Entwicklung und Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips

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Transkript:

Entwicklung und Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips SKOS, 14. März 2019 Prof. Eva Maria Belser Universität Freiburg

Übersicht Das calvinistische Konzept der Subsidiarität Nicht alle Wege führen nach Rom! Die katholische Soziallehre Wehret dem Zentralismus! Die Subsidiarität europäischer Prägung Eine immer engere Union? Nein Danke! Die helvetische Subsidiarität Small is beautiful! Die Subsidiarität in der sozialen Sicherheit zum ersten Die anderen bezahlen zuerst! Die Subsidiarität in der sozialen Sicherheit zum zweiten Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir keiner! 2

Das calvinistische Konzept der Subsidiarität Nicht alle Wege führen nach Rom! 3

4

Synode in Emden (1571) Abgrenzung von der bisher geltenden zentralistischen katholischen Kirchenlehre Ablehnung hierarchischer Kirchenstrukturen Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone den Vorrang oder die Herrschaft beanspruchen Forderung, Entscheidungen auf der jeweils niedrigsten möglichen Ebene zu treffen 5

6

Die katholische Soziallehre Wehret dem Zentralismus! Sozialenzyklika Quadragesimo anno (1931, Papst Pius XI.) wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstösst es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen... Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen. 7

Die katholische Soziallehre Wehret dem Zentralismus! Theologische-gesellschaftspolitisches Prinzip, entwickelt unter dem Eindruck zentralistischer und totalitärer staatlicher Tendenzen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sollen möglichst tief angesiedelt werden beim Einzelnen, bei der Familie, bei kleineren sozialen Verband, etc. Negativ: Grössere soziale Einheiten, namentlich der Staat, sollen sich nicht einmischen, sondern die Selbstbestimmung achten. Positiv: Einzelne und kleinere soziale Verbände sind in der Lage zu versetzen, sich selbst zu helfen. 8

Die Subsidiarität europäischer Prägung Eine immer engere Union? Nein, danke! Art. 5 Abs. 2 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft: In den Bereichen, die nicht in ihre auschliessliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Massnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. 9

Die Subsidiarität europäischer Prägung Eine immer engere Union? Nein, danke! Art. 5 Abs. 3 Vertrag über die Europäische Union Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre auschliessliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Massnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. 10

Die Subsidiarität europäischer Prägung Eine immer engere Union? Nein, danke! Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit Bürgernahe Entscheidungen Rechtfertigung jedes Projekts in Bezug auf die Einhaltung der Subsidiarität Konsultationen und Anhörungen vor europäischen Rechtssetzungsprojekten Berücksichtigung der Stellungnahmen nationaler Parlamente Möglichkeit der Klage an den EuGH 11

12

Die helvetische Subsidiarität Small is beautiful! Föderalismusreform 2004/2008 Art. 5a BV Subsidiarität Bei der Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben ist der Grundsatz der Subsidiarität zu beachten. 13

Die helvetische Subsidiarität Small is beautiful! Staatspolitische Maxime Bundesstaatliche Kompetenzverteilung- und Kompetenzausübungsregel: Der Bund/die Kantone soll/en keine Zuständigkeiten an sich ziehen, die auf kantonaler/kommunaler Ebene besser oder ebenso gut bewältigt werden können. Bund/Kantone soll/en Zuständigkeiten schonend ausüben (Grundsatzgesetzgebung, bedingte Gesetzgebungskompetenzen, Vollzugsföderalismus) Keine Reglung des Verhältnisses Individuum Gesellschaft Staat 14

Die helvetische Subsidiarität Small is beautiful! Art. 43a Abs. 1 Grundsätze für die Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben Der Bund übernimmt nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen. Nicht justiziable Konkretisierung der bundesstaatlichen Subsidiarität 15

Rahmengesetz für Sozialhilfe Motion Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit NR (12.3013, 2012) Der Bundesrat wird beauftragt, analog zum ATSG ein schlankes Rahmengesetz für Sozialhilfe vorzulegen. Bundesrat beantragte aus Gründen der verfassungsmässigen Kompetenzordnung Ablehnung, anerkannte aber einen gewissen Harmonisierungsbedarf. Annahme der Motion im NR, Ablehnung im SR Annahme eines Postulats «Rahmengesetz für die Sozialhilfe» (13.4010, 2013) 16

Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats (2015) Der Bundesrat erachtet die fehlende Verbindlichkeit bei der Sozialhilfe als nicht mehr zeitgemäss. Drei Abhilfen sind denkbar: eine neue Verfassungsbestimmung, welche den Bund zum Erlass eines eidgenössischen Rahmengesetze ermächtigt eine von den Kantonen beschlossene und umgesetzte Harmonisierung eine neue Verfassungsbestimmung, die die Kantone zur Harmonisierung verpflichtet (und ev. eine bedingte Zuständigkeit des Bundes vorsieht) 17

Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats (2015): Art. 115 Abs. 2 nbv Die Kantone legen die Grundsätze fest, um allen Personen in der Schweiz eine würdevolle Existenz und die gesellschaftliche Integration zu gewährleisten. Sie regeln insbesondere: a. die Harmonisierung der Leistungen der Sozialhilfe, die Bedingungen für den Bezug von Sozialhilfeleistungen sowie die minimalen Leistungen b. die Koordination der übrigen kantonalen Bedarfsleistungen untereinander sowie mit der Sozialhilfe c. die berufliche und soziale Integration d. die Harmonisierung der Bedarfsleistungen (z.b. Alimentenbevorschussung) e. die geeignete Berücksichtigung des Erwerbseinkommens bei der Bemessung der Leistungen. 18

Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats (2015): Art. 48a Abs. 1 nbv Art. 48a Allgemeinverbindlicherklärung und Beteiligungspflicht Auf Antrag interessierter Kantone kann der Bund in folgenden Aufgabenbereichen interkantonale Verträge allgemein verbindlich erklären oder Kantone zur Beteiligung an interkantonalen Verträgen verpflichten: j. (neu) Deckung des Existenzminimums und Integration 19

Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats (2015): Art. 115 Abs. 3 nbv Kommt auf dem Koordinationsweg keine Harmonisierung der Grundsätze der Sozialhilfe und der Bedarfsleistungen zustande, so kann der Bund die notwendigen Vorschriften erlassen. 20

Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats (2015) Der Bundesrat respektiert die klare Position der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), die Zuständigkeit bei den Kantonen zu belassen und keine Reform der Bundesverfassung ins Auge zu fassen. Er erwartet, dass sich die Kantone ihrer Verantwortung bewusst sind und selbst einen verbindlichen Rahmen für die Sozialhilfe definieren. 21

Die Subsidiarität in der sozialen Sicherheit zum ersten Die anderen bezahlen zuerst! Nebeneinander von 10 Bundessozialversicherungen (historisch gewachsen, fragmentiert) ATSG (Koordination innerhalb der Bundessozialversicherungen) Subsidiarität als Koordinationsgrundsatz zwischen Bundessozialversicherungen und Sozialhilfe. Die Sozialhilfe kommt subsidiär zum Tragen. Sie ist unabhängig von den Ursachen der Bedürftigkeit. 22

Die Subsidiarität in der sozialen Sicherheit zum zweiten Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir keiner! «Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft dar.» (Art. 6 BV) Verfassungsrechtlicher Appell als «Gegengewicht» zu den individuellen Rechten in der Rechtsprechung nur vereinzelt und beiläufig erwähnt («sozialhilferechtliches Subsidiaritätsprinzip als Ausdruck der Pflicht zur Mitverantwortung und Solidarität gegenüber der Gemeinschaft») 23

Die Subsidiarität in der sozialen Sicherheit zum zweiten Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir keiner! Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein, dass jede Person an der sozialen Sicherheit teilhat (Art. 41 Art. 1 lit. a BV) Staatszielbestimmung (ständiger Handlungsauftrag) Betonung des ergänzenden, subsidiären Charakters der sozialpolitischen Verantwortung von Bund und Kantonen (und Gemeinden) 24

Die Subsidiarität in der sozialen Sicherheit zum zweiten Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir keiner! Art. 12 BV Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Justiziables soziales Grundrecht Wie bei der Sozialhilfe kommt es für den Anspruch nicht auf die Ursachen der Bedürftigkeit an. 25

BGE 130 I 71 («Schaffhauser Nothilfefall»), E. 4.1 Die Formulierung wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen wurde erst in der parlamentarischen Beratung auf Vorschlag der Verfassungskommissionen der eidgenössischen Räte eingefügt. Sie soll klarstellen, dass für das Recht auf Hilfe in Notlagen der Grundsatz der Subsidiarität gilt. 26

BGE 130 I 71 («Schaffhauser Nothilfefall»), E. 4.3 Bundes- und Kantonsverfassung sowie Gesetz knüpfen den grundsätzlichen Anspruch auf Hilfe in Notlagen an bestimmte Voraussetzungen, indem sie klarstellen, dass der in Not Geratene nur Anspruch auf entsprechende Leistungen des Staates hat, wenn er nicht in der Lage ist - d.h. wenn es ihm rechtlich verwehrt oder faktisch unmöglich ist -, selber für sich zu sorgen. Keinen Anspruch hat somit, wer solche Leistungen beansprucht, obwohl er objektiv in der Lage wäre, sich - insbesondere durch die Annahme einer zumutbaren Arbeit - aus eigener Kraft die für das Überleben erforderlichen Mittel selber zu verschaffen 27

BGE 130 I 71 («Schaffhauser Nothilfefall»), E. 4.3 Solche Personen stehen nicht in jener Notsituation, auf die das Grundrecht auf Hilfe in Notlagen zugeschnitten ist. Bei ihnen fehlt es bereits an den Anspruchsvoraussetzungen, weshalb sich in solchen Fällen die Prüfung erübrigt, ob die Voraussetzungen für einen Eingriff in das Grundrecht erfüllt sind, namentlich, ob ein Eingriff in dessen Kerngehalt vorliegt, denn dies setzt einen rechtmässigen Anspruch voraus. 28

BGE 130 I 71 («Schaffhauser Nothilfefall»), E. 4.3 Das Urteil ist zwar in der Doktrin kritisiert worden Diese Auffassung trägt indessen dem Grundsatz der Subsidiarität bzw. dem Vorrang der Selbsthilfe, dem der Verfassungsgeber, wie oben dargelegt, zentrale Bedeutung eingeräumt hat, nicht genügend Rechnung und überzeugt daher nicht. Lehnt eine Person zumutbare Arbeit ab, so weigert sie sich, für sich zu sorgen und ihre Notlage abzuwenden. Sie hat damit weder Anspruch auf Sozialhilfe noch auf finanzielle Nothilfe gemäss Art. 12 BV. 29

BGE 139 I 218 («Berner Testarbeitsplatz»), E. 3.5 Bei der Auflage des Gemeinwesens, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, handelt es nicht um eine reine Pflicht, sondern um eine Anspruchsvoraussetzung für die vom Staat erbrachte Leistung handelt. Sozialhilfe ist damit subsidiär gegenüber der Nutzung und Verwertung der eigenen Arbeitskraft. Wer zumutbare Arbeit verweigert, hat nicht nur mit Kürzungen, sondern mit der Einstellung von Sozialhilfe zu rechnen. 30

BGE 139 I 218 («Berner Testarbeitsplatz»), E. 5.3 Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips führt jedenfalls dann nicht zu einem Konflikt mit der Kerngehaltsgarantie von Art. 12 BV, wenn die betroffene Person tatsächlich die Möglichkeit hat, eine andere Hilfsquelle in Anspruch zu nehmen und die Inanspruchnahme dieser Hilfsquelle geeignet ist, die Notlage zu überwinden. Im Falle eines Stellenangebots ist eine Notlage somit jedenfalls so lange nicht gegeben, als die betroffene Person die Arbeit antreten und damit ein Erwerbseinkommen erzielen kann. 31

BGE 139 I 218 («Berner Testarbeitsplatz»), E. 5.3 Ein Testarbeitsplatz vermag die Bedürftigkeit zwar höchstens kurzzeitig zu beseitigen. Trotzdem besteht kein Anlass, von der bestehenden Praxis abzuweichen. Die Frage, ob die Voraussetzungen für den Eingriff in das Grundrecht auf Existenzsicherung erfüllt wären, namentlich, ob ein Eingriff in den Kerngehalt dieses Grundrechts vorläge, stellt sich bei dieser Rechtslage nicht. 32

Schluss Subsidiarität als Kompetenzzuweisungs- und Ausübungsregel, ergänzt durch: Pflicht zur gegenseitigen Unterstützung bei der Erfüllung der Aufgaben Pflicht zu Rücksicht und Beistand Harmonisierung durch Grundprinzipien und Grundrechte Abschiebeverbot Finanz- und Lastenausgleich Fiskalische Äquivalenz 33

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Schluss Subsidiarität als Koordinationsmechanismus im Verhältnis zu Bundessozialversicherungen und Leistungspflichten Dritter Subsidiarität als Koordinationsmechanismus im Verhältnis zu freiwilligen Leistungen Dritter, aber Förderung der privaten Verantwortung und Initiative Bedeutung der Komplementarität Subsidiarität als Pflicht zur Selbsthilfe, aber Verschuldensunabhängigkeit der Not- und Sozialhilfe Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit Pflicht zur Achtung, zur Schutz und zur Verwirklichung aller Grundrechte 35

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Schluss Sozialstaatsprinzip als Gegengewicht Die Stärke des Volks misst sich am Wohl der Schwachen (Präambel) Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt als Staatszweck (Art. 2 BV) Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung (Art. 6 BV) Recht auf Nothilfe (Art. 12 BV) und auf Sozialhilfe (Art. 115 BV) Sozialziele (Art. 41 BV) 37

Schluss Völkerrechtliche Pflicht des Vertragsstaats «unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Massnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln die volle Verwirkung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sicherzustellen» (Art. 2 UN-Sozialpakt) Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen (Art. 11 UN-Sozialpakt) 38