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Transkript:

Zusammenfassung Interview Prof. em. Dr. Franz Hebel vom 21.03.2011 Franz Hebel wohnt zusammen mit seiner Frau in der Henry-und-Emma-Budge- Stiftung in Frankfurt-Seckbach, deren Zweck es ist, dass Christen und Juden im Alter zusammenleben. Dieser Alterssitz ist von F. Hebel vor dem Hintergrund seiner Jugend in der Nazizeit ganz bewusst gewählt. Sein Weg in die Deutschdidaktik begann mit dem Gymnasiallehramtsstudium in den Fächern Germanistik, Geschichte, Philosophie und katholische Religion in Frankfurt und der anschließenden Anstellung am Goethe-Gymnasium in Frankfurt, das als Reformgymnasium galt und die Möglichkeit bot, neue Unterrichtsformen und Lernwege auszuprobieren. Damals lernte er den Physiklehrer und Pädagogen Martin Wagenschein kennen, der im Unterricht einen neuen Weg beschritten hat und für das exemplarische Lernen stand, d.h. sich gegen die Übermittlung von Stoffmassen durch passives Lernen und für den verstärkten Einbezug der Schüler und ihre Beteiligung am Erkenntnisweg aussprach (hierzu sein Buch Natur physikalisch gesehen ). Hebel war beeindruckt von der Art, wie Wagenschein seine Schüler durch eigene Versuche dazu brachte, Dinge aus der physikalischen Perspektive zu sehen, und wollte Wege finden, dies in das Fach Deutsch zu übertragen. Das Studienseminar stellte für ihn eine Enttäuschung dar, da es dort nur um Methoden im engsten Sinne ging, also wie den Schülern die Unterrichtsinhalte vermittelt werden sollten, z.b. wie man Gedichte bespricht, und nicht hauptsächlich um die Ziele. Vielmehr sollte die Auseinandersetzung mit Sprache im Mittelpunkt stehen, insbesondere die Befähigung der Schüler zur Sprachkritik, damit sie nach 1945 nie wieder in eine Denkweise verfallen, die menschenunwürdig ist. Er wollte einen Unterricht befördern, in dem Lehrer auf Schüler eingehen konnten, ohne nur stundenplangerecht Themen abzuarbeiten. Lehrer sollten den Hauptgegenstand in der produktiven Beschäftigung mit der Sprache sehen, so dass ein lebendiger Unterricht mit Entwicklung von kreativen Aktivitäten der Schüler entstehen konnte. Grammatische und sprachliche Themen sollten gleichzeitig mit der inhaltlichen Bearbeitung von literarischen Texten behandelt und offene Fragen durch Erstellen eigener Texte bearbeitet werden. Bei der Erfassung von Texten sollen nicht ausschließlich der Inhalt, sondern die Ausrichtung der Sprache: auf Gegenstände und Sachverhalte, 1

auf den Sprecher selbst und auf den Angesprochenen (nach Walter Benjamin) berücksichtigt werden. Auf die Frage, ob auch andere Disziplinen von der Deutschdidaktik profitieren, erklärt F. Hebel, dass er die Deutschdidaktik als Sozialwissenschaftsieht, die der Psychologie und Soziologie bedarf, um ihre Ziele begründen zu können. Aber auch die Soziologie profitiert von der Deutschdidaktik, z.b. durch die Verwendung von deutschdidaktischen Analyseelementen für sprachsoziologische Untersuchungen. Eine wesentliche und sehr unterschätzte Rückwirkung gibt es auch von der Literatur her; so sei für die Sozialwissenschaften die beste Kenntnis der Sozialgeschichte einer Gesellschaft in der Romanliteratur zu gewinnen. Dies gilt auch für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache, in den die poetische Sprachfunktion stärker eingebunden werden sollte. Nach den wechselhaften Entwicklungen der Deutschdidaktik in den vergangenen Jahrzehnten droht ihr heute wieder eine Verengung auf Methodeanstatt die Möglichkeit der reflexiven Befreiung aus den Zwangsverhältnissen der Anpassung an die gesellschaftliche Wirklichkeit zu bieten. Zwar kann man sich durch den Deutschunterricht nicht aus dem gesellschaftlichen Lebenszusammenhang lösen, man kann sich aber durch das Erkennen seiner Mechanismen und Zusammenhänge sowie seiner Geschichte reflexiv davon distanzieren. Allerdings werden solche Lernprozesse durch den Deutschunterricht heute noch zu wenig gefördert und kurzfristige funktionale gegenüber langfristigen Prozessen oft noch bevorzugt. F. Hebel plädiert für die Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und Voraussetzungen der Schüler und den Einbezug von Methoden aus anderen Disziplinen, z.b. durch die in der Psychologie beschriebenen drei Lernwege durch Nachahmung, durch Bilder und durch Zeichen (Gerome S. Bruner). In der Zukunft sollten die Arbeitsbereiche des Deutschunterrichts integriert gelehrt werden, d.h. beim Besprechen eines literarischen Textes sollen auch die Sprachstruktur und die stilistischen Elemente genau betrachtet werden und nicht nur der Inhalt. Lesen soll als gelenktes Schaffen (Sartre), als intersubjektive 2

Verständigung über handlungsrelevante Ziele (Habermas) begriffen werden. Der Unterricht muss interaktiv und offen sein. Lehrer und Schüler sollen sich über ihr jeweiliges Textverständnis austauschen und sich dadurch gegenseitig aufmerksam machen auf die verschiedenen Textelemente, die je nach Lebenserfahrung unterschiedlich wahrgenommen werden und nicht in einem vorgegebenen Ergebnis münden können. Dazu muss der Lehrer viel wissen, damit er auch die verschiedenen Anschlüsse, die die Schüler herstellen, erkennen kann. Dazu ist ein großes Maß an Fachlichkeit und Freiheit des Umgangs erforderlich. Im Bereich der Forschung in der Deutschdidaktik hält er es für eine der wichtigsten Fragen, welche Rolle Sprache beim Aufbau von Lernprozessen spielt. Viele Schüler verfügen nicht über die entsprechende bürgerliche Sprachkultur, ihre Erfahrungen zu versprachlichen und können so keinen Zugang zur rein sprachlichen Bearbeitung von Literatur finden. Für diese Schüler müssen auch andere Zugangswege gefunden werden. Weiter sollte die allgemeine Pädagogik, besonders die Sozialpädagogik stärker beachtet werden. Es muss mehr erforscht werden, was es bedeutet, wenn Schule nicht nur eine Halbtagsinstitution in einem geschlossenen Rahmen ist, sondern sich die Schüler hier mehr wie zuhause fühlen können. Viele Lernprozesse scheitern nicht am Mangel kognitiver Fähigkeiten auch nicht in den Naturwissenschaften, sondern an der Art der sprachlichen Vermittlung. Durch Ganztagsschulen mit gemeinsamen Alltagserfahrungen von Schülern und Lehrern und mit wohl überlegtem Freizeitprogramm kann eine Erweiterung der Sprachkompetenz erreicht werden. Für die Zukunft hofft F. Hebel, dass sein integriertes Arbeitsbuch Lesen Darstellen-Begreifen weiterhin Beachtung findet. Darin hat er versucht, seine praktischen Unterrichtserfahrungen umzusetzen. Er verlegt den Schwerpunkt von Forschung auf Entwicklung, was bedeutet, erforschte Ergebnisse umzusetzen in praktisches Handeln. Er sieht in der Deutschdidaktik noch eine Lücke, die ausgefüllt werden muss: Die Lernziele des Deutschunterrichts müssten mehr auf die Entwicklungsphasen der Schüler abgestimmt werden. Es muss gefragt werden, wie Kinder und Jugendliche in Institutionen der Gesellschaft hineinwachsen also in Familie, in altersgleiche Gruppen, in Schule, in ihre Stadt, in Staat und Gesellschaft -, denn das Leben besteht darin, sich zwischen dem innovatorischen Potenzial, das in jedem Individuum steckt, und den 3

vorgegebenen Institutionen zu bewegen. Das Hineinwachsen in Sprache entspricht diesen Prozessen, denn Sprache ist eine Urerfahrung des innovatorischen Hineinlebens in eine gegebene Institution. 4

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