ao. Univ.Prof. Dr.Gerhard Mangott Im Widerstreit von Werten und Interessen Russland und die Energiesicherheit der EU



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Transkript:

ao. Univ.Prof. Dr.Gerhard Mangott Im Widerstreit von Werten und Interessen Russland und die Energiesicherheit der EU In den letzten Monaten hat sich die Debatte innerhalb der Europäischen Union über wertebasierte oder interessenbasierte Beziehungen zu Russland erheblich verschärft. Das eine, idealistische Lager fordert eine gesamthafte Deutung, die die demokratische Konditionalität zum zentralen Baustein im Beziehungsgeflecht erhebt; die nachdrückliche Forderung nach demokratisch-rechtsstaatlichen Reformen in Russland sollte demnach den Grad der Zusammenarbeit zwischen beiden Akteuren bestimmen. Das andere, realistische Lager betont die strategischen Interessen, die Russland und die EU verbinden, die durch überzogene Konditionalität nicht belastet werden dürfen. Die nüchterne Bewertung dieser beiden Debattenstränge sollte nach meiner Ansicht zu einer realistischen Deutung der Beziehungen zwischen der EU und Russland führen. Die Interessenverflechtung zwischen beiden Akteuren, strategische gegenseitige Abhängigkeiten und Bedürfnisverschachtelungen erfordern interessendominante Gestaltungsprofile. Dies erstreckt sich von der Zusammenarbeit in der Kontrolle und Lenkung der illegalen Migrationsströme, der organisierten Kriminalität (insbesondere im Drogen- und Menschenschmuggel) bis hin zur Nutzung gemeinsamer Verwantwortlichkeiten regionaler Konflikte, woweit dies in gegenseitigem Interesse ist. Besonders deutlich aber lässt sich dies an der Energiezusammenarbeit zwischen den beiden Akteuren deutlich machen; in diesem Bereich sind anders als in der aufgeregten medialen Diskussion vermutet gegenseitige Erwartungs- und Bedarfsprofile auszumachen. Lassen sich damit im Rahmen wie weiter unten ausgeführt wechselseitigen Abhängigkeitsbeziehungen durch die EU einseitige (Vor-)bedingungen formulieren? Das idealistische Lager fordert auch für die Energiezusammenarbeit mit Russland, die demokratische Konditionalität als Eckstein anzusehen. Russländisch-europäische Zusammenarbeit in zentralen Politikfeldern wird dadurch mit einem normativen Vorbehalt belegt. Dieser normativ-idealistische Ansatz wird sich aber, wenn er sich nicht in sich selbst erschöpfen will, der Bewertung seiner Relevanz hinsichtlich der Zielerreichung stellen müssen; die Frage ist, ob mit diesem Ansatz denn wirklich Änderungen in der Herrschaftsordnung und praxis in Russland erzielt werden können. Aus mehreren, aber auch aus eben diesem, ist eine Vermengung des demokratischen Konditionalitätsgebotes mit der Energiezusammenarbeit zwischen Russland und der Europäischen Union unzulässig, weil sie vitale Interessen der EU beschädigt. Wie weiter auszuführen sein wird, bedeutet dies nicht, Russland aus der Kritik zu nehmen, weil die Länder der EU dringend oder wie bisweilen aufgeregt argumentiert wird existentiell von russländischen Lieferungen abhängig sind. Es ist die komplementäre Interessenlage im Energiesektor, die für beide Seiten die Bedingungen der vorteilhaften Zusammenarbeit und wechselseitiger Abhängigkeit bereitstellt. Die Grundlagen dieses Kooperationsansatzes sollten im Interesse beider Seiten nicht durch eine Junktimierung der Werte- mit der Interessenebene beschädigt werden. 1

Erdgas stellt in der EU-27 derzeit 26.6 Prozent des gesamten Primärenergieaufkommens (Total Primary Energy Supply) bereit, Erdöl(derivate) 39.4 Prozent. Russland bedient derzeit 29.8 Prozent des Gaskonsums und 26 Prozent des Rohölkonsums der EU 27. Die weiteren wichtigen Gasversorger der EU sind Algerien (12 Prozent) und Norwegen (8.5 Prozent). Die EU-27 importiert derzeit mehr als die Hälfte ihres Erdgaskonsums; annähernd 70 Prozent der Gasimporte stammen aus Russland. Gemessen am Importvolumen sind die wichtigsten Importeure russländischer Energieträger Deutschland, Frankreich und Italien; die relativen Abhängigkeiten dieser Staaten von russländischen Energieträgern ist aber deutlich geringer als in den meisten der ostund zentraleuropäischen Mitgliedsstaaten der EU allen voran in Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien und der Slowakei. Unter Berücksichtigung des Anteils russländischer Gasimporte am Gaskonsum der EU-27 und dem Anteil von Erdgas am gesamten Primärenergieaufkommen der EU-27 ergibt sich, dass derzeit 8.93 Prozent der Primärenergieversorgung auf russländischen Gaslieferungen beruht. Es ist aber von zentraler Bedeutung hervorzuheben, dass Russland auch davon abhängt, die EU-27 als Exportmarkt zu bedienen. Russland exportiert Erdgas nur in die EU-27, den Westbalkan, die Türkei und die meisten der postsowjetischen Staaten. Das hängt mit dem Umstand zusammen, dass alle derzeitigen Erdgasexportleitungen Russlands ausschließlich nach Westen verlaufen. Russland kann seine Exportkunden derzeit nicht diversifizieren. 72.68 Prozent des russländischen Erdgasexports gehen in die EU-27. Angesichts fehlender Pipelinetrassen (und bislang fehlender LNG- Förderung) zeigt sich daran die erhebliche Abhängigkeit Russlands vom Zugang zu den Gasmärkten der EU. Es ist daher völlig unzutreffend, von einem Erpressungspotential Russlands im Gasgeschäft mit der EU zu sprechen; die wechselseitigen Abhängigkeiten und die komplementären Interessen sind vielmehr deutlich erkennbar. Der Importbedarf der Europäischen Union im Gas- und Rohölsektor wird aber bis 2030 deutlich steigen. Die Gründe dafür sind erhebliche Nachfragesteigerungen v.a. im Gassektor (kaum aber im Ölbereich), aber auch deutliche Produktionsrückgänge in der Gas- und Rohölförderung der Staaten der EU. Der Erdgasverbrauch wird bis 2030 von dzt. annähernd 600 Mrd. m 3 auf 900 Mrd. m 3 ansteigen. In 20 Jahren wird die EU wenn sich das Konsumverhalten nicht verändert und Maßnahmen der Energieeffizienz und des Energiesparens nicht (ausreichend) wahrgenommen werden, 90 Prozent ihres Rohölbedarfs und 80 Prozent ihres Gasbedarfes importieren müssen. Die Debatte auf medialer und politischer Ebene in den letzten 18 Monaten hat betont, aufgrund des wachsenden Importbedarfs der EU im Erdgasbereich würde die Abhängigkeit von Russland steigen. Diese Erwartung ist aber gänzlich unzutreffend, weil das Wachstum der russländischen Erdgasförderung bis 2030 deutlich unter dem Wachstum des Erdgaskonsums der EU bleiben wird. Der prozentuelle Anteil russländischen Erdgases am Erdgasverbrauch in der EU wird daher annähernd gleich bleiben; Russlands Anteil an den gesamten Erdgasimporten der EU wird bis 2030 sogar deutlich zurückgehen. Der Bedeutungsrückgang russländischen Erdgases für den Gaskonsum der EU hängt mit mäßigen Steigerungsraten im Fördervolumen russländischer Gasfelder und einem aufgrund des rasanten Wirtschaftswachstums wachsenden Binnenverbrauch Russlands zusammen. Der Anteil von Erdgas am Gesamten Primärenergieaufkommen 2

Russlands liegt 2006 bei 57.8 Prozent; Erdöl stellt 17.2 Prozent, Kohle 15 Prozent des TPES. Der hohe Anteil am TPES und die Höhe des Eigenverbrauches an der russländischen Erdgasförderung sind vor allem auf die geringen Erdgaspreise für industrielle Abnehmer und private Haushalte zurückzuführen. Während innerhalb der EU-15 mindestens 250 USD für 1.000 m 3 zu bezahlen sind, liegt der Gaspreis in Russland dafür noch bei ca. 50 USD. Bis 2011 sind in Russland erhebliche Preissteigerungen für Gas vorgesehen; daraus könnten sich wachsende Bemühungen um Energieeffizienz und Energiesparen und das Interesse an alternativen Energieträgern ergeben. Die russländische Regierung hat das ambitionierte Ziel vorgegeben, den Anteil der Atomenergie am russländischen Elektrizitätsaufkommen von derzeit 16 Prozent auf 25 Prozent in 2030 anzuheben. Abzuwarten bleibt, ob der Verbrauch durch die Kostensteigerung so deutlich abgeschwächt werden kann, dass die Anreize für den staatlichen Erdgaskonzern Gazprom, einen höheren Anteil des geförderten Gases auf dem einheimischen Markt zu verkaufen, ausbleiben. Der Binnenverbrauch wird derzeit vor allem durch Gazprom und die beiden privaten Gaskonzerne Itera und Novatek, sowie durch die Gaszweige von wichtigen Ölgesellschaften bedient. Das Exportmonopol für Erdgas und der Besitz der Exportpipelinenetze liegen bei Gazprom. Derzeit kann Gazprom aber nur ca. 34 Prozent seines geförderten Gases exportieren derzeit ausschließlich in die EU-27, die Türkei, Serbien, die baltischen Staaten, Belarus, Ukraine, Moldova, Georgien, Armenien und Azerbajdžan. Die Preise, die Gazprom in den EU-Staaten erzielen kann, sind dabei deutlich höher als in den Staaten des post-sowjetischen Raumes; der postsowjetische Raum ist daher derzeit wenig lukrativ. In 2006 lieferte Gazprom 101 Mrd. m 3 Erdgas an den post-sowjetischen Raum und erhielt dafür 6. Mrd. USD; im selben Jahr exportierte Gazprom mehr als 150 Mrd. m 3 Erdgas in die EU-27 und erhielt dafür 37 Mrd. USD. Als Gegenleistung für die niedrigen Gastarife fordert der Konzern von Belarus und der Ukraine Eigentumsanteile an deren Gasverteilernetz und an den Exportpipelines. Im Falle von Belarus hat Gazprom die Veräußerung eines Mehrheitsanteils an Beltransgaz, die das lokale Gasnetzwerk in Belarus besitzt, für 2.5 Mrd. USD von der belarusischen Regierung erzwungen. Die Gasexportpipeline, die über belarusisches Territorium führt die Jamal-Pipeline transportiert ca. 20 Prozent des russländischen Gasexports in die EU-27 und ist ganz im Besitz von Gazprom. Die Gasleitungsstränge, die durch die Ukraine führen und über die ca. 80 Prozent des russländischen Gasexports in die EU-27 abgewickelt werden, sind aber noch immer in ukrainischem Staatsbesitz. Da Gazprom aber derzeit sehr wenig am Gasabsatz in Russland verdient, ist es auf wachsende Einkünfte aus dem Exportgeschäft angewiesen. Steigende Gewinne sind nicht zuletzt deshalb zwingend erforderlich, weil die Erschließung und Förderung neuer Erdgasfelder (v.a. auf der Halbinsel Jamal und in der Barentssee) außerordentlich kostenintensiv sind. Dazu kommen erhebliche Kosten für die Reparatur bestehender und den Bau neuer Exportpipelines. Die asiatischen Interessenten für russländisches Erdgas werden dabei aber nicht im Wettbewerb mit der EU stehen. Die ostsibirischen und fernöstlichen Gasfelder Russlands sind viel zu weit von den europäischen Märkten entfernt, um das Gas über Pipelines zu transportieren. Gasexporte über Pipelines sind derzeit nur über Distanzen von 4.500 5.000 km finanziell interessant und technisch machbar. Wettbewerber im Erdgasimport für die EU-27 sind aber die USA, sollte Russland vermehrt in den Flüssiggassektor (LNG) investieren. Flüssiggas kann mittels Tanker weltweit transportiert 3

werden. Vor allem die Förderung im Rahmen des Štokman-Feldes in der Barentssee könnte für LNG-Exporte nach Nordamerika genützt werden. Angesichts dieses Befundes stellt sich den Mitgliedsländern der EU und/oder der EU die Aufgabe, neben Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz, sowohl die Diversifikation der Energieträger dies schließt auch die Nuklearenergie ein als auch die Diversifikation der Versorgerländer voranzutreiben. Als alternative Anbieter von Erdgas sind derzeit v.a. Algerien, Libyen, Nigeria oder Ägypten zu nennen. In näherer Zukunft wird aber sicher auch die Gasversorgung durch den Iran und Qatar unabdingbar für die Erdgasversorgung der EU werden. Aber alle diese alternativen Anbieter hinken hinsichtlich demokratisch-rechtsstaatlicher Standards der russländischen Lebenswirklichkeit deutlich nach. Das Festhalten an demokratischen Konditionalitätsstandards in der Energiepolitik würde daher den Energiekonsum der EU-27 weitgehend austrocknen. Russland wird aber trotz Diversifikation der Lieferländer der EU-27 ein zentraler Versorger bleiben (sollen). Dabei gilt es aber zu berücksichtigen, dass Russland seit Jahren versucht, seine Marktposition gegenüber den Abnehmerländern zu verbessern. Die russländischen Energieträger werden daher nicht mehr ausschließlich für EU-Märkte verfügbar sein. Dabei steigt der Produktionszuwachs im russländischen Ölund Gassektor ohnehin nicht stark genug, um den wachsenden Binnenverbrauch und die Nachfrage der EU-27 befriedigen zu können. Die EU wird sich zudem im immer schärfer werdenden globalen Nachfragewettbewerb nach Erdgas als LNG und anderen Energieträgern mit Indien, der VR China und den USA befinden. Russland wird zwar mit einem außerordentlich hohen Finanzvolumen seine Gas- und Ölpipelinenetze nach Ostasien ausbauen, um neue Märkte in China, Japan, Korea, den USA, Kanada und Mexiko zu erschließen. Aber wie bereits erwähnt ist dieses Erdgas für den EU- Markt ohnehin nicht tauglich. Ein wirkliches Konkurrenzverhältnis könnte aber zwischen der EU und der USA entstehen, sollte Russland einen wesentlichen Teil seiner Erdgasförderung im Štokman-Feld in der Barentssee als LNG an die USA verkaufen; dadurch würde das Exportvolumen über die neu zu errichtende Gaspipeline Nordstream im Ostseeraum in einer ersten Ausbaustufe stecken bleiben. Aus dieser Interessenkonstellation ergibt sich für eine nüchterne Energiepolitik der EU neben der erwähnten Diversifikation von Energieträgern und Energieversorgen auch eine zwingende langfristige, möglichst transparente Zusammenarbeit mit Russland im Energiesektor unter größtmöglicher Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen. Dazu zählen auch zusätzliche Versorgungsnetze wie die Nordeuropäische Gaspipeline Nordstream von Vyborg (Russland) nach Greifswald (Deutschland) oder die derzeit von Russland vorgeschlagenen Südumgehungsvarianten Blue Stream II oder South Stream, um unzuverlässige Transitländer wie Belarus oder die Ukraine unter Druck zu setzen. Die Konsequenzen für die Debatte über werte- oder interessenbasierte Beziehungen der EU mit Russland sind klar: Die Vermengung der strategischen Interessen im E- nergiesektor mit Menschenrechtsfragen ist unverantwortlich: Zum einen wegen der strategischen Bedeutung Russlands für die europäische Energieversorgung, v.a. aber wegen der ohnehin beschränkten Möglichkeiten, den Demokratisierungsprozess in Russland nachhaltig voranzutreiben. 4

Die EU-Russlandpolitik sollte daher auf reflexhafte gesinnungsethische Illusionen verzichten, aber verantwortungsethisch Russland mit Kritik begegnen. Selbstgerechte Empörung, die vor allem die eigene Klientel bedienen soll, ändert weder russländische Lebenswirklichkeiten, noch lässt sie die Interessen unserer Bevölkerungen auf gesicherte Energieversorgung zu sozial nicht diskriminierenden Preisen unberührt. Staatskunst besteht darin, das Notwendige zu tun, das Mögliche zu wollen und über das Wünschenswerte das Zwingende nicht zu vergessen. 5