Abteilung: Interdisziplinäre Alterns- und Leitung: Prof. Dr. Stefan Görres Bedarfe und Evaluation pflegerischer Versorgungsstrukturen im ambulanten Sektor am Beispiel niedrigschwelliger Betreuungsangebote Darstellung der Evaluationsergebnisse unter Berücksichtigung des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes (PNG) im Rahmen der Fachtagung am 22. April 2013 in Bremen
Übersicht 1. Hintergrund und Ziel der Studie 2. Forschungsleitende Fragen 3. Methodisches Vorgehen 4. Darstellung der Ergebnisse 5. Fazit und Empfehlungen 6. (Potenzielle) Wirkungen und Konsequenzen des PNG
Hintergrund und Ziel der Studie
Hintergrund der Studie 2,25 Millionen pflegebedürftige Menschen in Deutschland, 68% davon werden zu Hause versorgt häufig ausschließlich durch Angehörige (Statistisches Bundesamt 2009) Pflegende Angehörige unterliegen erheblichen Belastungen und verfügen zum Teil kaum noch über soziale Netzwerke (Runde et al. 2009) das erklärte Ziel der nachhaltigen Entlastung von Pflegehaushalten durch das Leistungsangebot des SGB XI wurde 15 Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung nicht erreicht Pflegeleistungsergänzungsgesetz (PflEG, 2002) Pflegeweiterentwicklungsgesetz (PfWG, 2008) Personen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen und erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf, haben Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung, auch wenn keine Pflegeeinstufung vorliegt.
Hintergrund der Studie Zweck des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes von 2002 und des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes von 2008 zusätzliche Betreuungsleistungen für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (PEA) bzw. mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf Verwendung der Leistungen für die Inanspruchnahme von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten: Tagesbetreuung in Kleingruppen, Einzelbetreuung zu Hause durch anerkannte HelferInnen, Betreuungsgruppen etc.
Hintergrund der Studie Wesentliche Zielsetzungen des 45 a-d SGB XI Individualebene: Angebot einer aktivierenden und qualitätsgesicherten Betreuung für Personen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen sowie (stundenweise) Entlastung, Beratung und Unterstützung für betreuende Angehörige Kollektivebene: Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen und konzepte; Förderung ehrenamtlicher Strukturen sowie der Selbsthilfe
Ziel der Studie: Grad der Zielerreichung im Lande Bremen Darstellung der Ist-Situation im Land Bremen Erfassung bestehender Angebote Skizzierung des Nutzungsverhalten der Anspruchsberechtigten Erhebung von Erfahrungen der Anbieter und Nutzer/innen Identifikation von Handlungsbedarfen
Forschungsleitende Fragen
Forschungsleitende Fragen Welche Angebote stehen im Land Bremen zur Verfügung? Entsprechen diese den Bedarfen nach Betreuung und Entlastung? Wie zufrieden sind Anspruchsberechtigte mit dem genutzten Angebot? Was sind die Gründe für Nicht-Nutzung und Abbruch der Angebote? Wie erfolgt die Auswahl und Qualifizierung der Betreuungskräfte? weitere Fragen
Methodisches Vorgehen
Methodisches Vorgehen Online- Fragebogenerhebung (Anbieter) Schriftliche Fragebogenerhebung + + (Anspruchsberechtigte und deren Angehörige) Qualitative Interviews (Abbrecher und Nicht-Nutzer von Angeboten) Angebote und deren Profil Rekrutierung von Betreuungskräften Häusliche Betreuungssituation Nutzung / Nicht-Nutzung Gründe für Nicht-Inanspruchnahme und Abbruch von Angeboten Qualifizierung der Betreuungskräfte Erfahrungen mit Angeboten Erfahrungen mit Inanspruchnahme Soziodemografische Daten
Ausgewählte Ergebnisse aus der Online-Befragung der Anbieter 43 von 74 Anbietern nahmen an der Online-Befragung teil (Rücklaufquote: 58 %)
Ergebnisse Angebote und deren Profil Bitte nennen Sie uns die Art Ihres niedrigschwelligen Betreuungsangebotes. % 80 (n=43, Mehrfachnennungen) Für welche Personengruppe haben Sie Ihr Betreuungsangebot konzipiert? (n=43; Mehrfachnennungen) 70 60 72,1 % 80 31 (72,1%) 50 48,8 70 60 21 (48,8%) 40 30 20 50 40 30 20 12 (27,9%) 10 (23,3%) 6 (14,0%) 5 (11%) 10 0 10 0 Demenz Angehörige psychische Erkrankung geistige Behinderung kein Schwerpunkt Sonstiges Seitens der Anbieter stehen mehr Angebote zur Einzelbetreuung als in der Gruppe zur Verfügung. Diese richten sich primär an die Personengruppe der Menschen mit Demenz und ihr Angehörigen.
Ergebnisse Erfahrungen mit Inanspruchnahme Gibt es eine Tendenz in der Inanspruchnahme der Einzelbetreuung? (n=43; k. A.= 7 (16,3%)) 70 60 50 40 30 20 10 0 28 (65,1%) 6 (14,0%)... der Gruppenbetreuung? (n=43; k. A.= 24 (55,8%)) 2 (4,6%) 9 (20,9%) 6 (14,0%) 3 (7,0%) steigend gleichbleibend schwankend rückläufig 0 1 (2,3%) Einzelbetreuung Gruppenbetreuung Insbesondere Angebote zur Einzelbetreuung werden zunehmend nachgefragt.
Ergebnisse Bekanntheit der Angebote Denken Sie, dass Ihr Betreuungsangebot mittlerweile bei pflegenden Angehörigen in Ihrem Einzugsgebiet bekannt ist? (n=43) 3 (7,0%) 7 (16.3%) 8 (18,6%) 25 (58,1%) ja teilweise nein keine Angabe Die niedrigschwelligen Betreuungsangebote sind nach Einschätzung der Anbieter nur bedingt bei den Anspruchsberechtigten bekannt.
Ergebnisse Zufriedenheit der Angehörigen Welche Rückmeldungen gibt es von den pflegenden Angehörigen zu Ihrem niedrigschwelligen Betreuungsangebot? (n=43) 20 (46,5%) 18 (41,9%) 5 (11,6 %) sehr positive eher positive keine Angabe Die Nutzer/innen der Betreuungsangebote bzw. deren Angehörige äußern bei den Anbietern eine hohe Zufriedenheit.
Ergebnisse Rekrutierung der Betreuungskräfte Wie schätzen Sie die Rekrutierung von ehrenamtlichen Betreuungskräften ein? (n=43) 12 (27,9%) 1 (2,3%) 3 (7,0%) 20 (46,5%) 7 (16,3%) einfach teils/teils schwierig sehr schwierig k.a. Die Rekrutierung geeigneter Betreuungskräfte erweist sich zum Teil als schwierig.
Ergebnisse weitere zentrale Erkenntnisse Entlastungswirkung für die Angehörigen wird als hoch bis sehr hoch eingeschätzt Passung zwischen Angebot und individuellen Bedarfen der Nutzer gelingt nicht durchgängig für Akquisition neuer Nutzer fehlen oft zeitliche und personelle Kapazitäten
Ergebnisse aus der schriftlichen Befragung der Anspruchsberechtigten 56 von 400 Anspruchsberechtigten nahmen an der Befragung teil (Rücklaufquote: 14 %)
Ergebnisse Profil der befragten Anspruchsberechtigten In welcher Pflegestufe (PS) ist die betreute Person derzeit eingestuft? (n=56; k. A.= 1 (1,8%)) % 50 40 30 22 (39,3%) 24 (42,9%) 20 10 4 (7,1%) 4 (7,1%) 1 (1,8%) 0 PS 0 PS 1 PS 2 PS 3 PS3+ Die befragten Anspruchsberechtigten zählten überwiegend zu der Zielgruppe der Menschen mit Demenz und wiesen meist Pflegestufe 1 oder 2 auf. 80 60 40 20 % Zu welchem Personenkreis gehört die betreute Person? Die betreute Person hat eine (n=56, k. A.= 2 (3,6%)) 42 (75%) 7 (12,5%) 5 (8,9%) 0 Demenz geistige Behinderung psychische Erkrankung
Ergebnisse Inanspruchnahme von Betreuungsangeboten Nehmen Sie aktuell für die betreute Person ein niedrigschwelliges Betreuungsangebot in Anspruch? (n=56) k. A. 5 (8,9%) ja nein 27 (48,2%) 24 (42,9%) Lediglich die Hälfte der teilnehmenden Anspruchsberechtigten nutzt die Möglichkeit einer Betreuung.
Ergebnisse Nutzen des Betreuungsangebots Wie beurteilen Sie das genutzte Angebot im Hinblick auf das Wohlbefinden und auf die soziale Teilhabe der betreuten Person? Ich beurteile das genutzte Angebot als... (n=28) eher gut k. A. 1 (3,6%) 13 (46,4%) sehr gut 14 (50%) eher schlecht oder sehr schlecht 0 Wie schätzen Sie das Ausmaß Ihrer persönlich empfundenen Entlastung durch die Nutzung des Betreuungsangebots ein? (n=28) Die genutzten Angebote fördern Wohlbefinden und soziale Teilhabe der Anspruchsberechtigten und tragen zur Entlastung der Angehörigen bei. als sehr niedrig als eher niedrig als eher hoch als sehr hoch 1 (3,6%) 1 (3,6%) 12 (42,9%) 14 (50%) 0 10 20 30 40 50 %
Ergebnisse Informationsquellen für Betreuungsangebote Informationen werden primär bei Ärzten, Pflegekassen und Pflegediensten eingeholt. Die speziellen Beratungsstellen werden nur bedingt wahrgenommen.
Ergebnisse weitere zentrale Erkenntnisse Abgabe der Betreuung an externe Helfer fällt einigen pflegenden Angehörigen schwer Anspruchsberechtigte empfinden Angebotsstruktur und Finanzierung als unübersichtlich Informationsdefizite sowie mangelnde Wahrnehmung spezieller Beratungsstellen die Höhe der Betreuungsleistungen wird häufig als nicht ausreichend bewertet Betroffene und Angehörige schätzen das Engagement der Betreuungskräfte
Fazit und Empfehlungen
Zusammenfassendes Fazit Derzeitige Angebote richten sich primär an Menschen mit dementieller Erkrankung. Es besteht eine steigende Nachfrage an Formen der Einzelbetreuung. Die Angebote fördern Wohlbefinden und soziale Teilhabe der Betroffenen und tragen zur Entlastung der Angehörigen bei. Die Hälfte der Anspruchsberechtigten nutzt kein Betreuungsangebot. Gründe hierfür sind Informationsdefizite und Barrieren, den Angehörigen an Fremde abzugeben. Die Betreuungsangebote sind noch nicht ausreichend bekannt. Die speziellen Beratungsstellen werden lediglich bedingt als Informationsquellen wahrgenommen.
Empfehlungen Strategie 1: Bessere Wahrnehmung der Beratungsstruktur in der Öffentlichkeit - Stärkung der Wahrnehmung der Angebotsstruktur - verständliche und persönliche Beratung für alle Betroffenen - stärkere Einbeziehung spezieller Beratungsstellen in die Erstberatung Strategie 2: Kooperation der Anbieter durch Aufbau eines Informationspools - Aufbau eines gemeinsamen Informations- Pools - evtl. Aufbau von Kooperationen mit dem Ziel der flexibleren Gestaltung der Angebote Strategie 3: Begleitung vor Betreuung - Angebot einer Begleitung für Anspruchsberechtigte, die ein Angebot nicht nutzen Ziele: - Hilfe zur Selbstfürsorge und Abgrenzung von der Betreuung - Erkennen von Interventionsbedarf und Vermeidung einer Eskalation bzw. abrupten Beendigung der Betreuungssituation
Empfehlungen Strategie 1: Bessere Wahrnehmung der Beratungsstruktur in der Öffentlichkeit - Stärkung der Wahrnehmung der Angebotsstruktur - verständliche und persönliche Beratung für alle Betroffenen - stärkere Einbeziehung spezieller Beratungsstellen in die Erstberatung Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit: mehr Medienpräsenz vor allem in Tageszeitungen, Beratungsstellen wie Pflegestützpunkten, DIKS, DLZ ein Gesicht geben (Fotos der Berater/innen) Auslage von Informationsmaterial an Orten, die von Senioren häufig aufgesucht werden: Einkaufszentren, Therapeuten etc., Flyer gezielt verteilen erneuter Versuch, Ärzte für die Weitervermittlung an spezielle Beratungsstellen zu gewinnen
Empfehlungen Strategie 2: Kooperation der Anbieter durch Aufbau eines Informationspools - Aufbau eines gemeinsamen Informations- Pools - evtl. Aufbau von Kooperationen mit dem Ziel der flexibleren Gestaltung der Angebote Etablierung eines sog. runden Tisches der Anbieter (Pflegedienste, DLZ, Sonstige) im Stadtteil oder Quartier Austausch von Informationen, gegenseitige Unterstützung beim Auf- und Ausbau der Angebote, idealerweise Abstimmungen im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, Serviceleistungen sowie Qualifizierung der Betreuungskräfte
Empfehlungen Strategie 3: Begleitung vor Betreuung - Angebot einer Begleitung für Anspruchsberechtigte, die ein Angebot nicht nutzen Ziele: - Hilfe zur Selbstfürsorge und Abgrenzung von der Betreuung - Erkennen von Interventionsbedarf und Vermeidung einer Eskalation bzw. abrupten Beendigung der Betreuungssituation Zugang zu den Anspruchsberechtigten herstellen, die ein Angebot nicht nutzen Einsatz von qualifizierten Fachkräften, die diesen Begleitungsprozess in die Wege leiten und steuern
(Potenzielle) Wirkungen und Konsequenzen des PNG
(Potenzielle) Wirkungen des PNG Positive Wirkungen des PNG: Erhöhung der Leistungen für PEA der Pflegestufe I bis II neue Leistungsart Häusliche Betreuung : Auf- und Ausbau von Betreuungsangeboten durch Pflegedienste und optimale Passung zwischen Angebot und individuellen Bedürfnissen finanzielle Förderung von Pflege-Wohngemeinschaften; interessant auch für geistig behinderte oder psychisch kranke Menschen professionelle Pflege und Betreuung für PEA bereits in Pflegestufe 0 mehr Spielräume für individuelle Pflege und Betreuung durch Zeitvergütung gezielte Vergabe von Beratungsgutscheine an spezielle Beratungsstellen wie DIKS, Pflegestützpunkte, DLZ Förderung von Selbsthilfegruppen?
(Potenzielle) Wirkungen des PNG Eher negative Wirkungen: große Herausforderungen für Pflegedienste durch zeitbasierte Vergütung von Pflege- und Betreuungsleistungen zukünftige Positionierung der Betreuungsdienste neben Pflegediensten und etablierten DLZ in der Angebotsstruktur in Bremen bleibt unklar keine Leistungserhöhung für PEA der PS III (ambulant und stationär) mehr Geld löst nicht das Problem der eingeschränkten Bereitschaft, externe Hilfe anzunehmen zeitlich und personell knappe Kapazitäten für die Akquisition neuer Nutzer/innen
Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! Leitung: Prof. Dr. Stefan Görres Mitarbeitende: Dr. phil. Svenja Schmitt Sabine Blom (Dipl.-Geront., M.A.) Alexandra Baumkötter (M. A. Public Health) Fadua El Bouazzaoui (B. A. Public Health) Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) Universität Bremen www.ipp.uni-bremen.de