Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin Das Praxisbuch Bearbeitet von Prof. Dr. Michael von Wolff, PD Dr. Petra Stute 1. Auflage 2013. Buch. 476 S. Hardcover ISBN 978 3 7945 2792 2 Format (B x L): 16,5 x 24 cm Weitere Fachgebiete > Medizin > Klinische und Innere Medizin > Gynäkologie, Geburtshilfe, Materno-Fetal, Hebammen Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, ebooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.
55 6 Amenorrhö 6.1 Definitionen und Häufigkeiten Die wichtigsten Fachbegriffe werden wie folgt definiert: Amenorrhö: Ausbleiben der Menstruationsblutung Primäre Amenorrhö: Keine Menarche bis 14 Jahre, fehlendes Längenwachstum und fehlende Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale Keine Menarche bis 16 Jahre trotz regelrechtem Längenwachstum und Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale Sekundäre Amenorrhö: ausbleibende Menstruationsblutung über mindestens 3 individuell typische Zyklen oder 6 Monate bei zuvor regelrechtem Zyklus Die Prävalenz (ausgenommen Schwangerschaft, Laktation und Menopause) liegt bei 3 4 % (Reindollar et al. 1981; Bachmann et al. 1982). 6.2 Einführung Die Zahl der Differenzialdiagnosen der Amenorrhö ist groß (Kap. 6.3). Während der reproduktiven Lebensphase ist die Schwangerschaft die einzige physiologische Ursache. Das diagnostische Vorgehen bei primärer und sekundärer Amenorrhö ist in Abbildung 6-1 dargestellt. Hierbei stehen die Anamnese (Kap. 6.5.1) und die körperliche Untersuchung (Kap. 6.5.2) im Vordergrund. Bei vorhandenem Uterus liegt der Fokus der weiteren Diagnostik auf der Hormonanalyse (Kap. 6.5.3), wobei nach Ausschluss von Störungen anderer hormoneller Regelkreise die Hypothalamus-Hypophyse- Ovar-Achse untersucht wird. Vereinfachend wird der Begriff der»östrogenität«(kap. 6.5.5) eingeführt, welcher wegweisend für die weiterführende Diag nostik ist. Die exakte Diagnose kann dann entsprechend der WHO-Klassifikation angegeben werden (Tab. 6-2). Die Therapie richtet sich nach der Ursache (Kap. 6.6). 6.3 Ätiologie Die Ursachen der primären und sekundären Amenorrhö sind in Tabelle 6-1 dargestellt. Die Häufigkeitsverteilung der verschiedenen Ätiologien ist bei primärer und sekundärer Amenorrhö sehr verschieden: Primäre Amenorrhö: Chromosomenaberration mit prämaturer Ovarialinsuffizienz (50 %), Hypothalamus (20 %), Vaginalagenesie (15 %), transverses Vaginalseptum oder Hymenalatresie (5 %), Hypophyse (5 %), Kombinationen (5 %) Sekundäre Amenorrhö: Schwangerschaft, Ovar (40 %), Hypothalamus (35 %), Hypophyse (20 %), Uterus (5 %), Sonstiges (1 %)
56 6 Amenorrhö Primäre Amenorrhö (Kap. 6.3) Uterus nein (Kap. 6.5.2) Uterus ja Schwangerschaft? Hymenalatresie? Pubertas tarda? (Kap. 5.5) Karyotypisierung Falls nicht zutreffend 46,XY 46,XX Gesamttestosteron Vaginalagenesie: MRKH-Syndrom Testosteron erhöht Testosteron normal-niedrig V.a. Androgenresistenz V.a. Reduzierung der Androgensynthese Amenorrhö Diagnose Sekundäre Amenorrhö (Kap. 6.3) Labor: FSH, LH, Prolaktin, TSH, Gesamttestosteron, DHEAS, E2 Endometriumsonographie Gestagentest (Kap. 6.5) Diagnostik Entscheidungskriterium»Östrogenität«(E2, Endometrium < 6 mm, Gestagentest neg.) (Kap. 6.5.5)»Östrogenität«normal (E2 normal, Endometrium 6 mm, Gestagentest pos.) (Kap. 6.5.5) FSH POI (Kap. 17) TSH SD- Funktionsstörung (Kap. 15) Prolaktin Hyperprolaktinämie (Kap. 12) Meist MRT Schädel MRT Schädel o.b. MRT Schädel nicht o.b. V.a. hypothalamischhypophysäre Taktstörung, falls Kinderwunsch: Kap. 24 BE Kortisol, IGF1, ft4 und Überweisung an Endokrinologie, Innere Medizin V.a. Anovulation, falls Androgenisierung u./o. Androgene : (Kap. 11) Sondersituation: E2 normal, aber Gestagentest neg. E2/Gestagentest Falls negativ: V.a. Endometriumdefekt Falls positiv: Anovulation Abb. 6-1 Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen bei Amenorrhö. IGF1 =»insulin-like growth factor«, POI =»prämature Ovarialinsuffizienz«, SD = Schilddrüse
6.3 Ätiologie 57 Tab. 6-1 Ätiologie der primären und sekundären Amenorrhö (nach Fritz u. Speroff 2011) Pathologie Anatomie zkongenitale Fehlbildung der Müller-Gänge (primäre Amenorrhö) zkongenitale Fehlbildung des Sinus urogenitalis (primäre Amenorrhö) zerworbene Endometrium - abla tion oder Narbenbildung Hypothalamus Hypophyse Ovar Sonstiges Ursache zisolierter Defekt, sexuelle Differenzierungsstörung (Kap. 4) zagenesie des unteren Scheidendrittels, Hymenalatresie zasherman-syndrom, Tuberkulose zkongenitaler GnRH-Mangel zfunktionelle hypothalamische Amenorrhö (Gewichtsverlust, Essstörung, Sport, Stress, schwere oder chronische Erkrankung, heterozygote Mutationen [FGFR1, PROKR2, KAL1]) zentzündliche oder infiltrative Erkrankungen ztumor zbestrahlung zschädel-hirn-trauma zsonstige Syndrome: Prader-Willi, Laurence-Moon-Biedl zhyperprolaktinämie (inkl. laktotrope Adenome) (Kap. 12) zandere Tumoren zempty-sella(-syndrom) zhypophyseninfarkt (Sheehan-Syndrom) oder Apoplex zpolyzystisches Ovarialsyndrom (Kap. 11.3.1) zprämature Ovarialinsuffizienz (Kap. 17) zschilddrüsenfunktionsstörung (Kap. 15) zdiabetes mellitus, Adipositas zexogene Androgene Physiologisch: Schwangerschaft Traditionell erfolgt die Einteilung der Amenorrhö gemäß der WHO-Klassifikation für Ovarialinsuffizienz (Tab. 6-2). Im Folgenden wird auf die Inhalte der WHO-Stufen näher eingegangen. Die Darstellung der Funktionsstörung erfolgt in der Reihengfolge Genitale, Hypophyse, Hypothalamus und Sonstiges.
58 6 Amenorrhö Tab. 6-2 WHO-Klassifikation der Amenorrhö (nach Fritz u. Speroff 2011) WHO-Stufe I II III IV V VI VII Definition Hypogonadotrope normoprolaktinämische Ovarialinsuffizienz = hypothalamisch-hypophysäre Unterfunktion, z. B. Leistungssport, Anorexie Normogonadotrope normoprolaktinämische Ovarialinsuffizienz = hypothalamisch-hypophysäre Dysfunktion, z. B. polyzystisches Ovarialsyndrom Hypergonadotrope Ovarialinsuffizienz, z. B. Ovarialinsuffizienz nach Chemotherapie, Menopause Anatomisch bedingte Amenorrhö = kongenitale oder erworbene Anomalie im Genitaltrakt, des Endometriums, des Uterus oder der Vagina, z. B. Asherman- Syndrom Hyperprolaktinämische Ovarialinsuffizienz mit Tumor, z. B. Prolaktinom Hyperprolaktinämische Ovarialinsuffizienz ohne Tumor, z. B. medikamenteninduzierte Hyperprolaktinämie Normoprolaktinämische hypothalamisch-hypophysäre Dysfunktion, Hypophysentumor 6.3.1 Kongenitale Fehlbildungen des genitalen Ausflusstraktes (WHO-Stufe IV) Die Eileiter, der Uterus und der kraniale Scheidenanteil entstehen aus der Fusionierung der paarig angelegten Müller-Gänge, der kaudale Scheidenanteil und das Hymen dagegen aus dem Sinus urogenitalis. Eine Agenesie, eine komplette oder inkomplette Störung der Fusionierung bzw. der Kanalisierung führen zu kongenitalen Fehlbildungen des genitalen Ausflusstraktes. Diese können Teil einer sexuellen Differenzierungsstörung sein (Kap. 4). Zu den mit Amenorrhö assoziierten Fehlbildungen zählen von kaudal nach kranial: Hymenalatresie: Verschluss der Vagina nach kaudal bei fehlender physiologischer, präpartaler Spontanruptur Agenesie des kaudalen Scheidenanteils bei Fehlentwicklung des Sinus urogenitalis Transverses Vaginalseptum durch fehlende Kanalisierung und/oder Fusionierung des Sinus urogenitalis und der Müller-Gänge Vaginalagenesie (Syn. Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser Syndrom [MRKH], Müller-Aplasie) bei Agenesie oder Hypoplasie der Müller-Gänge mit konsekutivem Fehlen des kranialen Scheidenanteils mit variabler Uterusentwicklung (meist komplettes Fehlen des Uterus bis selten rudimentäre Uterusanteile mit funktionalem Endometrium); urologische Fehlbildung (25 50 %), Skelettanomalie (10 15 %, 1:5 000 weibliche Neugeborene)