Kraft- und Haltungsdiagnostik als Basis einer individualisierten Bewegungstherapie bei Rückenschmerzpatienten



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WISSENSCHAFT WISSENSCHAFT_KLINISCHE STUDIE Kraft- und Haltungsdiagnostik als Basis einer individualisierten Bewegungstherapie bei Rückenschmerzpatienten Effekte einer semi-automatisch individuell konstituierten Trainingsintervention in einer klinischen Anwendungsbeobachtung Jan Schröder a, Ilka Färber a, Karin Meyer-Hofmann b, Hendrik Schaar a und Klaus Mattes a ZUSAMMENFASSUNG Einleitung_Mehr als 80 % aller Rückenschmerzfälle gelten als unspezifisch. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Ergebnisse einer individualisierten Trainingsintervention bei Rückenschmerzpatienten vorzustellen, wobei der evidenzbasierte Zusammenhang zwischen den Ergebnissen biomechanischer Kraft- und Haltungsdiagnostik sowie den Inhalten und Effekten der Bewegungstherapie hervorgehoben werden soll. Methode_29 Patienten wurden analysiert (Pre-Post, 18 Trainingseinheiten): Rückenform mit einem Haltungsanalysesystem c, Rumpfkraft mit einem Kraftmesssystem d, Schmerzstatus (CR10) und Gesundheitsstatus (SF12). Ergebnisse_Beobachtet wurden signifikante Kraftsteigerungen der Rückenstrecker, die mit einer signifikanten Wirbelsäulenaufrichtung (Entlordosierung) einhergingen. Kontingenzanalysen zeigten, differenziert nach Beschwerdebild, signifikante Zusammenhänge zwischen Verbesserungen klinischer Scores (Schmerz- und Gesundheitsstatus) und der Entwicklung von Haltungsparametern. Schlussfolgerung_Die beobachteten Effekte werden als spezifische Adaptionen an die befundbasierte, individuelle Trainingstherapie interpretiert. Schlüsselwörter_Rückenschmerz, Rumpfmuskelkraftdiagnostik, Haltungsanalyse, Bewegungstherapie ABSTRACT Introduction_Over 80 % of back pain cases are ment to be non-specific. Purpose of the this study is to present the results of an individualized training treatment in back pain patients with an emphasis on the evidence based composition and specific effects of the treatment, due to the results of initial biomechanical examinations of peak force and posture. Methods_29 patients were examined (pre-post, 18 training sessions) in terms of back shape c, trunc muscle peak force d, pain state (CR10) and health state (SF12) parameters. Results_There was a statistically significant increase in back extension force accompanied by decreases of lordotic angles, representing statistically significant changes of spine shape, by means of spinal erection. In addition, an analysis of contingencies revealed statistically significant relations between changes of clinical scores (pain and health state) and changes of posture parameters in accordance to clinical disorders. Conclusion_These findings are considered to be specific adaptions to individually composed treatments based on biomechanical diagnosis. Keywords_back pain, trunc muscle force diagnosis, back shape analysis, training therapy 420 pt_zeitschrift für Physiotherapeuten_61 [2009] 5

Einleitung In mehr als 80 Prozent der Fälle können Rückenschmerzen keiner spezifischen Ursache zugeordnet werden (1). Dabei wird Muskeltraining metaanalytisch abgesichert als wirksame Behandlungsmaßnahme bei Rückenschmerzen be - trachtet (2). Die inhaltliche Gestaltung der Trainingstherapie reicht dabei von gerätegestütztem Krafttraining (3) über funktionsgymnastische Übungen mit dem eigenen Körpergewicht (4, 5) bis hin zu (Kraft-) Trainingsformen mit speziellen Rumpfstabilisierungsmustern (6), zum Teil mit gesteigerten konditionellen An sprüchen bei propriozeptiv stimulierenden Unterstützungsflächen (7). Die be fundbasierte individuelle Gestaltung der Bewegungstherapie und die Spezifität der beobachtbaren Effekte dürfen als Merkmale einer Evidencebased Practice (EBP) verstanden werden. Grundlage einer befundbasierten Ge - staltung von Trainingsmaßnahmen kann das muskuläre Profil der Wirbelsäule in Kraft- und Beweglichkeitskennziffern sein (3). Komplizierter ist ein Anknüpfen an auffällige Haltungsmerkmale. Ein kausaler Zu sammenhang zwischen klinischen Be schwerden und Haltungstypisierungen und anknüpfenden spezifischen Trainingsmaßnahmen ist nicht nur wegen der Objektivierung der Haltung problematisch (4). Die wissenschaftliche Diskussion über pathologische Haltungsauffälligkeiten, die zu einer therapeutischen Konsequenz führen können, muss vor dem Hintergrund von Referenzwerten im Sinne einer Majoritätsoder Spezialnorm geführt werden (8). Ein Bewegungstherapiekonzept, das den Anspruch hat, individualisiert an biomechanische Befunde anzuknüpfen und spezifisch auf Schmerz-, Haltungsund Funktionsbefunde einzuwirken, Abb. 1_Segmentale Stabilisierung Co-Kontraktionsmuster: Entlordosierung, Nabel einziehen, Beckenboden hochziehen und leicht gegen das Zwerchfell atmen e muss theoretisch fundiert und empirisch evaluiert sein. Die Stabilisierung des Achsenskeletts wird durch synergistisch zusammenwirkende, globale (oberflächlich liegende, mehrere Segmente übergreifende) und segmentale (tief liegende, autochthone) Rückenmuskeln gewährleistet (9, 10), die wiederum in Wechselbeziehung mit den Aktivitäten der Bauchmuskulatur stehen (6). Das hier vorgeschlagene Übungskonzept berücksichtigt daher Übungen aus dem Formenkreis der Funktionsgymnastik für ventrale, laterale und dorsale Rumpfmuskelschlingen (5) und Übungen an Trainingsgeräten (Funktionsstemme, Lumbaltrainer, Seilzug) zur Kräftigung der globalen Muskelschlingen. Das Training wird jedoch dominiert durch Übungen des segmentalen Stabilisierungstrainings (SST) in statischen und dynamischen Übungsvarianten (6). Hierbei wird die Schlinge (7) als propriozeptiv stimulierende Unterstützungsfläche für die Extremitätenlagerung in konditionell und koordinativ anspruchsvollen Varianten zum Teil durch einen Pezzi-Ball ersetzt (11, 12). Dem Grundsatz von Anspannung und Entspannung, Kräftigung und Mobilisierung folgend bilden Dehnungsübungen und eine Entlas - tungslagerung den Trainingsabschluss. Das Konzept des segmentalen Stabilisierungstrainings (SST) ist mittlerweile auch in Deutschland verbreitet. Kontrollierte Vergleichsstudien zeigen, dass die Wirkung der segmentalen Stabilisierung im Vergleich zu anderen physiotherapeutischen Trainingsmaßnahmen nicht weniger effektiv in der Schmerzreduktion und der Steigerung der gesundheitlichen Befindlichkeit ist, zum Teil sogar nachhaltiger (13, 14). Zentraler Grundgedanke der segmentalen Stabilisierung ist ein Basis-Co-Kontraktionsmuster, das aus folgenden Manövern besteht (7): Entlordosierung Nabel einziehen Beckenboden hochziehen leicht gegen das Zwerchfell atmen (Abb. 1) Der Aktivität des M. transversus abdominis (Manöver: Einziehen des Nabels) fällt hierbei eine herausragende Bedeutung zu, weil über den Zug an der thorako-lumbalen Faszie die Co-Kontraktionsaktivität des M. multifidus moduliert wird (6). Neuere EMG-Befunde bestätigen, dass die Ansteuerungsmus - ter tief liegender Muskeln durch spezielle Übungen beeinflusst werden können; für die dorsale Kette konnte das jedoch noch nicht in dem Maße belegt werden. Als Ursachen vermuten die >>> pt_zeitschrift für Physiotherapeuten_61 [2009] 5 421

Autoren messmethodische und koordinative Schwierigkeiten der Probanden (15). Für die Rumpfstabilisation ist außerdem die Aktivierung der Beckenbodenmuskulatur von zentraler Bedeutung (16). Das koordinative Zusammenspiel der Bauchmuskulatur und des Beckenbodens kann dahingehend differenziert werden, dass eine eher isolierte Aktivität des M. transversus abdominis durch submaximale Kontraktionen des Beckenbodens provoziert wird (17, 18). Die Aktivierung des Beckenbodens insbesondere des vorderen Blattes darf in der Vermittlung der Bewegungsanweisung außerdem als methodisches Mittel verstanden werden, wenn es darum geht, den M. transversus abdominis isoliert anzuspannen. Das Kontraktionsmuster wird anschaulich beschrieben als das Manöver des»anhaltens während des Wasserlassens«(6). Die Bedeutung des Manövers»leicht gegen das Zwerchfell atmen«wird durch biomechanische Befunde gestützt, die zeigen, dass über eine autonome Zwerchfellstimulation zusätzliche, den Oberkörper aufrichtende Drehmomente resultieren (19). Diese sind über den gesteigerten intra-abdominellen Druck (20) zu erklären, der auch als»viszerale Wassersäule«oder»Balloneffekt«(6) be - schrieben wird. Es ist das Ziel dieses Beitrags, die Spezifität beschwerde- und befundbasierter, individualisierter Trainingsmaßnahmen in einer klinischen Anwendungsbeobachtung mit inhaltlich plausiblen und statistisch bedeutsamen Hinweisen zu belegen. Für die Eingangs- und Verlaufsdiagnostik wird auf klinische Scores (21, 3, 22, 14), aber auch auf biomechanische Instrumente zur Rumpfmuskelkraftdiagnostik (3) und zur Haltungsanalyse (21, 4, 11, 12) zurückgegriffen. Tab. 1_Stichprobenkennziffern (n = 29 orthopädische Patienten) Methode Stichprobe Insgesamt konnten 29 Personen in die Längsschnittuntersuchung aufgenommen werden. Die Patienten mussten in der Lage sein, das Trainingsprogramm zu absolvieren und die Messungen (Haltung und Rumpfkraft) mussten einwandfrei durchführbar sein. Weitere Einschlusskriterien lagen nicht vor. Die korrespondierenden Stichprobenkennziffern werden tabellarisch dargestellt (Tab. 1). Die Patienten wiesen folgende vom Untersucherteam klassifizierte und anamnestisch gestützte Beschwerdebilder auf: 25 von 29 Personen (86 %): Rückenschmerzen mit Beteiligung der Lendenwirbelsäule (LWS) 12 von 29 Personen (41 %): Rückenschmerzen mit führender Beteiligung des Iliosakralgelenkes (ISG) 7 von 29 Personen (24 %): Rückenschmerzen mit führender Beteiligung der Halswirbelsäule (HWS) 4 von 29 Personen (14 %): Rückenschmerzen mit führender Beteiligung der Brustwirbelsäule (BWS) 13 von 29 Personen (45 %): dürfen als multimorbide bezeichnet werden, das heißt die Schmerzen sind mehrfach lokalisiert. Alter Größe Gewicht BMI [Jahre] [m] [kg] [kg/m²] Gesamt MW 51 1,73 71,0 23,7 (n = 29) +/-SD 15 0,10 14,6 3,2 Frauen MW 54 1,69 65,1 23,1 (n = 22) +/-SD 15 0,06 8,5 3,1 Männer MW 42 1,86 88,7 25,6 (n = 7) +/-SD 13 0,08 15,2 2,8 Darüber hinaus traten Beschwerden auf, die nicht direkt mit dem Rücken in Verbindung standen (Ellenbogen, Schulter, Knie, Hüfte). Mehrfachzugehörigkeit war die Regel. Zwölf von 29 Personen (41 %) gehörten der Altersgruppe über 60 Jahre an. Untersuchungsdesign Vor und nach der Trainingsintervention wurden anamnestische, klinisch-psychologische und biomechanische Daten erhoben (Pre-Post-Design ohne Kontrollgruppe). Alle Patienten wurden mit einem individualisierten Bewegungstherapieprogramm versorgt. Die Patienten absolvierten 18 Trainingseinheiten (in der ärztlichen Verordnungsform KGG: Krankengymnastik an Geräten) mit vorzugsweise zwei Einheiten pro Woche, wobei der resultierende Zeitraum zwischen Eingangs- und Ausgangsmessung in der Regel zehn Wochen betrug. Messinstrumente klinisch-psychologische Scores Neben der qualitativen Befragung zur Schmerzproblematik (Genese, Risikofaktoren, Lokalisation) wurde ein Schmerz- Score (CR10) erhoben (23). Darüber hinaus wurde der Fragebogen SF-12 (24) als psychologisches Standardmessinstrument zur Selbsteinschätzung der ge - Tabelle: Jan Schröder 422 pt_zeitschrift für Physiotherapeuten_61 [2009] 5

Abb. 2_Haltungsanalysesystem c mit anatomischen»landmarks«und virtueller Rekonstruktion (25) der Rückenoberfläche e sundheitlichen Einschränkung eingesetzt. Der SF-12 ist die Kurzform (12 Items) des SF-36 (36 Items) und ermöglicht die Differenzierung in physische (physical score) und psychische (mental score) Ursachen für die gesundheitliche Einschränkung. Es liegen Normen und Referenzwerte für Gesunde, allgemein chronisch Kranke und speziell für Rü - ckenschmerzpatienten vor. Biomechanische Messsysteme Wirbelsäulenform / Haltung Die menschliche Haltung wurde mithilfe der videorasterstereografischen Vermessung der Rückenoberfläche analysiert c. Beim Verfahren der Videorasterstereografie steht der Patient auf einer Plattform. Ein Raster parallel verlaufender Linien wird auf die Rückenoberfläche projiziert und von der Oberflächenform deformiert. Mithilfe einer Videokamera werden Raumpunkte der gerasterten Rückenoberfläche abgetastet und per Triangulation rechnerisch rekonstruiert. Prominente Strukturen der Rückenoberfläche (Vertebra prominens [VP], Sakrumpunkt [SP] sowie linkes [DL] und rechtes [DR] Grübchen (Dimple) als Abb. 3_Kraftmesssystem d für eine Maximalkraftbestimmung in allen drei Raumebenen (Extension-Flexion, Lateralflexion und Rotation jeweils links und rechts) Foto: Jan Schröder Repräsentanten der hinteren oberen Darmbeinstachel SIPS) konstituieren ein körpereigenes Koordinatensystem, sodass die Rückenoberfläche unabhängig von der Stellung im Raum rekonstruiert werden kann (25) (Abb. 2). Anhand der Rekonstruktion der Rü - ckenoberfläche wird der Verlauf der Wirbelsäule errechnet und parametrisiert. Das Verfahren wird als Goldstandard der Haltungsanalyse beschrieben (26) und zeichnet sich durch eine außergewöhnlich hohe Auflösung (gefiltert 7.500 Messpunkte) und geringe Rekonstruktionsfehler ( 0,2 mm) aus (25). Reliabilitätsanalysen (n = 157) ergaben eine sehr gute Reproduzierbarkeit aller Kennziffern zur Beschreibung der sagittalen Wirbelsäulenschwingungen (Brustkyphose, Lendenlordose) mit Koeffizienten von r tt = 0,89 bis 0,93. Für Skolioseparameter (mittlere Wirbelkörper seitabweichung und -rotation) und Becken - stellungsparameter (Beckenhochstand) wurden weniger hohe Reliabilitäts - koeffizienten ermittelt: r tt = 0,58 bis 0,67 (27). Zur Beschreibung der Wirbelsäulenform werden für die Sagittalebene Kennziffern zur Beschreibung der Rumpfneigung (RNG), der Beckenneigung (BNG) und -torsion (BTS) sowie der Brustky - phose (Kw-T12, Kw-MAX) und Lendenlordose (Lw-T12, Lw-MAX) angeboten. In der Frontalebene werden die Lotabweichung (LOT), der Beckenhochstand (BHS) und die mittlere und maximale Seitabweichung (Seit-RMS, Seit-MAX) der Wirbelkörper von der Symmetrielinie dargestellt. In der Transversalebene werden die mittlere und maximale Rotation (Rot-RMS, Rot-MAX) der Wirbelkörperdornfortsätze als ergänzende Skolioseparameter angegeben. Rumpfmuskelkraft Die isometrische Maximalkraft der Rumpfmuskulatur wurde in einem speziellen Messsystem d getestet (Abb. 3). Das Messsystem ermittelt die Rumpfkraft des Patienten in allen drei Raumebenen: Extension-Flexion, Lateralflexion links-rechts und Rotation linksrechts. Die eingeleiteten Muskelkräfte wurden mithilfe von Dehnungs- >>> pt_zeitschrift für Physiotherapeuten_61 [2009] 5 423

messstreifen (DMS-Technik) erfasst und als Drehmomente [Nm] oder anschaulicher auch als korrespondierende Massen [kg] ausgegeben. Die geräteimmanente Software bewertete die gemessene Muskelkraft vor dem Hintergrund von geschlechts-, alters- und körpergrößendifferenzierten Referenzdaten (3). Für den Anwender wurden die absoluten Maximalkraftkennziffern, aber auch die relativen Abweichungen von der Referenz bereitgestellt. Darüber hinaus wurden die relativen Differenzen zwischen Extension und Flexion sowie der Lateralflexion und der Rotation jeweils zwischen links und rechts angegeben. Diese Kennziffern waren geeignet, die muskuläre (Dys-) Balance zu beschreiben. Reliabilitätsanalysen für die einzelnen Raumebenen liegen vor (r tt: 0,86 bis 0,92). Separate Veröffentlichungen sind in Vorbereitung. Trainingsprogramm Das Trainingsprogramm wurde semiautomatisiert erstellt. Einerseits führten auffällige Rumpfmuskelkraftbefunde (absolute Defizite und relative Dysbalancen) vor dem Hintergrund von Referenznormen (3) zu Trainingsvorschlägen. An dererseits riefen auffällige Haltungskennziffern Trainingsvorschläge hervor. Die Auffälligkeit von Haltungskennziffern wurde vor dem Hintergrund selbst er mittelter Orientierungsreferenzen (n = 203 Frauen und Männer im Alter von 18 bis 40 Jahren) im Sinne einer Majoritätsnorm (siehe Glossar) für Rückengesunde bewertet (8). Die biomechanischen Haltungsbefunde wurden als Kriterium für die Gestaltung des individuellen Trainingsprogramms akzeptiert, wenn sie mithilfe anamnestischer Befunde im Expertenurteil validiert werden konnten. Darüber hinaus gingen anthropometrische und biografische Daten (BMI, Schmerz-Score, Schmerzlokalisation, Lebensalter, sportliche Vorerfahrungen) in den semiautomatisierten Trainingsprogrammvorschlag ein. Der Trainingsprogramm-Output wurde in einem zweiten Schritt manuell überarbeitet, auch um nichtregelhaften, individuellen Besonderheiten (Co-Morbidität, aktuelle Verletzungen) gerecht werden zu können. Das Gesamtprogramm (ca. 1 Std.) be - stand aus sieben Trainingsphasen: Phase 1: systemisches Erwärmen (5-10 Minuten Ergometer) Phase 2: Fokussierung auf die Stellung des Achsenskeletts (angeleiteter Sitz auf dem Pezzi-Ball im Co-Kontraktionsmuster des segmentalen Stabilisierungstrainings) Phase 3: Funktionskräftigungsgymnastik (ca. 2-5 Übungen aus einem Katalog von 15 Übungen) Phase 4: statische Übungen zur segmentalen Stabilisierung (ca. 2-4 Übungen aus einem Katalog von 20 Übungen) Phase 5: dynamische Übungen zur segmentalen Stabilisierung (ca. 2-3 Übungen aus einem Katalog von 8 Übungen) Phase 6: Kräftigung mit Seilzug, Lumbaltrainer und Funktionsstemme (ca. 4-7 Übungen aus einem Katalog von 18 Übungen) Phase 7: Dehnungsgymnastik und Entlastungslagerung (ca. 4-7 Übungen aus einem Katalog von 49 Übungen), die von jedem Patienten durchlaufen wurden. Die Übungen wurden mit 10 oder 15 Wiederholungen über 1 bis 3 Serien mit physiotherapeutischer Anleitung ausgeführt. Die Phasen wurden wie oben beschrieben individuell mit Inhalten (Übungsauswahl und Belastungsumfang) gefüllt. Statistische Methoden Die Kennziffern wurden mithilfe nonparametrischer statistischer Verfahren beschrieben (Median; 75 % Quartil / 25 % Quartil), grafisch aufbereitet (Box-Plots, siehe Glossar) und auf signifikante Un - terschiede geprüft (Wilcoxon-Paartest, siehe Glossar). Signifikanz wurde angenommen bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p 0,05; eine statistische Tendenz wurde akzeptiert bei p 0,10. Lediglich die Stichprobenbeschreibung wurde mithilfe der üblichen deskriptiven Statistiken (Mittelwert ± Standardabweichung) vorgenommen. Zusammenhangsanalysen wurden auf Nominalskalen - niveau mithilfe des Chi 2 - basierten Kontingenzkoeffizienten C be rechnet. Ergebnisse Aus der Vielzahl der analysierten abhängigen Variablen werden nur die relevanten Kennziffern mit statistisch signifikanten Entwicklungen oder Zu sam - menhängen vorgestellt. Der Schmerzstatus (CR10) entwickelte sich hochsignifikant (T = 40,00; p = 0,002) im Sinne einer Schmerzreduktion von initial 3,0 (5,0 / 0,5) Punkten auf 1,0 (3,0 / 0,0) Punkte in der Nachtestung. Die Selbsteinschätzung der gesundheitlichen Einschränkung (SF-12) veränderte sich vom Zeitpunkt der Vortestung zur Nachtestung ebenfalls signifikant im Sinne einer Besserung des Gesundheitsstatus: für die auf körperliche Ursachen fokussierenden Items (SF-12 physical score) von 43,3 (49,0 / 35,3) Punkten auf 48,6 (53,1 / 45,5) Punkte (T = 110,00; p = 0,020) und für die auf psychisch-mentale Ursachen fokussierenden Items (SF-12 mental score) von 52,4 (56,8 / 42,9) 424 pt_zeitschrift für Physiotherapeuten_61 [2009] 5

Punkten auf 55,9 (57,8 / 49,2) Punkte (T = 125,00; p = 0,045). Die Veränderungen der Rumpfmuskelkraft waren statistisch bedeutsam, aber nicht einheitlich ausgeprägt für alle Bewegungsdimensionen: Die isometrische Maximalkraft der Rückenstreckmuskulatur (Ex) veränderte sich hochsignifikant (T = 26,00; p < 0,000) von im Median 40,0 kg (59,8 / 29,3) auf 55,0 kg (82,7 / 43,8) (Abb. 5). Die Rumpfkraft der Bauchbeuger (Flex) konnte ebenfalls deutlich gesteigert werden von 21,6 kg (44,9 / 12,2) vor dem Training auf 26,6 kg (41,9 / 15,8) nach der Trainingsphase; allerdings war diese Steigerung nicht signifikant (T = 112,00; p = 0,174). Die Seitneigekraft (Lat-Flex li) der involvierten Rumpfmuskulatur zur linken Seite verbesserte sich gering - fügig, aber signifikant (T = 61,00; p = 0,019) von vor dem Training 22,0 kg (29,7 / 15,8) auf nach dem Training 23,5 kg (29,7 / 19,8). Die Steigerung der Seitneigekraft (Lat- Flex re) der rechten Seite war auf höherem absoluten Kraftniveau deutlicher ausgeprägt und ebenfalls signifikant (T = 69,00; p = 0,036); initial 27,0 kg (36,9 / 22,3) und nach dem Training 31,3 kg (38,2 / 22,2). Die Verbesserung der Rumpfrotationskraft (Rot li) in die Drehrichtung nach links war vom Betrag gering, aber hochsignifikant (T = 58,00; p = 0,005). Die Rumpfmuskelkraft verbesserte sich von 25,1 kg (34,6 / 14,0) auf 26,3 kg (35,9 / 17,0). Die Verbesserung der Rumpfrotationskraft nach rechts (Rot re) war vom Betrag her deutlicher, aber gruppenstatistisch nur als Tendenz zu bewerten (T = 107,00; p = 0,082). Die Rotationskraft verbesserte sich von 21,5 kg (32,9 / 16,7) auf 25,0 kg (37,7 / 17,9). Veränderungen der Wirbelsäulenform waren überwiegend als unsystematische (p > 0,10) Unterschiede zu beobachten. Dies galt für die Auslenkung der Lage des Vertebra prominens (Rumpfneigung und Lotabweichung), die Beckenstellung (Beckenhochstand und -torsion), die Skolioseparameter (mittlere und maximale Seitabweichung und Rotation der Wirbelkörper) und die Brustkyphose. Der Lordosewinkel veränderte sich jedoch relevant im Sinne einer Entlordosierung, also einer Aufrichtung der Wirbelsäule (Abb. 5). Da die Ausprägung der Lendenlordose abhängig vom Geschlecht war, wurde die Auswertung differenziert für Männer (n = 7) und Frauen (n = 22) vorgenommen. Für die kleine Gruppe der männlichen Patienten wurden keine signifikanten Veränderungen gefunden. Für die größere Gruppe der Frauen zeigten sich signifikante oder zumindest tendenziell signifikante Entwicklungen in Folge der Trainingsintervention (Abb. 4): Der anatomisch definierte Lordosewinkel (Lw-T12; hier für Frauen: Lw TF) veränderte sich tendenziell signifikant (T = 52,00; p = 0,084) von vor der Trainingsintervention 36,8 (39,8 / 30,3) auf 33,5 (38,8 / 30,5) zum Zeitpunkt nach der Intervention. Der geometrisch definierte Lordosewinkel (Lw-MAX; hier für Frauen: Lw MF), der den lumbo-sakralen Übergang besonders berücksichtigt, veränderte sich signifikant (T = 37,50; p = 0,012) von 39,5 (46,3 / 33,1) auf 37,0 (44,0 / 32,3). 130 120 110 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 52 50 48 46 44 42 40 38 36 34 32 30 28 26 24 22 20 Ex_t1 Ex_t2 LwMF_t1 LwMF_t2 LwTF_t1 LwTF_t2 Abb. 4_Entwicklung der Rückenstreckkraft (Ex) [kg] und der Lordosenwinkel [Grad] bei weiblichen Patienten (LwMF / LwTF) von Vortest (t1) zum Nachtest (t2) Median 25%-75% Min-Max Grafik: Jan Schröder Darüber hinaus waren inhaltlich plausible und statistisch abgesicherte Zu - sammenhänge zwischen positiven Entwick lungen ( delta + ) klinischer Kennziffern (Schmerz-Score CR10 und Gesundheitsstatus SF-12) und positiven Entwick lungen der Wirbelsäulenform im Sinne einer (Haltungs-) Aufrichtung zu beobachten. Die Zusammenhangsanalysen erfolgten differenziert für Beschwerdebildgruppen (führende ISG-Problematik, führende LWS-Problematik, führende HWS-BWS-Übergangsproblematik) und werden hier auszugsweise dargestellt. >>> pt_zeitschrift für Physiotherapeuten_61 [2009] 5 425

A) führende ISG-Problematik (n = 12) delta + CR10 korrelierte signifikant (p = 0,001) mit delta + Lotabweichung; C = 0,707 delta + SF-12 physical korrelierte signifikant (p = 0,038) mit delta + Beckenhochstand; C = 0,513 delta + SF-12 mental korrelierte signifikant (p = 0,046) mit delta + mittlere Wirbelkörperrotation; C = 0,500 B) führende LWS-Problematik (n = 25) delta + CR10 korrelierte tendenziell signifikant (p = 0,079) mit delta + Rumpfneigung; C = 0,351 C) führende HWS-BWS-Problematik (n = 10) delta + SF-12 mental korrelierte tendenziell sig nifikant (p = 0,058) mit delta + Rumpfneigung; C = 0,535 Diskussion Die Inhalte und Belastungsdosierungen der Trainingsintervention wurden in Abhängigkeit von biomechanischen und anamnestischen Befunden individuell für jeden Patienten zusammengestellt. Lendenwirbel- (86%) und Iliosakralprobleme (41 %) stellen die weitaus häufigsten Beschwerdebilder dar; Multimorbidität war die Regel. In der initialen isometrischen Rumpfmuskeltestung wurden relative und absolute Kraftdefizite (Relation zur Referenz) aufgedeckt, die zum Teil als Folge von Schmerzinhibitionen interpretiert werden mussten (3). Eine Analyse der abgeleiteten Trainingsinhalte (Kräftigung, Dehnung, Mo - bilisierung) verdeutlicht, dass die individualisierten Trainingsprogramme für Teile der Patienten vom Gesamtumfang weniger auf die Kräftigung der Bauchmuskelschlingen ausgerichtet waren. Abb. 5_Aufrichtung der Wirbelsäule durch Entlordosierung c Dies spiegelt sich in der gruppenstatistischen Analyse der Rumpfmus kelkraft wider. Rückenstreckkraft, Lateralflexions- und Rotationskraft wiesen signifikante Zuwächse auf, während die Bauchbeugekraftzuwächse vom Betrag zwar hoch waren, jedoch nicht gruppen - einheitlich beobachtet wurden. Dieses Phänomen wird als Indiz für die spezifische Wirkung der individualisierten Trainingsmaßnahmen interpretiert (4). Intersubjektiv nachvollziehbare An - passungen der Form des Achsenskeletts durch Muskeltraining und Mobilisation sind bei Kindern und Heranwachsenden explizite Therapieansprüche, aber aufgrund der geringeren Plastizität der Gewebe bei älteren Erwachsenen nicht zwingend zu erwarten (28). Ultraschalltopometrisch konnten jedoch wirbelsäulenaufrichtende Trainingsanpassungen bei Rückenschmerzpatienten für den Be - reich der Brustkyphose abgesichert werden (21). Die eigenen Ergebnisse zeigen, dass Rumpfkraftzuwächse von einer Wirbelsäulenaufrichtung begleitet werden, die auf eine signifikante Entlordosierung zurückgeführt werden kann (Abb. 5). Dieser Effekt wird als muskuläre Stabilisierung der Lendenwirbelsäule 0 100 200 300 400 500 100 0 100 Lateralprojektion (mm) durch verbesserte neuronale Ansteuerung interpretiert. Vor dem Hintergrund, dass die Ausprägung der Lendenlordose durch das synergistische Zusammenwirken der oberflächlichen, globalen und der tief liegenden segmentalen Rückenmuskeln de terminiert wird (13, 14), soll insbesondere auf die Wirkung des segmentalen Stabilisierungstrainings (SST) als der maßgeblichen Komponente der individuellen Trainingsprogramme hingewiesen werden. Für die klinische Praxis bedeutsam werden die Effekte der Haltungsmodifikation (Wirbelsäulenaufrichtung) und Kraftzugewinne (Rumpfmuskulatur) jedoch erst durch die gleichzeitige Verbesserung der individuellen klinischen Symptomatik der Patienten, die sich durch klinische Scores und Fragebogen belegen lässt (21, 3, 22, 14). Schmerzund Gesundheitsstatus veränderten sich in der vorliegenden Anwendungsbeobachtung (hoch-) signifikant im Sinne einer Besserung. Für Betroffene ist relevant, dass es keinen Patienten gab, der sich nicht in einem klinischen Parameter verbessert hat (Abb. 6). Deutliche individuelle Besserungen in den Kasuistiken der Patienten (taubes Bein, nächtlicher 426 pt_zeitschrift für Physiotherapeuten_61 [2009] 5

Ruheschmerz, initialer Belastungsschmerz Patienten werden signifikant begleitet etc.) waren die Regel. durch Haltungsanpassungen in Normal- Als Hinweise einer Interventionsspezifität Null-Richtung in den Frontalebenenpatingenzanalysen werden die Ergebnisse der Konrametern Lotabweichung (C = 0,707), bewertet. Differenziert Beckenhochstand (C = 0,513) und mittlere für Beschwerdebilder dürfen positive Wirbelkörperrotation (C = 0,500). klinische Entwicklungen inhaltlich plausibel Undifferenziertere Lendenwirbelsäu- mit positiven Entwicklungen von lenprobleme zeichnen sich oftmals Haltungskennziffern in Verbindung durch (Schon-) Vermeidungshaltungen gebracht werden, obwohl die geringen aus und haben definierte Übungen zur Stichprobenumfänge bei Chi 2 -basierten Folge. Eine Schmerzreduktion (CR10) Statistiken problematisch sind. dieser Patienten steht in einem moderaten Führende iliosakrale Rückenbeschwerden Zusammenhang mit einer Normali- beispielsweise sind nicht nur sierung der Haltung in der Sagittalebene klinisch durch ihre Ausstrahlungscharakteristik (Rumpfneigung) (C = 0,351). und Lokalisation gegen ande- Die Objektivierung der menschlichen re Rückenbeschwerden abzugrenzen, Haltung ist wegen der habituellen Variabilität sondern gehen auch mit auffälligen biomechanischen im freien Stand nicht unproblema- Befunden in der Frontal - tisch (21, 4, 11, 12), sodass Schlussfolgerungen ebene (beispielsweise Lotabweichung, mit Vorsicht zu treffen sind. Aber Beckenstellung) einher und haben spe - die Summe der Befunde weist trotz des zi fische Trainingsübungen zur Folge. vor-experimentellen Designs darauf hin, Verbesserungen im Schmerzscore (CR10) dass der hier vorgestellte Ansatz einer sowie in den Items der körperlichen (SF- biomechanisch basierten Kraft- und Haltungsdiagnostik 12 physical) und psychischen (SF-12 mit daran anknüpfen- mental) Gesundheitsbewertung bei ISG- den differenzierten Trainingsmaßnah- relative Hfk.[%] 0 20 40 60 80 100 men zu spezifischen Effekten führt, sodass von einer Evidence-based Practice (EBP) gesprochen werden soll. Schlussfolgerung Das vorgestellte kausale Diagnose-Trainingskonzept befindet sich fortlaufend in einem Evaluierungsprozess. Für die Zukunft werden einerseits Modifikationen im Datenerhebungssetting bei der Vermessung der Rückenoberfläche um - gesetzt, die intervenierende Effekte einer habituellen Variation im freien beidbeinigen Stehen weitergehender berück - sichtigen (4, 11, 12). Andererseits sollte die Referenzpopulation rückengesunder Vergleichspersonen im Sinne einer Majoritätsnorm (8) auf eine breitere Basis ge stellt werden. Darüber hinaus ist es sinnvoll rückenschmerzsyndrom-homogene Pa - tienten-cluster für die Begründung einer Spezialnorm (8) zu sammeln, so dass der komplizierten Normwertdis kussion im Zu sammenhang von Haltungstypisierung mit pathologischen Befunden und klinischen Problemen besser Rechnung getragen werden kann (4). Besserung physisch Besserung psychisch 66 72 ANMERKUNGEN a Universität Hamburg, Abteilung Bewegungs- und Trainingswissenschaft Besserung Schmerz Besserung Score insgesamt Besserung individuelle Problematiken Abb. 6_Prozentuale Häufigkeit positiver Effekte der Trainingsintervention in der Selbsteinschätzung gesundheitlicher Einschränkung (SF12: körperlich und psychisch), des Schmerzstatus (CR10) und individueller Kasuistiken 66 100 90 Grafik: Jan Schröder b Therapiezentrum in Hamburg Othmarschen c Haltungsanalysesystem Formetric von Diers International GmbH, Schlangenbad d Kraftmesssystem Myoline von Diers International GmbH, Schlangenbad e Mit freundlicher Genehmigung aus: Schröder J, Förster J, Mattes K. 2008. Eine pragmatische Variante des Segmentalen Stabilisierungstrainings (SST) für die Sportpraxis vor dem Hintergrund auffälliger Befunde der Wirbelsäulenform am Beispiel Volleyball. Leistungssport 4, 38: 45-51 >>> pt_zeitschrift für Physiotherapeuten_61 [2009] 5 427

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