Einführung in die Politikgeschichte des industriellen Zeitalters A. Politische Grundbegriffe 17. Außenpolitik/Internationale Politik (Nohlen/Grotz, S. 26ff.; 235ff.; Brechtken 2003) Die Trennung von Außen- und Innenpolitik ist historisch unlöslich verknüpft mit der Herausbildung des frühneuzeitlichen Staates in der Gestalt des modernen Behördenstaates und der damit einhergehenden Entstehung eines internationalen Staatensystems in Europa. Seither fand Innenpolitik unter strukturell anderen Voraussetzungen statt als Außenpolitik. Auf der einen Seite zeichnete sich das innerstaatliche Leben mehr und mehr durch geregelte Abläufe aus, bedingt durch ein staatliches Gewaltmonopol, sanktionierte Regelmechanismen und kontrollierte Kompetenzhierarchien im Sinne von Gewaltenteilung. Auf der anderen Seite unterlag die Außenpolitik einem erheblich geringeren Organisations- und Vergemeinschaftungsgrad; d.h. sie bot ungleich größere Handlungsfreiheit zwischen den Polen friedlicher, kompromissorientierter Kooperation und der kriegerischen Konfliktlösung. Obendrein kennen die Außenpolitik und das internationale System auf Grund des geringeren Organisationsgrades mehr oder minder labile Bündnissysteme und Hegemonialordnungen, die erst im 20. Jahrhundert durch supranationale Organisationen gefestigt werden konnten, siehe etwa die NATO als Militärbündnis. Der Begriff Außenpolitik ist nicht nur gegen den Begriff Innenpolitik abzugrenzen, sondern auch gegen den Begriff Internationale Politik. 1
In der wissenschaftlichen Untersuchung der Außenpolitik lassen sich mehrere Ansätze unterscheiden: Der machtpolitische Ansatz untersucht Außenpolitik unter dem Aspekt, inwieweit sie dem Erhalt, dem Ausbau und der Absicherung von Machtpositionen dient. Macht dient den jeweiligen nationalstaatlichen Interessen und hängt von wirtschaftlichen und militärischen Kapazitäten ab. Die strukturellen Zusammenhänge und Eigengesetzlichkeiten des internationalen Systems werden nachrangig behandelt und damit die Wechselbeziehungen zwischen nationalstaatlicher Außenpolitik und ihrem internationalen Umfeld. Der Entscheidungsprozessansatz konzentriert sich auf die Ursachen und Faktoren, die außerpolitischen Entscheidungen zugrunde liegen. Der institutionelle Rahmen und die hinter außenpolitischen Entscheidungen stehenden Interessen werden untersucht. Der Bedingungsstrukturansatz konzentriert sich auf die strukturellen Bedingungsfaktoren für Außenpolitik wie Wirtschaftsstruktur, Entwicklungsdynamik, historisch-kulturelle Bindungen etc. Alle Ansätze zeichnet letztlich eine nationalstaatliche Interessenperspektive aus: Sie betrachten Außenpolitik primär unter dem Primat der jeweils nationalen Innenpolitik und greifen daher zu kurz. 2
Die Kategorie internationale Politik bringt notwendige ergänzende Perspektiven ein, weil sie zum ersten die Wechselbeziehungen zwischen nationalen Außenpolitiken berücksichtigt und zum zweiten systematisch nach Akteurskonstellationen im Rahmen eines internationalen Staatensystems fragt, das gewissen Eigengesetzlichkeiten folgt. Hier gibt es grob typisiert sechs wissenschaftliche Denkschulen: Die realistische Schule der internationalen Staatenanarchie und der Machtbalance Diese Denkschule betrachtet die internationale Politik als Interaktionsfeld im Rahmen einer anarchisch strukturierten Staatenwelt, die kein Monopol legitimer Gewaltsamkeit kennt, also keine unstrittig anerkannte internationale Schlichtungsinstanz. Relative Stabilität verleiht dem Staatensystem zum ersten die Machtbalance, d.h. das Gleichgewicht der Kräfte, und zum zweiten eine zwischenstaatliche Hierarchiebildung. Das internationale System wird hier als labiles, nach Rangunterschieden differenziertes Gleichgewichtssystem gedacht, wobei Macht, Einfluss und Ressourcen sich im Sinne eines Nullsummenspiels verteilen. Typisches Anschauungsobjekt für diese Theorie ist das internationale Mächtesystem vor dem I. Weltkrieg, wo jede Verletzung des Mächtegleichgewichts in eingespielter Routine die Forderung nach machtpolitischen Kompensationen nach sich zog. Die damaligen nationalistischen Selbstbehauptungsdiskurse waren auch ein Reflex auf dieses labile Mächtesystem und orientierten sich an dieser Denkschule, so auch die deutsche Historiker-Denkschule des Primats der Außenpolitik, die die Innenpolitik als Funktion der nationalen Selbstbehauptung begriff und dementsprechend Konzepte einer wehrhaft geschlossenen und autoritär formierten Gesellschaft entwickelte. 3
Das labile Mächtegleichgewicht destabilisierte sich um die Jahrhundertwende (um 1900), als sich das internationale Mächtesystem von einem europäischen zu einem globalen unter Einschluss der USA und Japans wandelte. Machtpolitische Denkschulen, die dem Ideal von Gleichgewichtszuständen verpflichtet sind, finden diese Regulationsidee auf mehreren Ebenen bestätigt: auf den Wirtschaftsmärkten im liberalen Ideal des Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage, in der Innenpolitik hinsichtlich der Maxime Checks and balances und in den internationalen Beziehungen hinsichtlich des Prinzips balance of power. (auch unabhängig von der gleichnamigen Maxime der britischen Außenpolitik). Die englische Schule der stabilen Sicherheitsgemeinschaften Diese Schule, die sich seit den 1950er Jahren entwickelte, sah die anarchische Ordnung des internationalen Systems durch stabile Sicherheitsgemeinschaften gebändigt. In der Entwicklung supranationaler Institutionen und Zusammenschlüsse erblickt diese Theorie den Kern einer machtpolitisch stabileren Weltordnung, in der über ein institutionell eingespieltes System internationaler Normen und Übereinkünfte das machtpolitische Gleichgewicht erhalten bleiben soll. Hier spielt die Erfahrung eine Rolle, dass sich Formen von Mehrebenenpolitik nach dem II. Weltkrieg auch in die internationale Sphäre ausgedehnt haben durch supranationale Zusammenschlüsse und eine partielle Abgabe nationaler Souveränitätsrechte. 4
Die Schule des interdependenzorientierten Globalismus Diese Schule betont die zunehmenden weltweiten Verflechtungen und die daraus resultierenden wechselseitigen Abhängigkeiten. Infolgedessen prägt die internationale Politik zunehmend ein Klima der Kooperationsbereitschaft auf Basis des Kosten-Nutzen-Kalküls, dass Kooperationsverweigerung mehr schadet als nutzt. Imperialismustheorien über die internationale Klassengesellschaft Imperialismustheorien stehen großenteils in marxistischen Denktraditionen. Sie sehen im Rahmen eines weltweit dominierenden Kapitalismus eine nationenübergreifende horizontale Schichtung in herrschende und ausgebeutete Klassen und eine Rivalität imperialistischer Konkurrenten. Dependenzorientierter Globalismus im Rahmen eines weltmarktorientierten Zentrum-Peripherie-Systems Diese Theorie sieht das kapitalistische Weltsystem in privilegierte Zentren und benachteiligte Peripherien aufgespalten. Die Peripherien sind von den hochentwickelten Zentren strukturell abhängig und haben im Systemzusammenhang keine Chance, ihre Unterentwicklung zu überwinden. Diese Theorie ist Kernbestandteil des Selbstverständnisses der linken Globalisierungsgegner und hat in der sog. III. Welt zahllose Anhänger. 5
Die idealistische Schule auf Basis des Leitbildes einer Weltgesellschaft mit universalistischer, den Idealen der bürgerlichen Aufklärung folgender Verfassung Diese Denkschule steht in der Tradition der frühliberalen Aufklärung, die an die Geltung und Durchsetzung universalistischer Menschenrechte unabhängig von staatlichen Grenzen glaubt und darauf setzt, dies im Rahmen des historischen Fortschritts erreichen zu können. Die Charta der Vereinten Nationen und der Internationale Gerichtshof in Den Haag orientieren sich an diesem Ideal. 6