Therapiezieländerung bei chronischneurologischen. Georg Marckmann

Ähnliche Dokumente
Auf Leben und Tod Schwierige ethische Fragen im Krankenhaus und Wege zu guten Entscheidungen

Das ethische Konsil. Georg Marckmann. Ludwig-Maximilians Universität München Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin

Wie können wir in der Medizin ethisch gut begründete Entscheidungen treffen? Eine Einführung

Wie können wir in der Medizin ethisch gut begründete Entscheidungen treffen?

Ethische Rahmenbedingungen anästhesiologischer Tätigkeit

Ethische Falldiskussion

Wege zur guten ethischen Entscheidung im Krankenhaus

Ethik in der Anwendung: Die ethische Fallbesprechung

Ethische Konflikte in der Praxis: Grundlagen der Entscheidungsfindung

Prinzipienorientierte Falldiskussion: Ein Modell zur inhaltlichen Strukturierung ethischer Fallbesprechungen

Konflikte bei der Therapiebegrenzung am Lebensende

Lebensverlängerung um jeden Preis? Ethische und rechtliche Grundlagen der Begrenzung lebensverlängernder Behandlungsmaßnahmen

Wege zur guten ethischen Entscheidung im klinischen Alltag

Therapiebegrenzung am Lebensende: Ethische (und rechtliche) Grundlagen der Entscheidungsfindung

Autonomie im Kontext des Sterbens. Matthis Synofzik Universität Tübingen

Ethische Fragestellungen am Lebensende

Hauptsache strukturiert Modelle ethischer Fallbesprechungen im Vergleich

Patientenverfügungen: Ethische und rechtliche Fragen bei der Anwendung in der Praxis

Wie können ethisch gut begründete Entscheidungen am Lebensende getroffen werden?

Ethische Orientierungspunkte Oder: Wie gelangt man zu einer ethisch gut begründeten Entscheidung?

Ethische Entscheidungen am Lebensende: Lebensverlängerung um jeden Preis?

Grundlagen der ethischen Falldiskussion: Wie gelangen wir zu einer ethisch gut begründeten Entscheidung?

Ethische Fallbesprechung: Verfahren und inhaltliche Strukturierung

Gewinnen durch Verzichten? Ethische Grundlagen von Entscheidungen zur Therapiebegrenzung

Die Arbeit des KEK im Katharinenhospital

Gewinnen durch Verzichten? oder: Die Kunst des Unterlassens

Szenarien einer zukünftigen Gesundheitsversorgung Faktoren der Bedarfsänderung und Folgen für das Angebot an Versorgungsleistungen: Ethische Sicht

Der Anspruch der Ethik und seine Bedeutung für die Medizin

Ethik in der Medizin: Normative Orientierung im Spannungsfeld zwischen philosophischer Grundlegung und medizinischer Praxis

Künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr: Ethische Grundlagen der Entscheidungsfindung

Gemeinsam Versorgung gestalten: Was ist aus ethischer Sicht zu berücksichtigen?

Indiziert, aber für die Gesellschaft zu teuer? Allokationsethische Herausforderungen der Operation hochbetagter Patienten

Ethisch gut begründet entscheiden: Einführung in die kohärentistische Medizinethik

Wertigkeit von Patientenverfügungen aus ärztlicher Sicht

Arzneimittelforschung mit Kindern: Ethische Herausforderungen

Ethikberatung eine Hilfe in schwierigen medizinethischen Entscheidungssituationen

Patientenverfügungen in der klinischen Praxis

Ethik, Recht Entscheidungsfindung

Ethische Fallbesprechung wie geht das?

Therapiebegrenzung am Lebensende: Ethische Grundlagen der Entscheidungsfindung

Und wo bleibt da die Ethik?

1. Bundesdeutscher Malteser Versorgungskongress Demenz 2014

An der Schnittstelle: Der Mensch zwischen Prozessoptimierung und Hilfsbedürftigkeit

Einführung in die Ethik und prinzipienorientierte Medizinethik

Patientenverfügung. Forum Ethik Podiumsdiskussion. Dr. Katharina Woellert. Soll Herr Müller. ... künstlich ernährt werden (eine PEG-Sonde erhalten)?

Lebensverlängerung um jeden Preis? Ethische Grundlagen von Entscheidungen am Lebensende

Ethik

Patientenverfügung, die Freiheit nehme ich mir. Verbindlichkeit und Grenzen der Patientenautonomie.

Ethische Entscheidungen am Lebensende (aus ärztlicher Sicht)

Klinische Ethikberatung

Ethische Fragestellungen am Lebensende

Wertigkeit von Patientenverfügungen aus ärztlicher Sicht

Das Beste für die Betroffenen. Ethische Fallbesprechungen Eine Methode zum Umgang mit Konflikten im Gesundheitsbereich und in der Altenhilfe

Therapieverzicht gegen den Patientenwillen?

Advance Care Planning: Grundlagen und Ziele

Ethikgremien im Sanitätsdienst der Bundeswehr ist die Einrichtung einer zentralen Ethikkommission sinnvoll? - aus zivilfachlicher Sicht

Spezielle Pflegesituationen

Was ist, was will. und. was kann. Klinische Ethik? Klinische Ethikberatung am. Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf: Methoden, Erfahrungen,

Therapieentscheidungen und vorausschauende Planung für die letzte Lebensphase

Ethische Fallbesprechungen. Petra Mayer Freiberufliche Referentin Trainerin für Palliative Care (DGP) Kontakt:

Ethik im Krankenhaus Mehr als nur ein PR-Gag?

Produziert die moderne Medizin schwerste Pflegefälle? Herausforderungen in der Intensivmedizin

Wann darf ein Kind sterben? Ethische Entscheidungen zur Therapieziel-Änderung

Ethikberatung im Krankenhaus: Was bringt sie in der Praxis?

Entscheidungen am Lebensende

Formen und Strukturen Klinischer Ethikberatung

Medizinethische Probleme. D. Jäger / Klinikum FN GmbH

Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung aus ärztlicher Sicht

Wie man Ethik in einem Krankenhaus versteht

ZWISCHEN FÜRSORGE UND SELBSTVERANTWORTUNG: WER BESTIMMT DEN LETZTEN WEG?

Sterben im Spannungsfeld zwischen Ethik und Ökonomie

Klinische Ethikberatung Dr. med. Andrea Dörries, CAS-HSG Zentrum für Gesundheitsethik Hannover

Therapieentscheidungen am Lebensende

Wohltun/ Schaden vermeiden

Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht

Personalisierte Medizin

Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht

Prof. Dr. Volker Lipp. Patientenautonomie. in der Rettungsmedizin. Prof. Dr. iur. Volker Lipp. Zentrum für Medizinrecht, Universität Göttingen

Dialyse bei hochbetagten Patienten Ethische Aspekte D R. M E D. S U S A N N E K U H L M A N N, M. M E L

Klinisch-ethische Entscheidungen am Lebensende Medizin des Alterns und des alten Menschen

Wohltun / Schaden vermeiden

1 Anlass / Fragestellung / Problemstellung der ethischen Fallbesprechung

Psychiatrische Patientenverfügung

Klinische Ethikberatung

Ethische Probleme am Ende des Lebens

Arbeitspapier zum Verhältnis von Patientenverfügung und Organspendeerklärung

Patientenverfügung aus ethischer Sicht

Ethische Herausforderungen in der Sterbebegleitung

Entscheidungshilfen bei der Betreuung von Menschen mit Demenz: eine ethische Reflexion

Aktuelle Sachinformationen zur Patientenverfügung

Dokumentation der Ethischen Fallbesprechung

Instrumente zum Umgang mit ethischen Konflikten. am Beispiel der

Dokumentation der Ethischen Fallbesprechung

Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht

Mit einem Bein im Knast die Bedrohung bei allen Entscheidungen?

Wohl tun Schaden vermeiden - Kompetenz Ethik -

Lebensqualität trotz unheilbarer Erkrankung Montag, 13. November 2017 Hayingen

RESPEKT VOR DER AUTONOMIE IM ALTENPFLEGEHEIM

Versorgung von Frühgeborenen und kranken Neugeborenen

Patientenverfügung Überlegungen aus medizinischer und ethischer Sicht

Transkript:

Therapiezieländerung bei chronischneurologischen Erkrankungen: Grundlagen der Entscheidungsfindung im Rahmen einer ethischen Fallbesprechung Georg Marckmann Ludwig-Maximilians Universität München Lehrstuhl für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Schwabinger Forum Neurorehabilitation München-Schwabing, 16.11.11

Fallbeispiel 41-jährige Patienten mit Subarachnoidal-Blutung (SAB) bei Aneurysma der A. carotis interna rechts OP: Ummantelungs-Clip, Entlastungs-Hemikraniektomie bei zunehmendem Hirndruck mit drohender Einklemmung Gefäßspasmen in den basalen intrakraniellen Arterien ð Spasmolyse Nach 7d: Sedierung, Patientin öffnet Augen, drückt rechte Hand, keine Kommunikation möglich CCT nach 14d: Multiple Ischämiezonen im Media-Stromgebiet beider Hemisphären, re > li; Hirndruck-Anstieg, Patientin bewusstlos Nach Rücksprache mit Vater: keine Eskalation der Therapie Seit 2d: Patientin atmet spontan am T-Stück, aber nicht ansprechbar Liquorkissen über Kraniotomiestelle ð Indikation zur Anlage eine V-P- Shunts Vater: Anlage des V-P-Shunt widerspricht dem Willen seiner Tochter à Ethische Fallbesprechung über Einsatz lebensverlängernder Maßnahmen

Ethische Fallbesprechung Definition (Steinkamp & Gordijn 2010): Ethische Fallbesprechung auf Station ist der systematische Versuch, im Rahmen eines strukturierten, von einem Moderator geleiteten Gesprächs mit einem multidisziplinären Team innerhalb eines begrenzten Zeitraumes zu der ethisch am besten begründbaren Entscheidung zu gelangen. Zielsetzungen: Primär: Ethisch möglichst gut begründete Entscheidung ð Ethische Gründe: vier Prinzipien Sekundär: Konsens im Behandlungsteam à Herausforderung: Wie gelangt man zu der ethisch am besten begründeten Entscheidung?

Nutzen (ethischer) Teambesprechungen Ethischen Problemen liegen oft Kommunikationsprobleme zugrunde à Fallbesprechung = Kommunikationsplattform Notwendig: Beteiligung des Teams an der Entscheidung Interdisziplinarität der Betreuung Begrenztheit der Wahrnehmung: Patient wird von Pflegenden u. Ärzten unterschiedlich rekonstruiert ð Bild des Patienten Entscheidungen erfordern Bewertungen (z.b. von Erfolgsaussicht Lebensqualität): Einseitige Bewertungen vermeiden! Entscheidungen müssen von allen umgesetzt werden! à Nutzen für die Patientenversorgung Umfassendere Einschätzung der Situation des Patienten ð bessere Entscheidungsgrundlage Validere Bewertungen ð besserer Berücksichtigung Wohl + Wille Frühzeitige Deeskalation von Problemen im Team Höhere Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter Bessere Kooperation ð Patientensicherheit, Versorgungsqualität

Fallbesprechung: Inhaltliche Struktur Ziele Argumentation strukturieren Berücksichtigung wesentlicher Aspekte sichern Ethische Qualität des Beratungsergebnisses sichern Methoden Nimwegener Methode für ethische Fallbesprechung Bochumer Arbeitsbogen zur medizinethischen Praxis Prinzipienorientierte Falldiskussion (Marckmann) Systematische Abklärung der ethischen Verpflichtungen Orientierung an den 4 klassischen medizinethischen Prinzipien: Wohltun, Nichtschaden, Respekt der Autonomie, Gerechtigkeit

Medizinethische Prinzipien Prinzip des Wohltuns Wohlergehen des Patienten fördern: Lebenszeit & -qualität Prinzip des Nichtschadens Dem Patienten keinen Schaden zufügen Respekt der Autonomie Selbstbestimmung des Patienten respektieren und fördern informed consent (Aufklärung + Einwilligung) Gerechtigkeit Verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen Anwendung der Prinzipien (1) Interpretation der Prinzipien: z.b. Wille bei eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit; Wohltun bei PVS ( Wachkoma ) (2) Gewichtung bei Prinzipien-Konflikten: z.b. Wohl ó Wille

Prinzipienorientierte Falldiskussion Interpretation Gewichtung 1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles Information über Patient (Diagnose etc.) Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken 2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge) Autonomie des Patienten 3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten (Gerechtigkeit) Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft 4. Synthese: Konflikt? Begründete Abwägung 5. Kritische Reflexion des Falls Stärkster Einwand? Vermeidung möglich?

Fallbeispiel 41-jährige Patientin mit Subarachnoidal-Blutung (SAB) bei Aneurysma der A. carotis interna rechts OP: Ummantelungs-Clip, Entlastungs-Hemikraniektomie bei zunehmendem Hirndruck mit drohender Einklemmung Gefäßspasmen in den basalen intrakraniellen Arterien ð Spasmolyse Nach 7d: Sedierung, Patientin öffnet Augen, drückt rechte Hand, keine Kommunikation möglich CCT nach 14d: Multiple Ischämiezonen im Media-Stromgebiet beider Hemisphären, re > li; Hirndruck-Anstieg, Patientin bewusstlos Nach Rücksprache mit Vater: keine Eskalation der Therapie Seit 2d: Patientin atmet spontan am T-Stück, aber nicht ansprechbar Liquorkissen über Kraniotomiestelle ð Indikation zur Anlage eine V-P- Shunts Vater: Anlage des V-P-Shunt widerspricht dem Willen seiner Tochter à Ethische Fallbesprechung über Einsatz lebensverlängernder Maßnahmen

Prinzipienorientierte Falldiskussion 1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles Information über Patient (Diagnose etc.) Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken 2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge) Autonomie des Patienten 3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten (Gerechtigkeit) Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft 4. Synthese: Konflikt? Begründete Abwägung 5. Kritische Reflexion des Falls Stärkster Einwand? Vermeidung möglich?

Behandlungsoptionen Option 1 Leben verlängern & Lebensqualität sichern Anlage eines V-P-Shunts, Fortsetzung der intensivmedizinischen lebenserhaltenden Therapie, anschließend Rehabilitation Lebensverlängerung mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich Schwerwiegende ischämische Schädigung beider Gehirnhälften genaue Prognose derzeit noch nicht sicher abschätzbar Aber: Schwere körperliche sowie kognitive & kommunikative Einschränkungen sind zu erwarten Option 2 Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen Patientin würde mit hoher Wahrscheinlichkeit an zunehmenden Hirndruck versterben

Prinzipienorientierte Falldiskussion 1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles Information über Patient (Diagnose etc.) Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken 2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge) Autonomie des Patienten 3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten (Gerechtigkeit) Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft 4. Synthese: Konflikt? Begründete Abwägung 5. Kritische Reflexion des Falls Stärkster Einwand? Vermeidung möglich?

Wohltun / Nichtschaden (1) Leitfrage: Welche der verfügbaren Behandlungsoptionen ist (aus der Fürsorgeperspektive) für die Patientin am besten? Option 1: Lebensverlängernde Therapie Überleben mit schweren körperlichen sowie kognitiven & kommunikativen Einschränkungen wahrscheinlich erheblich eingeschränkte Lebensqualität Pat. wird ihren Beruf (internationales Marketing bei einer großen Firma) sicher nicht mehr ausüben können Pat. hatte keinen Partner & keine Kinder, ist voll im Beruf aufgegangen Option 2: Verzicht auf lebensverlängernde Therapie Versterben der Patienten in absehbarer Zeit durch zunehmenden Hirndruck wahrscheinlich

Wohltun / Nichtschaden (2) Frage: Ist der Patientin unter der vorliegenden Prognose ein Weiterleben zuzumuten? Problem: Erfordert Bewertung der zu erwartenden Lebensqualität Chance der ethischen Fallbesprechung: Perspektiven verschiedener Disziplinen auf das Patientenwohl verbinden à Herausforderungen für Moderator Neurochirurg favorisiert Option 1, argumentiert mit (nicht richtig passenden) Kasuistiken Anästhesisten favorisieren offenbar eher Option 2, scheuen sich aber, diese Position klar zu formulieren à Tendenz: Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen entspricht eher dem Wohlergehen der Patientin

Prinzipienorientierte Falldiskussion 1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles Information über Patient (Diagnose etc.) Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken 2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge) Autonomie des Patienten 3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten (Gerechtigkeit) Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft 4. Synthese: Konflikt? Begründete Abwägung 5. Kritische Reflexion des Falls Stärkster Einwand? Vermeidung möglich?

Respekt der Autonomie Leitfrage: Welche der verfügbaren Handlungsoptionen bevorzugt die Patienten (nach entsprechender Aufklärung)? Patientin ist aktuell nicht einwilligungsfähig Stellvertretende Entscheidung (vgl. 3. BetrRÄndG) (1) Patientenverfügung, mündliche Äußerungen (2) Mutmaßlicher Wille (3) Objektives Wohl

Fallbeispiel: Einwilligung der Patientin?

Fallbeispiel: Einwilligung der Patientin? Patientenverfügung ist eher allgemein formuliert: Man soll auf Maßnahmen verzichten, die nur eine Sterbens- und Leidensverlängerung bedeuten würden Trifft im vorliegenden Fall nicht exakt zu, da die Patientin sich nicht im Sterbeprozess befindet Gespräch mit Angehörigen (Eltern & Bruder) Patientin: Sehr aktive, ehrgeizige, alleinstehende Frau Beruf bedeutete ihr sehr viel: Internationales Marketing einer größeren Firma, viele Reisen ins Ausland, spricht mehrere Sprachen Anlass zur Abfassung der PV mit 29 Jahren: zwei Fälle einer schweren Gehirnschädigung mit starken körperlichen & geistigen Beeinträchtigungen im nahen Bekanntenkreis Pat. damals: So möchte ich auf keinen Fall leben. Ergebnis: Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen entspricht dem mutmaßlichen Willen der Patienten

Prinzipienorientierte Falldiskussion 1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles Information über Patient (Diagnose etc.) Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken 2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge) Autonomie des Patienten 3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten (Gerechtigkeit) Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft 4. Synthese: Konflikt? Begründete Abwägung 5. Kritische Reflexion des Falls Stärkster Einwand? Vermeidung möglich?

Verpflichtungen gegenüber Dritten Leitfrage: Welche Bedürfnisse anderer, von der Entscheidung betroffenen Personen sind zu berücksichtigen? Pat. hat keinen Partner, keine Kinder Eltern und Bruder tragen die Interpretation des (mutmaßlichen) Willens der Patientin mit Option 2 ist für ihr Wohlergehen besser! Ressourcenverbrauch Spielte in der Diskussion keine Rolle Option 1: hoher Ressourcenverbrauch bei unklarem, möglicherweise schlechtem Outcome Option 2: niedrigerer Ressourcenverbrauch Ergebnis: Vor allem die Verpflichtungen gegenüber den Angehörigen sprechen für Option 2

Prinzipienorientierte Falldiskussion 1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles Information über Patient (Diagnose etc.) Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken 2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge) Autonomie des Patienten 3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten (Gerechtigkeit) Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft 4. Synthese: Konflikt? Begründete Abwägung 5. Kritische Reflexion des Falls Stärkster Einwand? Vermeidung möglich?

Synthese Leitfrage: Konvergieren oder divergieren die ethischen Verpflichtungen, die aus den einzelnen medizinethischen Prinzipien resultieren? Wohlergehen Tendenz Option 2 (Verzicht auf Lebensverlängernde Maßnahmen) Respekt der Autonomie: mutmaßlicher Wille der Patientin Option 2 Gerechtigkeit Option 2 Konvergenz der Verpflichtungen Ergebnis: Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen (Option 2) ist die ethische am besten begründbare Entscheidung Begründung: Option zwei entspricht dem mutmaßlichen Patientenwillen, den Bedürfnissen der Angehörigen sowie zumindest in der Tendenz der Einschätzung des Patientenwohls durch das Team

Prinzipienorientierte Falldiskussion 1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles Information über Patient (Diagnose etc.) Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken 2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge) Autonomie des Patienten 3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten (Gerechtigkeit) Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft 4. Synthese: Konflikt? Begründete Abwägung 5. Kritische Reflexion des Falls Stärkster Einwand? Vermeidung möglich?

Kritische Reflexion des Falles Leitfrage 1: Welches ist der stärkste Einwand gegen die gewählte Option? Die Prognose ist noch unsicher: Wurde sie vielleicht zu pessimistisch eingeschätzt? Hätte sich die Patientin möglicherweise bei einem weniger schlechten Outcome mit den Einschränkungen arrangiert? Leitfrage 2: Hätte der ethische Entscheidungskonflikt vermieden werden können? Nach Analyse bestand kein ethischer Konflikt. Anlass für die Ethikberatung war der zunächst v.a. von Seiten der Neurochirurgen wahrgenommene Konflikt zwischen der Verpflichtung, das Leben der Patientin zu erhalten, und der Verpflichtung, den Willen der Patientin zu berücksichtigen

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Literatur: Ethische Grundlagen der Therapiebegrenzung: Marckmann G, Sandberger G, Wiesing U. Begrenzung lebenserhaltender Behandlungsmaßnahmen: Eine Handreichung für die Praxis auf der Grundlage der aktuellen Gesetzgebung. Deutsche Medizinische Wochenschrift 2010;135(12):570-4. Prinzipienorientierte Falldiskussion: Marckmann G, Mayer F, Ethische Fallbesprechungen in der Onkologie: Grundlagen einer prinzipienorientierten Falldiskussion. Der Onkologe 2009;15(10):980-988 Folien: www.egt.med.uni-muenchen.de/marckmann Kontakt: marckmann@lmu.de

Prinzipienorientierte Falldiskussion 1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles Information über Patient (Diagnose etc.) Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken 2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge) Autonomie des Patienten 3. Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten (Gerechtigkeit) Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft 4. Synthese: Konflikt? Begründete Abwägung 5. Kritische Reflexion des Falls Stärkster Einwand? Vermeidung möglich?