2, pl] sing-t sang [+1, 2,+pl] sing-en sang-en [ 1,+2,+pl] sing-t sang-t [ 1, 2,+pl] sing-en sang-en Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 24 / 32

(27) Suppletive Verben: sein präs prät [+1, 2, pl] bin war [ 1,+2, pl] bi-st war-st [ 1, 2, pl] is-t war [+1, 2,+pl] sind war-en [ 1,+2,+pl] seid war-t [ 1, 2,+pl] sind war-en (28) Verarmungsregeln, Deutsch: a. [+prät] wird zu einem privativen Merkmal [prät], [ prät] wird getilgt. b. [+pl] wird zu einem privativen Merkmal [pl], [ pl] wird getilgt. c. [±1] Ø/[prät]. d. [±1] Ø/ [pl]. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 25 / 32

(29) Durch Vokabularelemente zu realisierende Spezifikationen (nach Privativierung und zweifacher Verarmung: [+1, 2] [ 2,pl] a. V + [ 1,+2] [+2,pl] [ 1, 2] [ 2,pl] b. V + [prät] + [ 2] [ 2,pl] [+2] [+2,pl] [ 2] [ 2,pl] Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 26 / 32

(30) Vokabularelemente: (31) a. V + a. Ø [prät]/v stark b. /te/ [prät] c. /e/ [+1, 2] d. /t/ [ 1, 2] e. /n/ [ 2,pl] f. /t/ [+2,pl] g. /st/ [+2] [+1, 2] [ 2,pl] [ 1,+2] [+2,pl] [ 1, 2] [ 2,pl] b. V + [prät] + [ 2] [ 2,pl] [+2] [+2,pl] [ 2] [ 2,pl] Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 27 / 32

Kabyle-Berber (Afroasiatisch, Algerien) Plot: Es gibt hier bei der Konjugation zwar keine Evidenz für Verarmung, aber dafür gibt es Evidenz für (i) die Dekomposition der Personmerkmale, und (ii) Spaltung. (32) Spaltung b (fission b ; Noyer (1992)): a. Ein gespaltenes Morphem M mit den Merkmalen α wird bei Einsetzung eines Vokabularelements V mit den Merkmalen β in zwei Merkmalsbündel β und α β zerlegt, so dass (a) und (b) gelten: b. (i) α β ist für weitere Einsetzung gemäß Teilmengenprinzip zugänglich. (ii) β ist für weitere Einsetzung nicht zugänglich. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 28 / 32

(33) Completive verbal paradigm: sg pl 1mask wala-g n-wala 1fem wala-g n-wala 2mask t-wala-d t-wala-m 2fem t-wala-d t-wala-m-t 3mask i-wala wala-n 3fem t-wala wala-n-t (34) Abstraktes Paradigma: [+1, 2, pl, fem] [+1, 2, pl,+fem] V + [ 1,+2, pl, fem] [ 1,+2, pl,+fem] [ 1, 2, pl, fem] [ 1, 2, pl,+fem] [+1, 2,+pl, fem] [+1, 2,+pl,+fem] [ 1,+2,+pl, fem] [ 1,+2,+pl,+fem] [ 1, 2,+pl, fem] [ 1, 2,+pl,+fem] Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 29 / 32

Bemerkung: Hier ist bei jedem Vokabularelement wesentlich, ob es ein Suffix oder ein Präfix ist (dementsprechend steht ein Strich vor oder hinter dem Element). (35) Vokabularelemente: a. /i-/ [ 1, 2, pl, fem] b. /-n/ [ 1, 2,+pl] c. /n-/ [+1,+pl] d. /-G/ [+1] e. /-m/ [+2,+pl] f. /-d / [+2] g. /t-/ [ 1] h. /-t/ [+fem]/[ 1,+pl] Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 30 / 32

Weiterentwicklung von Framptons Ansatz in Müller (2006) (5) a. Schwache Verbflexion: glauben b. Starke Verbflexion: rufen Präsens Präteritum Präsens Präteritum [1,sg] glaub-e glaub-te [1,sg] ruf-e rief [2,sg] glaub-st glaub-te-st [2,sg] ruf-st rief-st [3,sg] glaub-t glaub-te [3,sg] ruf-t rief [1,pl] glaub-en glaub-te-n [1,pl] ruf-en rief-en [2,pl] glaub-t glaub-te-t [2,pl] ruf-t rief-t [3,pl] glaub-en glaub-te-n [3,pl] ruf-en rief-en c. Suppletive Verbflexion: sein Präsens Präteritum [1,sg] bin war [2,sg] bi-st war-st [3,sg] is-t war [1,pl] sind war-en [2,pl] seid war-t [3,pl] sind war-en Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 31 / 32

(36) Zwei Verarmungsregeln für die Verbflexion des Deutschen: a. [±1] Ø/[ 2, pl,+prät] b. [±1] Ø/[ 2,+pl] (37) Markerinventar: a. /te/ [+prät, stark] b. /s/ [+2, pl] c. /n/ [ 2,+pl] d. /t/ [ 1] e. /(e)/ [ ] (38) Einsetzung in verarmte T-Morpheme im Deutschen [ prät] [+prät] T [ stark] [+stark] T [ stark] [+stark] [+1, 2, pl] /e/ /e/ [ 1,+2, pl] /s/-/t/ /s/-/t/ [ 1, 2, pl] /t/ /t/ [+1, 2,+pl] /n/ /n/ [ 1,+2,+pl] /t/ /t/ [ 1, 2,+pl] /n/ /n/ [+1, 2, pl] /te/ /Ø/ [ 1,+2, pl] /te/-/s/-/t/ /s/-/t/ [ 1, 2, pl] /te/ /Ø/ [+1, 2,+pl] /te/-/n/ /n/ [ 1,+2,+pl] /te/-/t/ /t/ [ 1, 2,+pl] /te/-/n/ /n/ Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 32 / 32

Literatur Frampton, John (2002): Syncretism, Impoverishment, and the Structure of Person Features. In: M. Andronis, E. Debenport, A. Pycha & K. Yoshimura, eds., Papers from the Chicago Linguistics Society Meeting. Vol. 38, Chicago, pp. 207 222. Halle, Morris & Alec Marantz (1993): Distributed Morphology and the Pieces of Inflection. In: K. Hale & S. J. Keyser, eds., The View from Building 20. MIT Press, Cambridge, Mass., pp. 111 176. Müller, Gereon (2006): Subanalyse verbaler Flexionsmarker. In: E. Breindl, L. Gunkel & B. Strecker, eds., Grammatische Untersuchungen. Narr, Tübingen, pp. 183 203. Noyer, Rolf (1992): Features, Positions, and Affixes in Autonomous Morphological Structure. PhD thesis, MIT, Cambridge, Mass. Plank, Frans (1991): Of Abundance and Scantiness in Inflection: A Typological Prelude. In: F. Plank, ed., Paradigms. Mouton de Gruyter, Berlin, pp. 1 39. Trommer, Jochen (1999): Morphology Consuming Syntax Resources. In: Procceedings of the ESSLI Workshop on Resource Logics and Minimalist Grammars. University of Nijmegen, pp. 37 55. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 32 / 32

Trommer, Jochen (2001): Distributed Optimality. PhD thesis, Universität Potsdam. Wiese, Bernd (1994): Die Personal- und Numerusendungen der deutschen Verbformen. In: K.-M. Köpcke, ed., Funktionale Untersuchungen zur deutschen Nominal- und Verbalmorphologie. Niemeyer, Tübingen, pp. 161 191. Gereon Müller (Institut für Linguistik) Modul 1006: Morphologie 28. April 2015 32 / 32