Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik. Teil I: Struktureller Aufbau keramischer Werkstoffe



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Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil I: Struktureller Aufbau keramischer Werkstoffe Jürgen G. Heinrich, unter Mitwirkung von Andre Bertram x n K 1 3 a D kt s r m t Vorlesungsmanuskript

Historisches Siegel der Bergakademie Clausthal, beruhend auf dem Clausthaler Bergamtssiegel aus dem Gründungsjahr 1775 2. Auflage, 2009

1. EINFÜHRUNG 1 2. ATOMARE STRUKTUREN 3 2.1 Atomaufbau und Periodensystem der Elemente 3 2.1.1 Atomare Elementarteilchen 3 2.1.2 Aufbau der Elektronenhülle 4 2.1.3 Periodensystem der Elemente 12 2.2 Interatomare Bindungen 15 2.2.1 Ionenbindung 18 2.2.2 Atombindung 22 2.2.3 Metallische Bindung 32 2.2.4 Zwischenmolekulare Bindungen 35 2.2.5 Grenzflächen- und Oberflächenbindungen 39 2.2.6 Bindung und Temperatur 42 2.2.7 Silikatische Bindung 42 2.3 Kristalline Festkörper 47 2.3.1 Kristallographische Grundlagen 47 2.3.1.1 Kugelpackungen 56 2.3.1.2 Raumgitter und Kristallsysteme 60 2.3.2 Kristallstrukturen 66 2.3.2.1 Oxidische Gitterstrukturen 66 2.3.2.2 Nichtoxidische Gitterstrukturen 75

2.3.2.3 Silikatstrukturen 90 2.3.2.3.1 Wichtige SiO 2 -Modifikationen 97 2.3.2.3.2 Wichtige Schichtsilikate 104 2.3.2.3.3 Weitere keramisch wichtige Silikate 120 2.3.2.3.4 Isotypie und Modellstrukturen 129 2.3.3 Polymorphie 132 2.3.4 Realstrukturen 137 2.3.4.1 Nulldimensionale Gitterstörungen 138 2.3.4.2 Eindimensionale Gitterstörungen 141 2.3.4.3 Zweidimensionale Gitterfehler 148 2.3.4.4 Oberflächen, Grenzflächen 154 3. THERMOCHEMIE 167 3.1 Thermodynamik 167 3.1.1 Keramische Anwendungsbeispiele 181 3.2 Phasengleichgewichte spezieller keramischer Systeme 196 3.2.1 Einstoffsysteme 196 3.2.2 Zweistoffsysteme 198 3.2.3 Dreistoffsysteme 204 3.2.4 Vier- und Fünfstoffsysteme 209 3.3 Kinetik 215 3.3.1 Sintern ohne flüssige Phase 215 3.3.2 Sintern mit flüssiger Phase 226

3.3.3 Drucksintern 231 3.3.4 Gas-Festkörper-Reaktionen 238 3.3.4.1 Reaktionen dichter Festkörper mit Gasen 239 3.3.4.2 Reaktionen poröser Festkörper mit Gasen 244 4. MIKROSTRUKTUR KERAMISCHER WERKSTOFFE 251 4.1 Verfahren zur Strukturuntersuchung 251 4.2 Keramische Gefüge 255 4.2.1 Silikatkeramik 259 4.2.1.1 Porzellan 259 4.2.2 Oxidkeramik 261 4.2.2.1 Aluminiumoxid, Al 2 O 3 261 4.2.2.2 Zirkonoxid, ZrO 2 263 4.2.2.3 Bariumtitanat, BaTiO 3 265 4.2.3 Feuerfeste Werkstoffe 265 4.2.4 Nichtoxidkeramik 269 4.2.4.1 Siliciumnitrid, Si 3 N 4 269 4.2.4.2 Siliciumcarbid, SiC 275 4.2.5 Verbundwerkstoffe 279 5. LITERATUR 283

1. Einführung 1 1. Einführung Unterschiedliche Eigenschaften keramischer, metallischer und polymerer Werkstoffe ergeben sich aus ihren verschiedenen atomaren Strukturen. Um das Verständnis hierfür zu erarbeiten, bilden die Kapitel Atomaufbau der Elemente, Interatomare Bindungen und Kristallstrukturen den Anfang dieses Vorlesungsmanuskripts. Wegen ihrer hohen Schmelz- bzw. Zersetzungstemperaturen werden keramische Bauteile nicht durch Schmelzprozesse, sondern durch Sintern - eine Temperaturbehandlung von Pulverformkörpern weit unterhalb dieser Temperaturen - hergestellt. Die dabei ablaufenden Reaktionen lassen sich aufgrund thermodynamischer Überlegungen vorhersagen, wobei Gleichgewichtsbedingungen vorausgesetzt werden. Die hierfür notwendigen grundlegenden Kenntnisse werden in den Kapiteln Thermodynamik und Phasengleichgewichte vermittelt. Da sich in der Praxis selten Gleichgewichtsbedingungen einstellen, werden die zeitabhängigen Vorgänge im Kapitel Kinetik betrachtet. All die hier beschriebenen Vorgänge wirken sich auf die Mikrostruktur aus, deren Charakteristika am Ende dieses Vorlesungsmanuskripts besprochen werden. Die Mikrostruktur beeinflusst die Eigenschaften keramischer Materialien. Diese Zusammenhänge werden im Vorlesungsmanuskript Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik. Teil II: Eigenschaften der Keramik diskutiert. Wesentliche Kapitel dieses Vorlesungsmanuskripts sind der zitierten Literatur entnommen. Textauszüge sind zum Teil wörtlich übernommen. Jürgen G. Heinrich Clausthal, 2003

2. Atomare Strukturen 3 2. Atomare Strukturen 2.1 Atomaufbau und Periodensystem der Elemente 2.1.1 Atomare Elementarteilchen Materie -sowohl natürlichen als auch synthetischen Ursprungs- läßt sich auf 105 verschiedene chemische Grundstoffe, die sog. Elemente, zurückführen. Jede Elementsubstanz besteht aus einer für sie typischen Atomsorte. Bekanntlich setzen sich alle Atome in recht komplizierter Weise aus drei verschiedenen Elementarteilchen, den Elektronen, Protonen und Neutronen, zusammen. Jede Atomsorte unterscheidet sich von einer anderen nur durch eine abweichende Zahl dieser Elementarteilchen. Die Atome der Elemente 1 bis 105 enthalten außer einer gewissen Anzahl von Neutronen jeweils 1 bis 105 Protonen und ebenso viele Elektronen. Die Protonenzahl dient als Ordnungszahl der Elemente. Neben diesen klassischen Elementarteilchen gibt es weitere, meist instabile Elementarteilchen wie Positronen, Mesonen oder Hyperonen. Elektronen tragen eine negative Elementarladung, Protonen dagegen eine positive. Neutronen verhalten sich elektrisch neutral. Elektronen besitzen eine sehr geringe Masse, sie beträgt nur den etwa zweitausendsten Teil der Masse eines Protons oder eines Neutrons. Die Elementarteilchen zeigen innerhalb eines Atoms eine ungewöhnliche Anordnung. Die die eigentliche atomare Materie tragenden Protonen und Neutronen sind in einem außerordentlich dicht gepackten Kern konzentriert, der um einen Faktor 10-4 bis 10-5 kleiner als das eigentliche Atom ist. Die negativ geladenen Elektronen umgeben hüllenartig den Kern und bilden die äußere Begrenzung des Atoms. Würden die Größenverhältnisse von Atom und Atomkern in vorstellbare Dimensionen übertragen, so entspräche einem Kerndurchmesser von 1 cm ein Atomdurchmesser von 100 bis 1000 m. Die Packungsdichte innerhalb eines Atoms ist damit geringer als in unserem Planetensystem, wenn der Atomkern mit der Sonne und die Elektronen mit den die Sonne umgebenden Planeten verglichen werden. Da ein Atom immer die gleiche Zahl positiver Protonen im Kern und negativer Elektronen in der Hülle enthält, erweist es sich nach außen hin elektrisch neutral und zeigt in einem Feld keine nach außen erkennbaren Reaktionen. Verliert ein Atom ein oder mehrere Elektronen, so wird es zu einem ein- bzw. mehrwertig positiv geladenen Ion, nimmt es hingegen zusätzlich Elektronen auf, so entsteht ein entsprechend negativ geladenes Ion. Positive Ionen (Kationen) bewegen sich in einem elektrischen Feld zur negativen Elektrode (Kathode) hin, negative

4 2.1 Atomaufbau und Periodensystem der Elemente Ionen (Anionen) zur positiven Elektrode (Anode). Gibt ein Atom bei einer Reaktion Elektronen ab, so handelt es sich um eine Oxidation; die Aufnahme von Elektronen bedeutet dagegen eine Reduktion. 2.1.2 Aufbau der Elektronenhülle Die von Elektronen besetzbaren Energieniveaus können als Elektronenschalen betrachtet werden, wobei Schalen mit einem geringeren Durchmesser, d.h. geringerem Kernabstand, energieärmere, stabilere Zustände darstellen. Die verschiedenen Schalen werden K, L, M...Q oder n = 1, 2, 3...7 bezeichnet. Jede Schale n hält insgesamt 2n 2 erlaubte Elektronenplätze bereit, jeder Elektronenplatz kann mit Hilfe von vier Quantenzahlen eindeutig beschrieben werden. Man unterscheidet die Hauptquantenzahl n, die Nebenquantenzahl l (die nur ganzzahlige Werte von 0 bis n - 1 durchlaufen darf), die magnetische Quantenzahl m l (die nur ganzzahlige Werte zwischen + l und - l annimmt) und die Spinquantenzahl m s (die entweder den Wert +½ oder -½ hat). Die Hauptquantenzahl bestimmt das Hauptenergieniveau des betreffenden Elektrons (n = 1, 2, 3 bis 7). Die Neben- oder Orbitalquantenzahl gibt das Unterniveau eines Elektrons innerhalb des Hauptenergieniveaus an. Sie kennzeichnet in etwa die räumliche Verteilung seiner Ladung (Elektronendichteverteilung, Orbitale). Den Nebenquantenzahlen entsprechen die Bezeichnungen s, p, d, f (l = 0: s-elektronen, l = 1: p-elektronen, l = 2: d- Elektronen und l = 3: f-elektronen). Demnach wird beispielsweise ein Elektron mit n = 2 und l = 0 als ein 2s-Elektron und ein Elektron mit n = 3 und l = 2 als ein 3d-Elektron bezeichnet. Die Magnetquantenzahl charakterisiert das Verhalten des Elektrons im magnetischen Feld. Über sie läßt sich die Zahl der Orbitale bei gegebenem l berechnen: s-elektronen: m l = 0 1 Orbital p-elektronen: m l = -1, 0, +1 3 Orbitale d-elektronen: m l = -2, -1, 0, +1, +2 5 Orbitale f-elektronen: m l = -3, -2, -1, 0, +1, +2, +3 7 Orbitale

2. Atomare Strukturen 5 Die Spinquantenzahl wird als mechanischer Drehimpuls des Elektrons gedeutet. Das Elektron führt demnach eine Eigendrehung aus (im Uhrzeigersinn oder im Gegenuhrzeigersinn), die auch mit einem magnetischen Moment verbunden ist. Die Vorzeichen der Spinquantenzahlen geben den Richtungssinn des Drehimpulses an. Besetzungsmöglichkeiten der Elektronen in der Atomhülle (nach H. Lindner) [2] Abb. 2.1.1

6 2.1 Atomaufbau und Periodensystem der Elemente Die nach diesen Gesetzmäßigkeiten gegebene Aufgliederung der Elektronenhülle in mögliche, von den Elektronen besetzbare Zustände zeigt Abb. 2.1.1. Aus ihm ist ersichtlich, daß die Anzahl der Energieniveaus mit der Hauptquantenzahl n zunimmt. Um den Aufbau der Hülle eines bestimmten Atoms zu erfahren, muß die durch die Ordnungszahl Z gegebene Anzahl der Elektronen nach dem Pauli-Prinzip auf diese Energieniveaus verteilt werden. Das Pauli-Prinzip besagt, daß in einem Atom oder Atomverband (z.b. auch einem Metall) zwei Elektronen niemals in allen vier Quantenzahlen übereinstimmen dürfen. Auf Abb. 2.1.1 bezogen heißt das, daß jeder in der äußersten rechten Spalte angedeutete Zustand nur durch ein einziges Elektron besetzt werden darf. Zum vollständigen energetischen Modell der Elektronenhülle gelangt man, wenn für jede der in Abb. 2.1.1 angeführten Besetzungsmöglichkeiten der Energiewert angegeben wird. Dabei gilt die Vereinbarung, daß einem Elektron, das gerade die Atomhülle verlassen kann, der Energiewert Null zugeordnet wird und Elektronen, die der Atomhülle angehören, negative Energiewerte haben. Der jedem Elektron eigene Wert kennzeichnet die Energie, die aufgebracht werden muß, um das Elektron aus der Atomhülle zu entfernen. Im Falle der die Wertigkeit charakterisierenden Elektronen ist es die Ionisierungsenergie. Zwei solcher experimentell gewonnenen Energieniveauschemata sind in Abb. 2.1.2 aufgeführt. Es ist zu erkennen, daß bestimmte der in Abb. 2.1.1 angegebenen Besetzungsmöglichkeiten denselben Energiewert annehmen. Die erlaubten Elektronenplätze innerhalb der verschiedenen Elektronenschalen sind durch eine bestimmte räumliche Form und Ausrichtung gekennzeichnet. Solche Elektronenzustände werden als Orbitale bezeichnet. Orbitale sind mit dreidimensionalen, stehenden Wellensystemen gleichzusetzen, in denen die elektronischen Ladungswolken wellenförmige Bewegungen vollführen. Für die Veranschaulichung der Orbitale ist die Vorstellung einer diffusen Wolke, deren Abmessungen und Form für jedes Elektron festgelegt sind, treffend. Einfache Beispiele dazu (Wasserstoff-, Helium- und Lithiumatom) sind in Abb. 2.1.3 wiedergegeben. Das einfachste Atom ist Wasserstoff, das aus einem Proton und einem 1s-Elektron besteht. Das Elektron hat eine sphärische Symmetrie mit einer maximalen Wahrscheinlichkeitsverteilung bei einer radialen Entfernung von ungefähr 0,5 A o. In Lithium beträgt der durchschnittliche Radius des 2s-Elektrons ungefähr 3 A o, wobei der durchschnittliche Radius des Kerns nur 0,5 A o beträgt. Die Gruppe 1-Elemente sind durch ein äußeres s 1 -Orbital charakterisiert.

2. Atomare Strukturen 7 Beispiele von Energieniveauschemata der Atomhülle [2] Abb. 2.1.2 Energieniveauschema der Atomhülle von Lithium a) bzw. Aluminium b) Maßstabgerechte Bilder von Atomen [2] Abb. 2.1.3 a) Schnitt durch ein Wasserstoffatom; b) Schnitt durch ein Heliumatom; c) Schnitt durch ein Lithiumatom

8 2.1 Atomaufbau und Periodensystem der Elemente In Lithium (1s 2, 2s 1 ) kann das äußere Elektron sehr leicht vom inneren Kern entfernt werden, wodurch ein positiv geladenes Lithium-Ion entsteht. Die leichte Ionisation führt dazu, daß Lithium hochreaktiv und elektropositiv in chemischen Reaktionen ist. Das Entfernen eines zweiten Elektrons erfordert viel höhere Energie, so daß Lithium immer monovalent ist. Die verschiedenen Orbitale werden hinsichtlich ihrer Form als s-, p-, d- oder f-orbitale bezeichnet. Das s-orbital hat eine kugelsymmetrische Form und damit nur eine Ausrichtungsmöglichkeit. Die p-orbitale zeigen eine hantelförmige Form mit drei möglichen Ausrichtungen p x, p y und p z (Abb. 2.1.4), während die d-orbitale eine rosettenartige Form mit fünf verschiedenen Ausrichtungen aufweisen. Einzelne Elektronen sind bezüglich ihrer Ladung nicht als punktförmig anzusehen. Es liegt, bedingt durch äußere Feldeinwirkungen, stets eine gewisse Ladungsverteilung vor. Die Orbitale gehorchen ebenfalls nicht exakt angebbaren geometrischen Ortsfunktionen, etwa im Sinne von entsprechend ausgebildeten Elektronenbahnen mit der idealisierten Dicke Null. Vielmehr existiert auch innerhalb der Orbitale eine bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfene Ladungs- Feinverteilung. Ausbildungsformen von Elektronenorbitalen [1] Abb. 2.1.4 Am Beispiel des Stickstoffatoms ist die geometrische Anordnung der drei 2p-Elektronen in Abb. 2.1.5 dargestellt. Beim Stickstoffatom (Z = 7) lautet der Grundzustand 1s 2 2s 2 2p 3. Die drei Elektronen des 2p-Niveaus sind von einheitlicher Spinrichtung. Jedes dieser p- Elektronen beansprucht einen aus zwei eiförmigen Hälften bestehenden Doppelraum (Abb.

2. Atomare Strukturen 9 2.1.5). Im freien Stickstoffatom sind die drei Doppelräume nach den Achsen des rechtwinkligen Koordinatensystems angeordnet. Im Falle des Neons (Z = 10) wird eine sehr stabile Elektronenkonfiguration erreicht, indem die in Abb. 2.1.5 gezeichneten 2p-Zustände (Grundzustand 1s 2 2s 2 2p 6 ) aufgefüllt sind. Um ein Elektron aus dem 2p-Niveau herauszuspalten, d.h. das Atom zu ionisieren, bedarf es einer Energie von 21,6 ev. Im Vergleich dazu sind die Ionisierungsenergien des Lithiums mit 5,4 ev (Abb. 2.1.2) und des Kohlenstoffs mit 14,5 ev weitaus geringer. Eine hohe Ionisierungsenergie ist kennzeichnend für eine stabile Elektronenkonfiguration und erklärt die chemische Trägheit der Edelgase. Metalle haben eine niedrige Ionisierungsenergie und sind deshalb chemisch sehr reaktionsfreudig. Die drei 2p-Elektronen des Stickstoffatoms [2] Abb. 2.1.5 Die 1s- und 2s-Elektronenwolken wurden der Übersicht wegen nicht eingezeichnet In jeder Schale n gibt es, wie bereits erwähnt, n 2 mögliche Orbitale. Jedes Orbital kann höchstens von zwei Elektronen, mit jeweils unterschiedlichem Drehsinn der Eigenrotation (Spin), besetzt werden. Die K-Schale mit n = 1 enthält also nur das 1s-Orbital, das von höchstens zwei Elektronen belegt werden kann. In der L-Schale mit n = 2 existieren ein 2sund drei 2p-Orbitale für insgesamt acht Elektronen. Die M-Schale mit n = 3 verfügt über ein 3s-, drei 3p- und fünf 3d-Orbitale mit insgesamt 18 möglichen Elektronenplätzen. Für die N- Schale mit n = 4 ergeben sich ein 4s-, drei 4p, fünf 4d- und sieben 4f-Orbitale mit je zwei Elektronenplätzen, also insgesamt 32 mögliche Elektronenplätze. Die erwähnten vier Quantenzahlen beziehen sich auf die Hauptquantenzahl n, die Orbitalformen s, p usw., deren

10 2.1 Atomaufbau und Periodensystem der Elemente Ausrichtung und den Elektronenspin. Obwohl die Orbitale einer Hauptschale n einer gleichen Energiestufe angehören sollten, weichen sie bei Atomen mit mehreren Elektronen aufgrund gegenseitiger elektronischer Wechselwirkungen auch in ihrem Energiezustand ein wenig voneinander ab, wobei die s-zustände energieärmer als die p-zustände und diese energieärmer als die d-zustände sind. Diese Unterschiede verlieren sich jedoch, wenn die Atome untereinander Bindungen eingehen. So beteiligen sich s- und p-elektronen an Bindungsvorgängen in gleicher Weise. Zwischen den Hauptschalen können Überlappungen im Energieniveau auftreten. Bei vielen Elementen liegen die beiden 4s-Elektronen energetisch unterhalb der 3d-Elektronen und die 5s-Zustände unter den 4d-Elektronen. Der Aufbau der Elektronenhülle der einzelnen Elemente geht nun so vonstatten, daß die erlaubten Energiezustände von unten, d.h. mit den energieärmsten, damit stabilsten Zuständen beginnend, nacheinander besetzt werden. Hierbei werden Orbitale gleichen Energieniveaus zunächst nur mit einem Elektron gefüllt, um gegenseitige Wechselwirkungen möglichst gering zu halten. Erst wenn alle gleichartigen Orbitale einfach besetzt sind, erfolgt die Auffüllung mit zweiten Elektronen entgegengerichteten Spins. Dieses Aufbauprinzip ist für die ersten 54 Elemente in Abb. 2.1.6 schematisch dargestellt. Zur Bezeichnung der Elektronenstruktur eines Elementes gibt man die besetzten Elektronenorbitale in Kurzform an, beispielsweise für das Element Li: 1s 2, 2s 1, für das Element Al: 1s 2, 2s 2 2p 6, 3s 2 3p 1. Werden von den Elektronen eines Atoms nur die energieärmsten Orbitale besetzt, so befindet sich das Atom bzw. seine Elektronen in einem stabilen Zustand, dem sog. Grundzustand E 0. Die Elektronen können unter Aufnahme thermischer oder elektromagnetischer Energie (Absorption) in höhere, unbesetzte Energiezustände transportiert werden und nehmen dann einen energiereicheren, weniger stabilen, sog. angeregten Zustand E = E 0 + Δ E ein. Angeregte Elektronen fallen unter Abgabe thermischer oder elektromagnetischer Energie (Emission) wieder in niedrigere Energiezustände oder in den Grundzustand zurück (Abb. 2.1.7). Da für eine Elektronenanregung nur ganz bestimmte Energiestufen zur Verfügung stehen, werden bei der Bestrahlung einer Substanz mit einem kontinuierlichen Strahlungsspektrum je nach Bau der Elektronenhülle nur Strahlen ganz bestimmter Wellenlänge absorbiert und beim Rückgang in den Grundzustand emittiert. Die für bestimmte Substanzen charakteristischen Absorptions- und Emissionsspektren bilden u.a. die Grundlage für die Anwendung spektralanalytischer Verfahren.

2. Atomare Strukturen 11 Aufbauprinzip der ersten 54 Elemente [1] Abb. 2.1.6

12 2.1 Atomaufbau und Periodensystem der Elemente Energieabsorption und -emission von Elektronen im Grund- und im Anregungszustand [1] Abb. 2.1.7 2.1.3 Periodensystem der Elemente Die Bindungseigenschaften und damit das gesamte Eigenschaftsbild eines Elementes hängen entscheidend vom Besetzungsgrad seiner äußeren Elektronenschale ab. Bei den Außenelektronen handelt es sich nach Abb. 2.1.6 immer um s- und p-elektronen, so daß mit Ausnahme der ersten beiden Elemente H und He (n = 1) die äußere Schale einen Besetzungsgrad zwischen 1 (s 1 ) und 8 (s 2 p 6 ) aufweisen kann. Sobald eine Außenschale mit acht Elektronen vollständig besetzt ist, beginnt der Aufbau der nächsten Schale, erneut mit Elektronenbesetzungen von 1 bis 8. Damit müssen periodisch immer wieder Elemente auftreten, die in der Außenschale die gleiche Elektronenbesetzung vorweisen und somit ähnliche Eigenschaften besitzen. Als Beispiel sind die Elektronenstrukturen der Elemente in der fünften Hauptgruppe angegeben: N (7) : 1s 2, 2s 2 2p 3 P (15): 1s 2, 2s 2 2p 6, 3s 2 3p 3 As (33): 1s 2, 2s 2 2p 6, 3s 2 3p 6 3d 10, 4s 2 4p 3 Sb (51): 1s 2, 2s 2 2p 6, 3s 2 3p 6 3d 10, 4s 2 4p 6 4d 10, 5s 2 5p 3 Bi (83): 1s 2, 2s 2 2p 6, 3s 2 3p 6 3d 10, 4s 2 4p 6 4d 10 4f 14, 5s 2 5p 6 5d 10, 6s 2 6p 3

2. Atomare Strukturen 13 Alle Elemente lassen sich zunächst in Metalle oder Nichtmetalle einteilen. Einige Elemente, die Halbmetalle, tragen Eigenschaften beider Gruppen. Die Einteilung in Metalle, Halb- und Nichtmetalle kann nach der elektrischen Leitfähigkeit vorgenommen werden. Metalle besitzen eine vergleichsweise hohe elektrische Leitfähigkeit, die mit steigender Temperatur abnimmt; Halbmetalle sind halbleitend mit bei steigender Temperatur zunehmender Leitfähigkeit, und Nichtmetalle sind elektrische Isolatoren. Die Metalle stehen im Periodensystem links, sie enthalten in der Außenschale nur ein bis höchstens drei Elektronen. Sie geben diese Elektronen relativ leicht ab und bilden dann positive Ionen. Dieses Verhalten, die Außenelektronen unter Kationenbildung leicht abzugeben, nennt man elektropositiv. Zu den Metallen gehören auch die Übergangselemente, bei denen vor einem weiteren Ausbau der gerade begonnenen 4s- bzw. 5s-Außenschale mit entsprechenden 4p- bzw. 5p-Elektronen erst die zweitäußerste Schale der 3d- bzw. 4d-Elektronen vervollständigt wird, so daß die Elemente 21 (Sc) bis 30 (Zn) bzw. 39 (V) bis 48 (Cd) nur über zwei Außenelektronen 4s 2 bzw. 5s 2 verfügen. Die Energieunterschiede zwischen s- und d-elektronen sind bei ihnen verhältnismäßig gering, so daß d-elektronen durch Anregung leicht in den nächsten freien s- Zustand gebracht werden können oder s-elektronen auch ein d-orbital besetzen wie beispielsweise bei Cu (1s 2, 2s 2 2p 6, 3s 2 3p 6 3d 10, 4s 1 ). Bei einer Ionisierung der Übergangsmetalle werden zunächst die s-zustände frei. Ihre Ionen absorbieren daher durch Anregung von d-elektronen in den nächsthöheren s-zustand einzelne Frequenzen des sichtbaren Lichts und rufen bei nachfolgender Emission bestimmte Farbeffekte hervor. Als weitere Folge eines geringeren Energieunterschiedes zwischen s- und d-elektronen ergeben sich bei vielen Übergangsmetallen verschiedene Ionisierungs- oder Oxidationsstufen. So führt ein Entzug der beiden 4s-Elektronen bei Eisen zu Fe 2+ -Ionen, mit der zusätzlichen Abgabe eines 3d-Elektrons entstehen Fe 3+ -Ionen. Da die zahlreichen Übergangselemente zu den Metallen zählen, überwiegen die Metalle zahlenmäßig bei weitem. Sie machen etwa 75 Prozent aller Elemente aus. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß von den technisch interessanten Metallen sich die meisten gerade unter den Übergangselementen befinden. Der metallische Charakter der Elemente nimmt im Periodensystem innerhalb einer Periode von links nach rechts, d.h. von Gruppe zu Gruppe, ab, innerhalb einer Elementgruppe jedoch von oben nach unten, d.h. von Periode zu Periode, zu. Dies erklärt sich damit, daß die Außenelektronen mit wachsendem Durchmesser der Elektronenhülle weniger fest an den Kern gebunden sind und sich -wie für Metalle kennzeichnend- relativ leicht vom

14 2.1 Atomaufbau und Periodensystem der Elemente verbleibenden Atomrumpf trennen lassen. So erscheint am Ende der vierten Hauptgruppe, die mit den Elementen C und Si beginnt, das Metall Pb. Unter den Nichtmetallen stellen die Edelgase eine besondere Elementgruppe dar. Bei ihnen sind alle verfügbaren Außenelektronenorbitale einer Hauptschale vollständig gefüllt, ihre Außenschalen zeigen folgende Besetzungen: He: 1s 2, Ne: 2s 2 2p 6, Ar: 3s 2 3p 6, Kr: 4s 2 4p 6, Xe: 5s 2 5p 6, Rn: 6s 2 6p 6. Diesem Besetzungszustand kommt offenbar eine große energetische Stabilität zu. Hiervon zeugen einerseits eine hohe Ionisierungsenergie und andererseits die Beobachtung, daß Edelgase normalerweise Bindungen weder mit eigenen noch mit fremden Atomen eingehen.

2. Atomare Strukturen 15 2.2 Interatomare Bindungen Die Einteilung der Elemente in Metalle und Nichtmetalle richtet sich nach dem Bindungsverhalten ihrer Atome. Metallische oder nichtmetallische Eigenschaften können nicht an einem isolierten Atom, sondern immer nur am gebundenen Atomkollektiv festgestellt werden. Mit Ausnahme der Edelgase, deren Elektronenstruktur einem sehr stabilen Zustand entspricht, gibt es bei den übrigen Elementen unter Normalbedingungen keine einatomigen Substanzen. Vielmehr sucht jedes Atom artgleiche oder fremde Partner, um mit ihnen über interatomare Wechselwirkungen ihrer Außenelektronen einen stabileren Zustand zu erlangen. Das bei allen interatomaren Reaktionen erkennbare, gemeinsame Wechselwirkungsprinzip liegt wohl in dem Bestreben, die in den Einzelatomen vorhandene elektronische Energie so auf die Wechselwirkungspartner zu verteilen, daß die Atome dann über eine den Edelgasen ähnliche Elektronenstruktur verfügen. Hierbei ändert sich der energetische Zustand der Elektronen, so daß die Wechselwirkungsreaktion mit einer Energieänderung (Reaktionsenergie) verbunden ist. Bedingt durch den bei den einzelnen Elementen andersartigen Aufbau der Außenschale, realisiert jede Atomsorte dieses Streben nach einem stabilen Energiezustand auf eine eigene, individuelle Art. Dazu werden -teils gravierende- Veränderungen der Elektronenstruktur der Einzelatome erforderlich. Diese die Wechselwirkung vorbereitenden Veränderungen verlangen aber eine gewisse aktivierende Energiezufuhr, die aus dem Energiegewinn bei der Reaktion gedeckt werden muß. Es ist nun von entscheidender Bedeutung, daß als Folge der interatomaren, elektronischen Wechselwirkungen anziehende und abstoßende Kraftwirkungen zwischen den miteinander reagierenden Atomen auftreten. Anziehende Kraftwirkungen resultieren aus der gegenseitigen Anziehung von negativ geladenen Elektronenhüllen und positiv geladenen Atomkernen. Die Anziehung besteht sowohl zwischen Elektronenhüllen und eigenem Atomkern als auch zwischen Elektronenhülle und den Kernen der Partneratome. Abstoßungskräfte ergeben sich hingegen sowohl aus der Abstoßung zwischen den gleichgeladenen Elektronenhüllen als auch aus der Abstoßung zwischen den gleichgeladenen Atomkernen der Partneratome. Die Abstoßungskräfte nehmen mit Verminderung des interatomaren Abstandes sehr stark zu, weil es dann zu beträchtlichen Überlappungen der Elektronenhüllen und zu starken Kernabstoßwirkungen kommt. Die Überlagerung von Anziehungs- und Abstoßungskräften führt zu einer Bindungswirkung zwischen den miteinander wechselwirkenden Atomen (Abb. 2.2.1). Zwischen zwei gebundenen Atomen stellt sich demnach im Gleichgewicht derjenige Atomabstand r 0 ein, bei dem sich

16 2.2 Interatomare Bindungen Abstoßungs- und Anziehungskräfte ausgleichen. Eine Verringerung des Atomabstandes r 0 hat eine rückstellende Abstoßungskraft, eine Vergrößerung von r 0 hat eine rückstellende Anziehungskraft zur Folge. Anziehungs- und Abstoßungskräfte zwischen benachbarten Atomen [2] Abb. 2.2.1 a) allgemeine Form anziehender und abstoßender Kräfte zwischen zwei Atomen im Abstand r; b) Form der daraus resultierenden Energiekurve Aus der Kraft-Abstandskurve läßt sich die Energiekurve als Produkt von Kraft und Abstand über

2. Atomare Strukturen 17 E = ( Pan + Pab ) dr (2.2.1) berechnen. An der Stelle r = r 0 (de/dr = 0), wo P an = -P ab ist, durchläuft die Energie ein Minimum. Der Ort des Minimums ist der, den das Nachbaratom in der Gleichgewichtslage einnimmt. E min ist die Dissoziationsenergie, die aufgebracht werden muß, um zwei Atome zu trennen (dissoziieren). Obgleich die einzelnen Bindungen im Detail auf recht unterschiedliche Weise zustande kommen können, heben sich doch drei voneinander unterscheidbare Bindungstypen heraus, zwischen denen allerdings vielfältige Mischformen auftreten können. Die Bindungen zwischen Metallatomen werden als metallische, die zwischen Nichtmetallatomen als kovalente und die zwischen Metall- und Nichtmetallatomen als ionische Bindung bezeichnet. Bindungen können durch thermische (z.b. Schmelzen) oder durch mechanische Energie (z.b. Bruch) gelöst werden. Die zur Bindungslösung erforderliche Energie entspricht der Bindungsenergie. Metall-, Kovalenz- und Ionenbindungen weisen Bindungsenergien auf, die meist sehr viel mehr als 100 kj/mol betragen. Sie werden als Hauptvalenz- oder Primärbindungen bezeichnet. Mit der Bildung von Primärbindungen haben die gebundenen Atome einen stabilen Zustand erreicht, in dem sie die hohe Reaktivität des bindungslosen atomaren Zustandes durch entsprechende Ladungsumverteilungen weitgehend eingebüßt haben. Die neue Ladungsverteilung bleibt jedoch immer bis zu einem gewissen Grad unvollkommen, so daß auch in primär gebundenen Atomverbänden aus je nach Bindungsart unterschiedlichen Gründen eine bestimmte Restbindungsfähigkeit zurückbleibt. Hieraus resultieren zusätzliche Bindungen, deren Bindungsenergie allerdings um eine bis drei Größenordnungen niedriger liegt. Sie werden Nebenvalenz- oder Sekundärbindungen genannt. Selbst in Edelgasatomen liegt keine absolut ideale elektronische Ladungsanordnung vor, was auch bei ihnen zur Ausbildung sehr schwacher interatomarer Sekundärbindungen führt. Eine besondere Störung der Bindungsverhältnisse tritt ein, wenn ein primärer Bindungszustand abrupt endet, wie es an den Grenz- und Oberflächen atomarer Verbände der Fall ist. Dies ruft spezielle Grenz- und Oberflächenbindungskräfte hervor.

18 2.2 Interatomare Bindungen 2.2.1 Ionenbindung Metall- und Nichtmetallatome gehen miteinander eine Ionenbindung ein. Die Ionenbindung ist in ihrer Wirkungsweise relativ leicht zu verstehen. Die Metallatome erreichen als elektropositive Elemente den edelgasähnlichen Zustand durch Abgabe ihrer wenigen Außenelektronen und entsprechende Ionisierung. Die elektronegativen Nichtmetallatome nehmen die Elektronen ebenfalls unter Ionenbildung auf und besetzen dabei ihre wenigen freien Außenelektronenplätze. Dieser Vorgang vollzieht sich bei der Annäherung von Metallund Nichtmetallatomen und der Überlappung ihrer äußeren Elektronenorbitale. Ionische Bindung von Metall- und Nichtmetallatomen [1] Abb. 2.2.2 In Abb. 2.2.2 ist der Elektronenübergang von einem Na-Atom auf ein Cl-Atom schematisch dargestellt, die am Na-Atom zu leistende Ionisierungsarbeit wird von der freiwerdenden Bindungsenergie aufgebracht. Das Na + -Ion weist eine Elektronenstruktur wie das Edelgas Neon auf, die Elektronenstruktur des Cl - -Ions entspricht der des Edelgases Argon. Aus den reaktionsfreudigen Atomen Na und Cl sind reaktionsträge Na + - und Cl - -Ionen geworden. Die Bindungskraft läßt sich in einfacher Weise mit der elektrostatischen Anziehungswirkung ungleich geladener Teilchen erklären. Sie beschränkt sich nicht auf die Bindung eines einzelnen Na + -Ions mit einem bestimmten Cl - -Ion, sondern besteht gleichmäßig sowohl zwischen einem positiven Ion (Kation) und allen banachbarten negativen Ionen (Anionen) als

2. Atomare Strukturen 19 auch zwischen einem negativen Ion und seinen positiven Nachbarionen (Abb. 2.2.3). Die Ionenbindung stellt demnach eine ungerichtete Bindung dar. Anordnung ionischer Bindungspartner im festen Zustand [1] Abb. 2.2.3 Am Beispiel der Verbindung MgO wird deutlich, daß die räumliche Zusammenlagerung der Atome durch gittergeometrische Gesichtspunkte bestimmt wird (Abb. 2.2.4). Dreidimensionale Anordnung (Struktur) von MgO [2] Abb. 2.2.4 Das zweifach positive Mg-Ion hat gleichstarke Bindungskräfte zu allen sechs benachbarten zweifach negativen O-Ionen

20 2.2 Interatomare Bindungen Der bei der Ionenbindung erfolgte vollständige Elektronenübergang läßt sich leicht nachweisen. Beim thermischen oder elektrolytischen Lösen ionischer Verbindungen entstehen elektrisch leitende Schmelzen bzw. Flüssigkeiten (Elektrolyte), deren Leitvermögen auf die Existenz beweglicher, geladener Teilchen (Ionen) zurückzuführen ist. Ionenbindungen bilden sich zwischen ein- bis dreiwertigen Kationen und ein bis dreiwertigen Anionen aus. Als Beispiele seien Li + F -, Mg 2+ Cl - 2, Ca 2+ O 2-, Fe 3+ 2O 2-3 genannt. Die im allgemeinen kleineren Kationen ziehen mit abnehmender Größe und zunehmender Ladung die große Elektronenhülle der Anionen an sich heran, der Bindungscharakter verschiebt sich dadurch in Richtung einer Kovalenzbindung. Dies verursacht u.a. eine verringerte Lösbarkeit von ionischen Substanzen in polaren Lösungsmitteln wie H 2 O. Während in der Verbindung Al 3+ 2O 2-3 noch der ionische Bindungsanteil vorherrscht, überwiegt in der Verbindung Si 4+ O 2-2 bereits ein kovalenter Bindungsmechanismus. Zur Erklärung der Ionenbindung [2] Abb. 2.2.5 a) Energieniveauschema des einzelnen Magnesium- und Sauerstoffatoms b) Überlappung der Potentiale und Energiegewinnung durch Übergang der beiden 3s-Elektronen vom Mg in den 2p-Zustand von O c) Entstehung des Gleichgewichtsabstandes r 0 der gebildeten Ionen in der MgO-Struktur

2. Atomare Strukturen 21 In Abb. 2.2.5 sind die Energieniveaus der Elektronen in einem freien Magnesiumatom und in einem freien Sauerstoffatom wiedergegeben. Das -räumlich gesehen- trichterförmige Gebilde stellt den Verlauf des Potentials dar. Es ist die örtliche Begrenzung des Aufenthaltsraumes der Elektronen, die sich auf den erlaubten Energieniveaus befinden. Außerhalb des Potentialtrichters existiert nur eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit für den Aufenthalt von Elektronen. Bei der Bindungsbildung Mg-O überlappen sich die Begrenzungspotentiale beider Atome. Ihr Summenpotential liegt jetzt niedriger als das 3s-Niveau des Magnesiums. Durch Abgabe zweier Elektronen an das Sauerstoffatom geht das Magnesiumatom sofort in den Bindungszustand 2p 6 über, und Sauerstoff, dessen Grundzustand bisher 2p 4 lautete, wird ebenfalls mit 2p 6 besetzt. Wie aus Abb. 2.2.5 ersichtlich, entstehen infolge der Bindungsbildung ein doppelt positiv geladenes Magnesiumion und ein doppelt negativ geladenes Sauerstoffatom. Der quantenmechanische Bindungsmechanismus reduziert sich hier auf eine nahezu reine Coulombsche Anziehung (elektrostatische Anziehung) zwischen den entgegengesetzt geladenen Ionen. Deshalb auch die Bezeichnung Ionenbindung. Die gleichzeitig wirkenden Abstoßungskräfte rühren daher, daß bei weiterer Annäherung sich die inneren Elektronenwolken beider Atome durchdringen müssen. Dies bewirkt eine Abstoßungskraft, die mit der Verkleinerung des Abstandes sehr schnell ansteigt. Damit ist die qualitative Gültigkeit von Abb. 2.2.1 für diesen Bindungstyp aufgezeigt. Die übrigbleibende Elektronenkonfiguration entspricht für beide Atome der des Elementes Neon, wohlgemerkt aber mit unterschiedlichen Kernladungszahlen. Da bei der Ionenbindung keine freien Elektronen, d.h. Elektronen die dem gesamten Gitterverband angehören, auftreten, sind alle Stoffe mit vorherrschender Ionenbindung schlechte Leiter für die Elektrizität und Wärme, sie sind diamagnetisch und im sichtbaren Licht durchsichtig. Weitgehende Ionenbindung tritt nur zwischen einfach bis dreifach geladenen Ionen auf. Höher geladene Kationen verstärken, mit ihrer größeren Fähigkeit die Anionen zu polarisieren, den kovalenten Bindungsanteil (Anteil der Atombindung). Gitterbaufehler der Ionenkristalle unterliegen der Forderung nach Ladungsneutralität. Es müssen immer ebensoviele Kationenladungen wie Anionenladungen davon betroffen sein, d.h. fehlen oder auf Zwischengitterplätzen sitzen oder bei der Verformung gleichzeitig durch das Gitter wandern. Bei dicht gepackten Ionenkristallen ist dennoch eine metallartig leichte Verformung möglich; komplizierte, komplexe Ionengitter sind aber extrem schlecht verformbar und brechen längs glatter Spaltflächen.

22 2.2 Interatomare Bindungen 2.2.2 Atombindung Nichtmetalle bestehen aus Atomen, deren äußere Elektronenschale schon zu einem guten Teil aufgebaut ist und denen an der vollständigen Besetzung der Außenschalen nur noch wenige Elektronen fehlen. Bei ihnen ist also im Gegensatz zu den Metallen das Bestreben einer zusätzlichen Elektronenaufnahme wesentlich stärker ausgeprägt als das einer Elektronenabgabe. Sie verhalten sich elektronegativ. Zwei elektronegative Bindungspartner, die beide nicht zur Abgabe von Elektronen bereit sind, können nur dann in einen edelgasähnlichen Zustand gelangen, wenn sie bei ihrer Wechselwirkung Elektronenpaare bilden, die dann der Elektronenstruktur beider Partner angehören. Jedes Elektronenpaar stellt ein neues, gemeinsames Bindungsorbital dar, zu dem sich zwei jeweils einfach besetzte Atomorbitale durch ihre Überlappung umwandeln. Kovalente Bindung zwischen Nichtmetallionen Abb. 2.2.6 Abb. 2.2.6 macht den Bindungsmechanismus am Beispiel Wasserstoff deutlich. Kovalente Elektronenpaar-Bindungen führen wie im Fall des Wasserstoffs H 2 oft zu individuellen, eindeutig abgrenzbaren Atomverbänden, die von einer jeweils feststehenden und angebbaren Zahl von Atomen aufgebaut werden. Solche Verbände werden Moleküle genannt. Werden zwei Wasserstoffatome einander angenähert, so durchdringen sich die beiden 1s- Elektronenwolken (1s-Orbitale). Die quantentheoretische Berechnung liefert einen energetisch günstigen Zustand für den Fall, daß beide 1s-Elektronen eine einzige

2. Atomare Strukturen 23 Elektronenwolke bilden (Abb. 2.2.7), in der die beiden Elektronen einen entgegengesetzten Spin haben. Die Ladungsdichte der bindenden Elektronenwolke ist zwischen beiden Atomkernen am größten, so daß im Gegensatz zur Ionenbindung eine gerichtete Bindung entsteht. Die Atombindung am Beispiel des Wasserstoffmoleküls [2] Abb. 2.2.7 Atombindung im Wasserstoffmolekül infolge der Durchdringung der beiden 1s-Elektronenwolken (1s-Orbitale) Nach dem Pauli-Prinzip finden beide 1s-Elektronen im tiefsten Energieniveau des Moleküls (Hauptquantenzahl n = 1) Platz und liefern den für die Bindung notwendigen Energiegewinn. Die potentielle Energie eines Elektrons ist 0, wenn es weit weg vom Proton angeordnet ist und weist ein Minimum bei jedem Proton auf. Entlang einer Linie zwischen den Protonen nimmt die potentielle Energie des Elektrons zu, aber sie bleibt immer niedriger als die eines freien Elektrons (Abb. 2.2.8). Dadurch ergibt sich eine größere Wahrscheinlichkeit, ein Elektron entlang einer Linie zwischen den Protonen zu finden. Die stabilste Anordnung ist daher eine hantelförmige Verteilung der Elektronen.

24 2.2 Interatomare Bindungen Potentielle Energie und Elektronendichte in einem Wasserstoffmolekül [4] Abb. 2.2.8 a) Potentielle Energie b) sowie c) Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Elektronen auf einer Linie zwischen den Protonen eines Wasserstoffatoms Auch innerhalb komplex aufgebauter Moleküle wirkt die Atombindung und bestimmt den Molekülaufbau, wie das in Abb. 2.2.9 am Beispiel des Ammoniaks deutlich wird. Das Stickstoffatom mit seinen keulenförmigen Elektronendichteverteilungen (Orbitalen) tritt mit den 1s-Orbitalen der 3 Wasserstoffatome derart in Wechselwirkung, daß sie sich in bestimmter Weise überlappen und unter Energiegewinn das NH 3 -Molekül bilden.

2. Atomare Strukturen 25 Schematische Darstellung der Atombindung in NH 3 durch Überlappung von Atomorbitalen [2] Abb. 2.2.9 Besteht eine kovalente Bindung aus gleichen Bindungspartnern, so sind sie in der Nutzung der von ihnen gebildeten, gemeinsamen Elektronenpaare gleichrangig. Die Bindung weist dann eine gleichmäßige Ladungsverteilung auf, sie ist unpolar. Sind an einer solchen Bindung jedoch ungleiche Paare beteiligt, so ist im allgemeinen eine unterschiedliche Elektronegativität der Partner zu erwarten, die eine Verschiebung der gemeinsamen Ladungswolke in Richtung des elektronegativeren Atoms zur Folge hat. Die Bindung erhält beim elektronegativeren Atom eine negative Partialladung δ -, beim weniger elektronegativen Atom eine entsprechend positive Teilladung δ +. Es liegt eine polare Kovalenzbindung vor (Abb. 2.2.10). Anhand der Differenz der Elektronegativitäten der Bindungspartner kann eine Abschätzung über das Ausmaß der Bindungspolarisierung vorgenommen werden. Mit zunehmender Polarisierung ändert sich der Charakter einer kovalenten Bindung, über eine polare kovalente Bindung bis hin zur Ionenbindung (Abb. 2.2.11).

26 2.2 Interatomare Bindungen Polare Kovalenzbindung zwischen ungleichen Bindungspartnern [1] Abb. 2.2.10 Die Polarität kovalenter Bindungen muß sich nicht zwangsläufig auf einen Molekülverband übertragen. Sind die polaren Bindungen im Molekülverband symmetrisch verteilt, so heben sich ihre polarisierenden Wirkungen auf. Im Fall einer unsymmetrischen Anordnung polarer Bindungen entsteht aber auch ein polares Molekül, das eine Dipolwirkung ausübt. Beispiele für polare Moleküle sind HCl, H 2 O, NH 3, C 6 H 5 OH, während das symmetrisch gebaute CH 4 - Molekül unpolar ist.

2. Atomare Strukturen 27 Elektronegativität und ionarer Bindungscharakter [3] Abb. 2.2.11 Das Bindungsverhalten der Kohlenstoffatome hat für die gesamte organische Chemie und damit für die Werkstoffgruppe Kunststoffe eine überragende Bedeutung. Es ist gleichzeitig ein Musterbeispiel dafür, welche Veränderungen sich in der Elektronenstruktur eines Atoms ereignen können, wenn es gilt, den wenig stabilen Zustand des Einzelatoms in den stabileren Zustand eines gebundenen Atoms mit edelgasähnlicher Elektronenbesetzung einzutauschen. C-Atome verfügen entsprechend ihrer Ordnungszahl über sechs Elektronen in der Schalenbesetzung 1s 2, 2s 2 2p 2. Die beiden p-elektronen gehören zwei verschiedenen Orbitalen an, so daß die Elektronenbesetzung korrekter mit 1s 2, 2s 2 2p 1 X 2p 1 Y 2p 0 Z zu beschreiben ist. Da nur jeweils einfach besetzte Elektronenorbitale durch Überlappung kovalente Elektronenpaare bilden können und dies beim Kohlenstoff nur für die beiden p 1 - und p 1 - Orbitale zutrifft, X Y müßte sich C in kovalenten Bindungen eigentlich zweiwertig verhalten. Tatsächlich aber tritt Kohlenstoff vierwertig auf, nur über vier gemeinsame Elektronenpaare ist ja der edelgasähnliche Zustand erreichbar. Hierzu werden die beiden 2s 2 -Elektronen voneinander

28 2.2 Interatomare Bindungen gelöst und eines von ihnen unter Energieaufwand in das 2p z -Orbital gehoben. Es entsteht ein angeregtes C-Atom mit einer Elektronenstruktur 1s 2, 2s 1 2p 1 X 2p 1 Y 2p 1 Z und vier bindungsfähigen Orbitalen. Obwohl die Überlappungs- und die Bindungsfähigkeiten von s- und p-orbitalen nicht gleichartig sind, existieren dennoch in einem CH 4 -Molekül und entsprechenden anderen Verbindungen immer nur gleichwertige C-H-Verbindungen (Abb. 2.2.12). Die Atombindung am Beispiel Kohlenstoff [2] Abb. 2.2.12 a) sp 3 -Hybridorbital (Überlagerungsorbital) des Kohlenstoffs; b) Atombindung im CH 4 -Molekül Vor dem Eingehen der Bindungen wandeln sich nämlich das eine s- und die drei p-orbitale in vier neue, völlig gleichwertige Orbitale q 1, q 2, q 3 und q 4 um. Dieser Vorgang wird Hybridisierung, der vorliegende spezielle Fall eine sp 3 -Hybridisierung genannt: 2s 1, 2p 1 X 2p 1 Y 2p 1 Z 2q 1 1 2q 1 2 2q 1 3 2q 1 4. Die vier q-orbitale stehen etwa senkrecht zueinander und haben die Form einseitig langgestreckter p-orbitale. Jedes q-hybridorbital bildet im CH 4 mit dem 1s 1 -Orbital eines H- Atoms ein kovalentes Elektronenpaar, das als σ-bindung bezeichnet wird. Hierbei erweist sich die Bindung von σ-elektronen stärker als die von s- und p-elektronen. Die Ladung einer solchen σ-bindung ist um die Bindungsachse rotationssymmetrisch verteilt. Dies läßt

2. Atomare Strukturen 29 Drehbewegungen der Atome um ihre Bindungsachse zu. Die Abstoßungswirkung der H- Atome führt zu einer Vergrößerung des Bindungswinkels zwischen zwei σ-bindungen, so daß die Anordnung von vier H-Atomen zum zentralen C-Atom nicht rechtwinklig, sondern mit einem Bindungswinkel von 109,5, in Form eines Tetraeders, erfolgt (Abb. 2.2.13). Bindungsverhältnisse in wichtigen Verbindungen des Kohlenstoffs [1] Abb. 2.2.13 Auch C-Atome binden sich untereinander durch eine σ-bindung. Werden dabei jedoch nur drei q-orbitale in je eine σ-bindung umgesetzt, so findet eine sp 2 -Hybridisierung statt, und es bleibt ein nicht hybridisiertes, hantelförmiges p-orbital zurück. Mit der Bindung der C-Atome durch die σ-bindung tauchen dann ihre nicht hybridisierten p-orbitalen ineinander, und die Kugeln der beiden hantelförmigen p-orbitale verschmelzen teils oberhalb und teils unterhalb der σ-bindungsachse zu einem gemeinsamen, sog. π-orbital (Abb. 2.2.13). Die π-elektronen verstärken die σ-bindung beträchtlich. Es entsteht eine sog. Kohlenstoff-Doppelbindung, die gegenüber der einfachen σ-bindung eine etwa 1,8-fache Bindungsenergie enthält. Eine Kohlenstoff-Dreifachbindung kommt dadurch zustande, daß an jedem C-Atom nur noch zwei σ-bindungen gebildet werden und nur je zwei p-orbitale zu zwei um 90 gegeneinander versetzten π-orbitalen verschmelzen. π-elektronen sind innerhalb des bestehenden π- Orbitals, also von einem C-Atom zum anderen, verschiebbar. Infolgedessen läßt sich ein Molekül mit Mehrfachbindungen auch stark polarisieren.

30 2.2 Interatomare Bindungen Vier σ-bindungen an einem C-Atom führen zu einer räumlichen, tetraedrischen Anordnung in einem Bindungswinkel von 109,5 (Abb. 2.2.13 a), drei σ- und eine π-bindung zu einer ebenen Anordnung mit einem Bindungswinkel von 120 (Abb. 2.2.13 b), zwei σ- und zwei π- Bindungen zu einer gestreckten, linearen Anordnung. Mit dem Auftreten von π-elektronen geht die Verdrehbarkeit der miteinander gebundenen C-Atome verloren. Diese Bindungsverhältnisse sind auch in allen anderen C-C-Verbänden anzutreffen. Im Diamantgitter gehen von jedem C-Atom vier σ-bindungen aus (Abb. 2.2.14). Die vier Nachbaratome umgeben das Bezugsatom dabei tetraedrisch. Das Diamantgitter [2] Abb. 2.2.14 Die tetraedrischen Hybridorbitale a) der C-Atome führen zur tetraedrischen Anordnung der Atome im Diamantgitter b) Sowohl im Benzolmolekül als auch im Graphitgitter besitzt jedes C-Atom nur noch drei σ- Bindungen, die in einer Ebene liegen und zueinander Winkel von 120 aufweisen. Die nicht hybridisierten p-orbitale vereinigen sich beim ringförmigen Benzol zu einem oberhalb und einem unterhalb der σ-bindungen in sich geschlossenen, ringförmigen π-elektronenorbital (Abb. 2.2.13 c). Ein solches geschlossenes, ringförmiges Bindungssystem verleiht den Bindungen eine höhere Stabilität. Ringförmige C-Doppelbindungen erweisen sich daher als sehr viel beständiger als lineare Doppelbindungen, bei denen die π-elektronen nur an zwei C- Atome gebunden sind und von diesen zugunsten einer stabileren σ-bindung relativ leicht abgetrennt werden können.

2. Atomare Strukturen 31 Das Graphitgitter besteht aus unendlich ausgedehnten Schichtebenen von C-Atomen, die in Sechseckform über drei aus einer sp 2 -Hybridisierung stammenden σ-bindungen verknüpft sind. Die π-elektronen verschmelzen auch hier zu zwei parallel liegenden Ringorbitalen, die aber ein über die gesamte Graphitschichtebene sich erstreckendes, zusammenhängendes Elektronensystem bilden, in dem die π-elektronen beweglich sind. Die π-elektronen sind also nicht mehr an das Atom gebunden, aus dessen p-orbital sie einmal hervorgegangen sind. Es handelt sich um delokalisierte π-elektronen. Aus der Verschiebbarkeit der π-elektronen, die jedoch nur parallel zu den C-C-Schichten gegeben ist, resultiert die bei Graphit feststellbare, richtungsabhängige elektrische Leitfähigkeit. Die Entkopplung vollständig besetzter Orbitale und die Hybridisierung zu neuen und mehr Bindungselektronen zeigt sich nicht nur beim Kohlenstoff, sondern in gleicher Weise auch bei Si, P, B und anderen Elementen. Ein äußerst bedeutsamer Unterschied zwischen C und Si besteht aber darin, daß Bindungen zwischen Si-Atomen vergleichsweise unbeständig sind und leicht zugunsten von Si-O-Bindungen aufgegeben werden. 2.2.3 Metallische Bindung Die Atome metallischer Elemente besitzen weniger als vier Außenelektronen. Ihre Außenelektronen sind relativ schwach an den Atomkern gebunden, was sich in den verhältnismäßig niedrigen Ionisierungsenergien für Metallatome widerspiegelt. Die Bindung von Metallatomen zu einem Metallverband vollzieht sich dadurch, daß ihre Außenelektronen zu einem gemeinsamen Elektronenorbital verschmelzen, welches nicht nur einigen Atomen angehört, sondern den gesamten Verband durchzieht. Dieses Orbital besteht nicht, wie bei einer kovalenten Bindung, aus einem einzigen Energieniveau, sondern stellt einen zu einem Energieband verbreiterten Resonanzzustand dar, in dem alle im Metallverband vorhandenen Außenelektronen ein diskretes Energiesubniveau besetzen können. Innerhalb der in diesem Band vorgegebenen Energieniveaus sind die Bindungselektronen unter Energieaufnahme verschiebbar, da im oberen Bandbereich stets freie Energiezustände zur Verfügung stehen. Die metallische Bindung kann als Sonderfall einer kovalenten Bindung aufgefaßt werden, bei der die Bindungselektronen den Charakter delokalisierter π-elektronen aufweisen und das zusammenhängende π-orbital sich über den gesamten Atomverband erstreckt. Vielfach werden diese delokalisierten Elektronen als ein zwischen den Atomrümpfen frei bewegliches Elektronengas bezeichnet. Mit dem metallischen Bindungsmechanismus lassen sich die

32 2.2 Interatomare Bindungen typischen metallischen Eigenschaften wie hohe elektrische und thermische Leitfähigkeit, Verformbarkeit, Undurchsichtigkeit und Glanz, ausgeprägte Legierbarkeit, aber auch Korrosionsempfindlichkeit erklären. Die Bindung zwischen Metallatomen wirkt wie eine Ionenbindung ungerichtet (Abb. 2.2.15). Die Metallbindung am Beispiel Aluminium (Z= 13) [2] Abb. 2.2.15 Die Metallbindung kann als Anziehung zwischen den positiven Atomrümpfen (Kern + Resthülle) und den negativen, dem ganzen Metall angehörenden freien Elektronen erklärt werden Die quantentheoretischen Vorstellungen von der Metallbindung lassen sich nicht anhand solch einfacher Modelle wie im Falle der Ionen- und Atombindung nahebringen. Als Ausgangspunkt wird wieder das Potentialtrichtermodell gewählt. In Abb. 2.2.16 a) ist der Grundzustand eines freien Na-Atoms dargestellt. Wird ihm ein zweites Na-Atom angenähert, dann durchdringen sich ihre Potentialwände.

2. Atomare Strukturen 33 Schematische Darstellung zur Entstehung der Metallbindung [2] Abb. 2.2.16 a) Energieniveauschema des freien Na-Atoms b) In zwei nahe beieinander angeordneten Na-Atomen spalten sich die im freien Atom scharfen Energieniveaus in Subniveaus auf (ΔE Energiegewinn, der für die Bindung zur Verfügung steht) c) Herausbildung von Energiebändern, wenn viele Atome eine Bindung eingehen. Bei Na ist das 3s-Band halb mit Elektronen gefüllt (durch Grauton angedeutet) Aus dem ehemals im freien Atom einfach vorhandenen 3s-Niveau entstehen durch die Wechselwirkung zwischen beiden Na-Atomen zwei 3s-Subniveaus, von denen das eine oberhalb, das andere unterhalb des ursprünglichen 3s-Niveaus liegt (Abb. 2.2.16 b). Die Subniveaus befinden sich oberhalb einer im Atomverband nicht mehr trennend wirkenden Potentialschwelle. Die von den zwei Na-Atomen beigesteuerten 3s-Elektronen können (ohne das Pauli-Prinzip zu verletzen) auf dem niedrigsten der beiden Subniveaus unterkommen. Der dabei je Atom freiwerdende Energiebetrag liefert im wesentlichen die Bindungsenergie und ist Ursache für die Bindungskraft. Treten drei Atome zu einem Verband zusammen, dann entstehen drei Subniveaus usw. (Abb. 2.2.16 c). Schließlich entsteht in einem Kristall mit N Atomen ein den ganzen Kristall durchsetzendes 3s-Energieband (eigentlich sind es N Subniveaus, wobei N für 1 cm 3 den Wert 10 23 erreicht).