INTE HANDI CAP. Behinderung und Recht 4/14 GRATION. Inhaltsverzeichnis. Invaliditätsbemessung: Stellenwert ärztlicher Einschätzungen Seite 2



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Transkript:

INTE GRATION HANDI CAP Schweizerische Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter Fédération suisse pour l intégration des handicapés Behinderung und Recht 4/14 Inhaltsverzeichnis Invaliditätsbemessung: Stellenwert ärztlicher Einschätzungen Seite 2 Ergänzungsleistungen: Hypothetisches Einkommen bei Verletzung der Schadenminderungspflicht Seite 4 Berufliche Massnahmen der IV: Zweiter Bildungsweg bleibt benachteiligt Seite 5 Kein Assistenzbeitrag für Bezüger einer Hilflosenentschädigung der Unfallvesicherung Seite 6 Impressum Behinderung und Recht erscheint vierteljährlich als Beilage zum Mitteilungsblatt von Integration Handicap Herausgeber: Rechtsdienst Integration Handicap Zweigstelle Zürich, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich Tel. 044 201 58 27 Zweigstelle Bern, Schützenweg 10, 3014 Bern Tel. 031 331 26 25 Unentgeltliche Beratung in invaliditätsbedingten Rechtsfragen, insbesondere Sozialversicherungen Behinderung und Recht ist auch verfügbar auf www.integrationhandicap.ch (Publikationen) Edition française: Droit et handicap Hilflosenentschädigung im Sonderfall der besonders aufwändigen Pflege: Deutliche Verschärfung der Praxis Seite 7

Invaliditätsbemessung: Stellenwert ärztlicher Einschätzungen Dürfen sich Verwaltung und Gerichte über die Einschätzungen der medizinischen Gutachter hinwegsetzen? Ein Grundsatzurteil des Bundesgerichts (Entscheid vom 12.6.2014; 140 V 193) hat eine lebhafte Kontroverse ausgelöst. Es soll im Folgenden zusammengefasst und kommentiert werden. Ausgangslage Zu beurteilen war der Fall einer Frau, bei welcher die IV-Stelle St. Gallen ein MEDAS-Gutachten in Auftrag gegeben hatte. Die Gutachter gelangten zum Schluss, dass die Versicherte an einer rezidivierenden depressiven Störung, aktuell mittelgradige Episode, mit beginnender Chronifizierung in leichtgradiger Ausprägung, verbunden mit akzentuierten Persönlichkeitszügen mit histrionischen und passiv-aggressiven Anteilen leide; als Folge davon habe vorübergehend eine 100%-Arbeitsunfähigkeit bestanden und bestehe weiterhin eine 40%-Arbeitsunfähigkeit. Die IV-Stelle St. Gallen verneinte in der Folge in Abweichung von der MEDAS-Einschätzung eine rechtlich relevante Invalidität und lehnte das Rentengesuch der Versicherten ab. Diese gelangte darauf an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, welches ihre Beschwerde guthiess und ihr vorübergehend eine ganze und danach eine Viertelsrente zusprach. Das kantonale Gericht stütze sich dabei auf die Einschätzungen der gutachterlichen Experten, die es für schlüssig hielt. Die IV-Stelle zog diesen Entscheid schliesslich an das Bundesgericht weiter. Zum Stellenwert ärztlicher Einschätzungen Das Bundesgericht hat sich vorerst in grundsätzlicher Hinsicht zum Stellenwert ärztlicher Beurteilungen geäussert: Es sei keineswegs allein Sache der ärztlichen Gutachter, selber abschliessend und verbindlich zu entscheiden, ob das medizinisch festgestellte Leiden zu einer Arbeitsunfähigkeit in bestimmter Höhe und Ausprägung führe; dies, weil erstens die Arbeitsunfähigkeit einerseits ein unbestimmter Rechtsbegriff des Gesetzes sei, dessen Konkretisierung im Einzelfall der rechtsanwendenden Stelle obliege, welche dabei den durch die Rechtsprechung gezogenen normativen Rahmen zu berücksichtigen habe; zweitens verlange der Grundsatz der freien Beweiswürdigung eine umfassende Prüfung aller Beweismittel, somit auch von Gutachten, auf Beweiskraft und Beweiseignung hin; und drittens gebiete auch die Forderung eines rechtsgleichen Vollzugs eine administrative bzw. gerichtliche Überprüfung ärztlicher Einschätzungen der Arbeitsunfähigkeit auf ihre beweisrechtlich erforderliche Schlüssigkeit im Einzelfall hin; dies insbesondere deshalb, weil die medizinische Folgenabschätzung notgedrungen eine hohe Variabilität aufweise und unausweichlich Ermessenszüge trage. Die Aufgabe der Mediziner so das Bundesgericht sei es weiterhin, den Gesundheitszustand zu beurteilen und wenn nötig seine Entwicklung im Laufe der Zeit zu beschreiben, d.h. die Befunde zu erheben und gestützt darauf die Diagnose zu stellen; diesbezüglich erfülle der Sachverständige seine genuine Aufgabe, wofür die Verwaltung und im Streitfall das Gericht nicht kompetent seien. Bei der Folgenabschätzung der erhobenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen für die Arbeitsfähigkeit komme der Arztperson hingegen keine abschliessende Beurteilungskompetenz zu; vielmehr gebe die Arztperson hierzu bloss eine Schätzung ab, die sie so substantiell wie möglich zu begründen habe; diese ärztliche Einschätzung bilde eine wichtige Grundlage für die juristische Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen einer Person noch zugemutet werden könnten; bei der Beantwortung dieser Frage seien wenn nötig in Ergänzung der medizinischen Unterlagen die Fachpersonen der beruflichen Integration einzuschalten, um das erwerblich nutzbare Leistungsvermögen zu ermitteln. Was ist neu an diesem Urteil? Bei Durchsicht des Urteils entsteht der Eindruck, dass das Bundesgericht selber der Meinung ist, seine Ausfüh- 2

rungen würden im Wesentlichen nur wiederholen, was schon immer gegolten habe. Zwar trifft es durchaus zu, dass den Ärzten noch nie eine abschliessende Entscheidkompetenz bei der Festlegung der zumutbaren Arbeitsleistung zugekommen ist, doch lassen sich durchaus gewichtige Nuancen gegenüber der bisher geltenden Rechtsprechung erkennen. Gerade bei medizinischen Gutachten war bisher immer wieder festgehalten worden, dass von ihren Ergebnissen nur abzuweichen sei, wenn sich das Gutachten nicht als schlüssig erweise. Wann ein Gutachten als schlüssig gelten darf und wann nicht, ist in einer langen Rechtsprechung festgelegt worden (welche hier nicht nochmals wiedergegeben werden soll). Dieses Schlüssigkeitskriterium scheint nun nicht mehr im Zentrum zu stehen, sondern es scheint eine wesentlich freiere und offenere Beweiswürdigung durch Verwaltung und Gerichte zulässig, welche ohne weiteres ein Abweichen von gutachterlichen Einschätzungen z.b. mit Hinweis auf den Gesichtspunkt eines rechtsgleichen Vollzugs, erlaubt. Damit stellt sich durchaus die Frage, was denn die vielen teuren medizinischen Gutachten noch wert sind? Problematisch ist die freie Beweiswürdigung von medizinischen Sachverhalten durch medizinische Laien auch deshalb, weil diese nach wie vor nicht über von medizinischen Fachgesellschaften entwickelte Beurteilungsleitlinien verfügen, welche ihnen einen sachgerechten Entscheid erlauben würden. Problematisch ist sie aber auch deshalb, weil damit immer mehr Entscheide zu erwarten sind, die von allgemeinen (auch sozialpolitischen) Kriterien beeinflusst sind und der individuellen Beeinträchtigung einer bestimmten Person mit ihren ganz persönlichen Ressourcen nicht Rechnung tragen; diese zu beurteilen, vermag unseres Erachtens einzig eine medizinische Fachperson. Nach diesem Urteil muss leider befürchtet werden, dass sich die IV-Stellen weiterhin auf die Ergebnisse von Gutachten stützen werden, wenn diese eine relevante Arbeitsunfähigkeit verneinen, den gutachterlichen Schlussfolgerungen jedoch vermehrt nicht mehr folgen werden, wenn diese eine Arbeitsunfähigkeit in relevantem Ausmass bejahen. Es würde kaum überraschen, wenn sich der dramatische Rückgang der Rentenzusprachen weiter akzentuieren würde. Wann führt eine depressive Störung zu einer Invalidität? Interessant ist, dass das Bundesgericht in der Tatsache, dass die Vorinstanz sich auf die gutachterlichen Einschätzungen abgestützt hat, einen rechtlichen Mangel erblickt hat, und dass es deswegen den entscheidrelevanten Sachverhalt gleich selber festgestellt hat. Das Bundesgericht ist dabei zum Ergebnis gelangt, dass die von der MEDAS diagnostizierten Befunde keine Invalidität begründen würden: Die verschiedenen Berichte würden so das Bundesgericht die bezüglich Schweregrad und rezidivierendem oder episodischem Charakter psychiatrisch kontrovers beurteilte Depression klar als therapeutisch angehbares reaktives Geschehen auf bestimmte Lebensereignisse (wie den Tod der Mutter und die erhaltene fristlose Kündigung) ausweisen; zudem seien die zumutbaren Behandlungsmöglichkeiten in keinem Zeitpunkt optimal und nachhaltig ausgeschöpft worden; es fehle somit an einer konsequenten Depressionstherapie, deren Scheitern das Leiden als resistent ausweisen würde; schliesslich sei das Beschwerdebild geprägt von Selbstlimitierung in Form von passiv-aggressivem Verharrens in der Meinung, dass die Therapeuten für ihre Heilung verantwortlich seien; zudem liege offensichtlich ein sekundärer Krankheitsgewinn vor. Unter all diesen Umständen sei die Annahme einer rentenrelevanten Invalidität nicht zulässig. Die invalidenversicherungsrechtliche Beurteilung von depressiven Störungen ist bereits seit einigen Jahren zunehmend strengeren Massstäben unterworfen. Das neuste Urteil des Bundesgerichts scheint nun jenen Depressionen, die durch bestimmte Schicksalsschläge ausgelöst worden sind und damit in einer ersten Phase reaktiven Charakter haben, nur dann einen Invaliditätswert zuzusprechen, wenn diese Störungen trotz Befolgung einer konsequenten Depressionstherapie andauern und sich deshalb als resistent erweisen. Nach welcher 3

Zeitdauer von einer solchen Resistenz ausgegangen werden kann, lässt das Bundesgericht offen. Diese Rechtsprechung erinnert stark an die früher hinsichtlich der Neurosen entwickelte Praxis, wonach diese nur als invaliditätsrechtlich relevant betrachtet wurden, wenn sie sich als unlösbar fixiert erwiesen. Im Grundsatzurteil vom 5.1.2001 (127 V 294) war das Bundesgericht dann zum Ergebnis gelangt, es komme in Bezug auf den invalidisierenden Charakter einer psychischen Störung nicht darauf an, ob diese behandelbar sei oder nicht; damit ein Anspruch auf eine Invalidenrente entstehe, müsse einzig vorausgesetzt werden, dass während eines Jahres eine mindestens 40%ige Arbeitsunfähigkeit bestanden habe und eine anspruchsbegründende Erwerbsunfähigkeit weiterhin bestehe. Diese Rechtsprechung scheint nun wieder stark relativiert zu werden Georges Pestalozzi-Seger Ergänzungsleistungen: Hypothetisches Einkommen bei Verletzung der Schadenminderungspflicht Wir haben in den letzten drei Nummern von Behinderung und Recht bereits mehrere Urteile zu den Ergänzungsleistungen zusammengefasst und kommentiert. Nun hat das Bundesgericht im Mai dieses Jahres einen weiteren interessanten Entscheid (Urteil vom 22.5.2014; 9C_908/2013) gefällt, diesmal zur Anrechnung eines hypothetischen Erwerbseinkommens bei einem Bezüger einer IV-Hilflosenentschädigung. Dieser Entscheid soll ebenfalls erläutert werden. Bei diesem Urteil ging es um einen Mann, der aufgrund einer starken Sehbehinderung eine IV-Hilflosenentschädigung erhält und deshalb grundsätzlich Anspruch auf Ergänzungsleistungen hat. Die EL-Stelle lehnte die Ausrichtung von Ergänzungsleistungen jedoch ab und führte zur Begründung aus, angesichts eines Invaliditätsgrades von 0% sei ihm ein hypothetisches Erwerbseinkommen anzurechnen, das die anerkannten Ausgaben übersteige. Im Rahmen der gegen den Entscheid der EL-Stelle erhobenen Beschwerde holte das kantonale Versicherungsgericht bei der IV-Stelle eine Stellungnahme zum Invaliditätsgrad ein. Die IV-Stelle gab den Invaliditätsgrad mit 7,5% an und führte zur Begründung aus, aufgrund der medizinischen Berichte sei von einer 100%-igen Arbeitsfähigkeit in einer visus-adaptierten Tätigkeit auszugehen. Da die angestammte Tätigkeit als Physiotherapeut nicht als ideal angepasst eingestuft worden sei, sei eine Kostengutsprache für eine Ausbildung zum medizinischen Masseur gewährt worden. Trotz mehrmaliger Aufforderung zur Mitwirkung habe der Versicherte die Ausbildung aber abgebrochen. Obwohl der Versicherte die Ausbildung zum medizinischen Masseur nicht abgeschlossen habe, sei angesichts der Verletzung der Schadenminderungspflicht in Bezug auf das Einkommen mit Behinderung (Invalideneinkommen) aber gleichwohl von einem zumutbaren Erwerbseinkommen als medizinischer Masseur in einem 100%-Pensum auszugehen. Unter Berücksichtigung eines leidensbedingten Abzugs von 20% aufgrund der schweren Sehbeeinträch- 4

tigung resultiere ein Invaliditätsgrad von 7,5%. Daraufhin ging auch das kantonale Versicherungsgericht von einer 100%-igen Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit sowie einem hypothetischen Erwerbseinkommen eines medizinischen Masseurs aus und stützte die Ablehnung des Leistungsanspruchs durch die EL-Stelle. Gegen den Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichts liess der Mann beim Bundesgericht Beschwerde erheben und geltend machen, es sei ihm zwar ein hypothetisches Erwerbseinkommen anzurechnen, dieses sei aber auf den Betrag zu reduzieren, den er aufgrund seines konkreten Ausbildungsstandes auch wirklich erzielen könne, so dass das Erwerbseinkommen eines medizinischen Masseurs nicht massgebend sein könne. Das Bundesgericht kam in seinem Urteil zum Schluss, dass die gegenüber der IV bestehende Schadenminderungspflicht auch für den Bereich der Ergänzungsleistungen gelte. Der durch den fehlenden Eingliederungswillen verletzten Schadenminderungspflicht sei daher auch im Bereich der Ergänzungsleistungen Rechnung zu tragen. Im Rahmen der Regelung über den Einkommensverzicht gemäss Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG dürfe somit auf dasjenige Einkommen abgestellt werden, das der Mann hätte erzielen können, wenn er die ihm seitens der IV zugesprochene Ausbildung zum medizinischen Masseur absolviert hätte. Nur wenn ausreichend belegt werden könnte, dass der Mann, selbst wenn er sich zum medizinischen Masseur hätte ausbilden lassen, das angerechnete hypothetische Erwerbseinkommen wegen der persönlichen Situation und der Arbeitsmarktlage nicht erzielen könnte, müsste die EL-Stelle dies anerkennen und auf die Anrechnung verzichten. Dieses Urteil ist in seinen Konsequenzen hart: Denn der Nachweis, dass eine Person trotz Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt keine Stelle gefunden hätte, ist faktisch nicht zu erbringen. Petra Kern Berufliche Massnahmen der IV: Zweiter Bildungsweg bleibt benachteiligt Wenn einer Person während der erstmaligen beruflichen Ausbildung invaliditätsbedingt in wesentlichem Umfang Mehrkosten entstehen, werden diese von der IV übernommen, sofern die Ausbildung den Fähigkeiten der versicherten Person entspricht (Art. 16 Abs. 1 IVG). Dasselbe gilt auch im Falle einer Weiterausbildung im bisherigen oder in einem anderen Berufsfeld, sofern diese geeignet und angemessen ist und dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten oder verbessert werden kann (Art. 16 Abs. 2 lit. c IVG). Insofern sind die Leistungen bei erstmaliger beruflicher Ausbildung und Weiterausbildung gleichwertig. Ein wesentlicher Unterschied besteht aber: Während bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung ein Taggeld ausgerichtet wird, sobald eine Person invaliditätsbedingt eine Erwerbseinbusse erleidet (Art. 22 Abs. 1bis IVG), besteht im Falle einer Weiterausbildung kein Anspruch auf ein Taggeld (Art. 22 Abs. 5 IVG). Unter eine von der IV finanzierte erstmalige berufliche Ausbildung fällt auch der Besuch eines Gymnasiums und die anschliessende Absolvierung eines Hochschulstudiums. Hochschulabsolventen, die glaubhaft machen können, dass sie ohne Invalidität neben dem Studium als Werkstudenten einer Erwerbstätigkeit nachgehen würden, dies nun aber invaliditätsbedingt nicht tun können, haben Anspruch auf ein Taggeld. Dasselbe gilt, wenn ein Student invaliditätsbedingt für die Absolvierung des Studiums mehr Zeit beansprucht: Sobald er glaubhaft machen kann, dass er ohne Behinderung schon im Erwerbsleben stehen würde und somit invaliditätsbedingt eine Erwerbseinbusse erleidet, darf er ein Taggeld der IV in Anspruch nehmen. Anders verhält es sich hingegen, wenn eine Person über den zweiten Bildungsweg ein Hochschulstudium in Angriff nimmt, d.h. wenn sie zuerst eine Berufslehre mit Berufsmaturität absolviert und dann (allenfalls über ein Jahr Passerelle) ein Hochschulstudium beginnt. In diesem Fall gilt nach heutiger Praxis die erstmalige berufliche Ausbildung bereits mit dem Ende der Berufslehre 5

als abgeschlossen. Alle weiteren Ausbildungsschritte werden als Weiterausbildung qualifiziert, während der somit kein Anspruch auf ein Taggeld besteht. Diese Ungleichbehandlung hat vor kurzem ein an progressiver Muskeldystrophie leidender und an der Universität Freiburg studierender Versicherter mit Beschwerde an das Bundesgericht gerügt. Er machte dabei insbesondere geltend, er habe von Beginn weg die Absicht gehabt, ein Studium zu absolvieren, und den Weg über eine Berufslehre nur deshalb gewählt, weil er als Ausländer mit sprachlichen Problemen die Aufnahme ins Gymnasium nicht geschafft habe. Das Bundesgericht wollte jedoch in seinem Urteil vom 26.6.2014 (8C_200/2014) die geltende Praxis und Rechtsprechung nicht in Frage stellen. Es hat sich dabei nicht einmal ernsthaft mit der Rüge der Ungleichbehandlung von erstem und zweitem Bildungsweg auseinandergesetzt, sondern einzig festgehalten, der vom Versicherten eingeschlagene Ausbildungsweg entspreche keinem konsequent eingehaltenen Ausbildungsplan. Damit bleibt leider alles beim Alten, und die ungleiche Behandlung von Personen, die ein Studium über eine gymnasiale Maturität anstreben, und jenen, welche dies über eine Berufsmaturität tun, besteht weiter. In Anbetracht der allgemeinen Bestrebungen, diese beiden Bildungswege gleichwertig zu fördern, wirkt diese Praxis allerdings nicht mehr zeitgemäss. Georges Pestalozzi-Seger Kein Assistenzbeitrag für Bezüger einer Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung Nach gut 2 Jahren liegen noch kaum grundsätzliche Gerichtsentscheide zu den strittigen Fragen im Zusammenhang mit dem Assistenzbeitrag vor. Immerhin hat das Bundesgericht in einem Urteil vom 15.4.2014 (140 V 113) eine erste Klärung getroffen: Bezüger und Bezügerinnen einer Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung haben keinen Anspruch auf einen Assistenzbeitrag der IV. Dieses Urteil musste aufgrund des klaren Wortlauts von Art. 42quater Abs. 1 IVG, der Ausführungen in der Botschaft zur Vorlage zur IVG-Revision 6a und der Debatte im Parlament erwartet werden. Störend am Entscheid ist allerdings dessen Begründung. Das Bundesgericht hat die Rüge, dass die unterschiedliche Behandlung von Krankheits- und Unfallversicherten das Rechtsgleichheitsgebot verletze, als haltlos bezeichnet, da UVG-Versicherte weit besser gestellt seien als Bezüger und Bezügerinnen einer Hilflosenentschädigung der IV. Das trifft zwar im Allgemeinen und insbesondere bei den Leistungen zur Abgeltung der Erwerbsunfähigkeit zu, nicht aber bezüglich der Leistungen zur Finanzierung der durch eine gesundheitliche Beeinträchtigung benötigten Assistenzleistungen im Bereich der Grundpflege und Haushaltsführung: Die Hilflosenentschädigungen der Unfallversicherung sind nur minim höher als jene der IV und dürfen erst noch anders als jene der IV wegen Selbstverschuldens gekürzt werden. Andere Leistungen zur Finanzierung von Grundpflege und Haushaltshilfe kennt das UVG nach Abschluss der medizinischen Behandlung nicht. Unfallversicherte fühlen sich deshalb zu Recht benachteiligt, wenn ihnen bei schwerer Hilflosigkeit zwar eine Hilflosenentschädigung von 199 Franken mehr im Monat bezahlt, dafür aber ein Assistenzbeitrag von mehreren tausend Franken im Monat vorenthalten wird. Die unbefriedigende Situation lässt sich allerdings nicht im Rahmen des IVG lösen, sondern muss im Rahmen einer Revision des Unfallversicherungsgesetzes gefun-den werden. Die laufenden Bemühungen um eine erste UVG- 6

Revision bieten dafür die richtige Gelegenheit. Dies umso mehr, weil die Unfallversicherung nicht unter finanziellem Druck steht und sich einen bescheidenen Leistungsausbau zugunsten von assistenzbedürftigen Opfern von Unfällen ohne weiteres leisten könnte. Georges Pestalozzi-Seger Hilflosenentschädigung im Sonderfall der besonders aufwändigen Pflege: Deutliche Verschärfung der Praxis Gemäss Art. 37 Abs. 3 Buchstabe c IVV haben Versicherte, die trotz der Abgabe von Hilfsmitteln einer durch das Gebrechen bedingten ständigen und besonders aufwändigen Pflege bedürfen, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades. Eine Pflege wird aus verschiedenen Gründen als besonders aufwändig qualifiziert: Sie ist es nach einem quantitativen Kriterium, wenn sie einen grossen Zeitaufwand erfordert oder besonders hohe Kosten verursacht. Sie ist es nach einem qualitativen Kriterium, wenn die pflegerischen Verrichtungen unter erschwerenden Umständen zu erfolgen haben, so z.b. wenn sie nachts anfallen. Während vielen Jahren ist gestützt auf entsprechende Weisungen des BSV (KSIH, Ziffern 8059, 8060 und 8063) Kindern mit einer cystischen Fibrose bis zum 15. Altersjahr jeweils eine solche Hilflosenentschädigung ausgerichtet worden: Solche Kinder benötigen täglich in unterschiedlichem Ausmass pflegerische und therapeutische Hilfestellungen in beträchtlichem Ausmass von in der Regel 1-3 Stunden täglich. Es galt gewissermassen die Vermutung, dass die mit der Diagnose einhergehende Pflege das Kriterium des besonderen Aufwandes erfülle. Von dieser Praxis sind vorerst einzelne und dann immer mehr IV-Stellen nach und nach abgewichen und haben ihre Praxis verschärft. Diese Verschärfung ist schliesslich durch ein Urteil des Bundesgerichts vom 10.10.2013 (9C_384/2013) gestützt worden. Das Bundesgericht hat im Falle eines 3-jährigen an cystischer Fibrose leidenden Kindes den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung verneint, obschon der tägliche Pflegeaufwand 144 Minuten betrug: Bei einem solchen Aufwand müssten so das Bundesgericht noch qualitativ erschwerende Umstände hinzutreten, damit ein besonderer Aufwand bejaht werden könne; dieses qualitative Element sei im konkreten Fall nicht erfüllt gewesen, weshalb die abweisende Verfügung der IV-Stelle des Kantons Uri zu schützen sei. 7

Das BSV hat nun seine Weisungen den strengeren Kriterien per 1.1.2014 ebenfalls angepasst: In Ziffer 8058 KSIH wird neu festgehalten, dass ein täglicher Pflegeaufwand von mehr als 2 Stunden dann als besonders aufwändige Pflege zu qualifizieren sei, wenn erschwerende qualitative Momente mit zu berücksichtigen seien; bei einem täglichen Pflegeaufwand von mehr als 3 Stunden müsse mindestens ein qualitatives Moment (z.b. pflegerische Hilfeleistung bei Nacht) hinzukommen; erst ab einem täglichen Aufwand von 4 Stunden bedürfe es keines qualitativen Moments, um einen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung auszulösen. Im Weiteren halten die Weisungen fest, dass bei Versicherten mit cystischer Fibrose oder solchen, die sich einer Heimdialyse unterziehen müssen, ein Anspruch auf eine leichte Hilflosigkeit nicht mehr generell angenommen werden dürfe; soweit aus den Akten nicht ohne Weiteres hervorgehe, dass die Voraussetzungen erfüllt seien, müsse eine Abklärung vor Ort erfolgen (Ziffer 8059 und 8063 KSIH). Es muss leider befürchtet werden, dass mit diesen neu formulierten Kriterien ein Grossteil der betroffenen Familien ihren Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung verlieren resp. ihn gar nie mehr erwerben wird. Ob hier am richtigen Ort gespart wird, muss ernsthaft bezweifelt werden. Grotesk ist dabei, dass im Kreisschreiben des BSV gleichzeitig festgehalten wird, es sei darauf zu achten, dass sich die Intensität der Hilfeleistungen im Rahmen der verschiedenen für den Anspruch auf eine leichte Hilflosenentschädigung massgebenden Tatbeständen in einem gewissen Gleichgewicht halte (Ziffer 8058 KSIH). Nun ist es aber so, dass für eine Hilflosenentschädigung wegen Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung eine Dritthilfe im Umfang von durchschnittlich 2 Stunden pro Woche genügt. Beim Tatbestand der besonders aufwändigen Pflege wird demgegenüber ein Aufwand von täglich 4 resp. wöchentlich 28 Stunden vorausgesetzt, um dieselbe Hilflosenentschädigung auszulösen. Worin hier noch ein Gleichgewicht erblickt werden kann, ist unerfindlich. In einem neueren Urteil vom 17.7.2014 (8C_920/2013) hat das Bundesgericht zu entsprechender Kritik in der Beschwerdeschrift leider nicht Stellung nehmen wollen. Georges Pestalozzi-Seger 8