1 Anmerkung zur Internet-Klausur VA 15 1. Mandantenbegehren Die Mandantin möchte gegen die Gewerbeuntersagung vorgehen. Sowohl gegen den Ausgangs- als auch gegen den Widerspruchsbescheid hat die Mandantin bereits Klage erhoben, so dass aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung zu prüfen ist, ob hier einstweiliger Rechtsschutz erfolgversprechend ist und ob ggf. bzgl. der Klage noch etwas zu veranlassen ist. 2. Zulässigkeit eines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz Der Verwaltungsrechtsweg ist unproblematisch eröffnet. Wegen der statthaften Anfechtungsklage in der Hauptsache ist hier gem. 123 Abs. 5 VwGO ein Antrag nach 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthaft. Problematisch ist die Festlegung auf den Antragsgegenstand, der sich an dem Klagegenstand orientiert. Grundsätzlich ist der Verwaltungsakt in Gestalt des Widerspruchsbescheides Streitgegenstand, 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Hier liegt aber im Widerspruchsbescheid eine Verböserung vor, so dass grundsätzlich eine isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheides nach 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO in Betracht käme. Wenn aber der Widerspruchsbescheid eine selbständige Regelung enthält, die bloß bei Gelegenheit des Widerspruchsverfahrens ergangen ist, so könnte die gesonderte Anfechtung geboten sein und es wäre bspw. vertretbar, den Ausgangsbescheid und den Widerspruchsbescheid im Wege der Klagehäufung nach 44 VwGO anzufechten. Ebenso vertretbar wäre es aber auch in dieser Konstellation, den Ausgangsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides anzugreifen. Da die Frage, ob hier eine eigenständige Regelung vorliegt, die bei Gelegenheit des Widerspruchsverfahrens erlassen wurde, offen ist, kann diese Frage erörtert werden, wobei beide Ergebnisse vertretbar wären. Als Rechtsanwalt/Rechtsanwältin böte es sich hier an, den Klageantrag der Mandantin je nach Ergebnis zu präzisieren und für den Fall einer abweichenden Ansicht des Gerichts um einen Hinweis nach 86 Abs. 3 VwGO zu bitten. Die Antragsbefugnis analog 42 Abs. 2 VwGO ist unproblematisch gegeben. 1
2 Insbesondere kann die GmbH, als Adressatin der hier gegenständlichen Bescheide eigene Rechte gem. Art. 2 Abs. 1 i.v.m. 19 Abs. 3 GG und Art. 12 Abs. 1 GG (Gewerbefreiheit) geltend machen. Auch ein Rechtsschutzbedürfnis liegt vor. Da die Mandantin keinen Antrag nach 80 Abs. 4 S. 1VwGO gestellt hatte, bietet es sich an, klarzustellen, dass dieser Umstand irrelevant ist. Schließlich kann durch einen Umkehrschluss aus 80 Abs. 6 S. 1VwGO geschlossen werden, dass ein vorheriger Antrag bei der Behörde ( 80 Abs. 4 S. 1 VwGO) nur für die Fälle des 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vorgesehen ist. 3. Begründetheit des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz a) Vollziehbarkeitsanordnung aa) formelle Rechtmäßigkeit Die Zuständigkeit der handelnden Behörde ist gegeben. Ob die fehlende Anhörung zur Anordnung der sofortigen Vollziehung im Ausgangsbescheid beachtlich ist, wird überwiegend mangels VA-Qualität der Anordnung verneint, mit kurzer Begründung kann man sich aber auch der wenig relevanten Ansicht anschließen, dass hier 28 VwVfG direkt oder analog anwendbar sei. Ein eventueller Verstoß gegen 28 VwVfG ist aber ggf. durch das Widerspruchsverfahren geheilt, 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG. Die erforderliche Begründung nach 80 Abs. 3 VwGO liegt hier auch ordnungsgemäß vor. bb) materielle Rechtmäßigkeit Die Vollziehungsanordnung ist auch materiell nicht zu beanstanden, da dass besondere Vollziehungsinteresse (Gefahr der weiteren Verletzung sozialversicherungs- und steuerrechtlicher Pflichten / Lasten für die Allgemeinheit) das Aussetzungsinteresse (Fortsetzung des Gewerbebetriebes) überwiegt (anderes Ergebnis vertretbar). b) Erfolgsaussichten der Hauptsache (Klage vom 10.04.2002) aa) Zulässigkeit Die Zulässigkeit ist unproblematisch. Es sollte erwähnt werden, dass das notwendige Vorverfahren bzgl. des Ausgangsbescheides durchgeführt wurde und bzgl. der Verböserung im Widerspruchsbescheid entbehrlich ist, da 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO hier anzuwenden ist, trotz des Wortlauts erstmalig. Dies gilt auch, selbst wenn die Verböserung als erstmalige und gesonderte Entscheidung angesehen würde, da der Mandant aufgrund der Bezeichnung als Widerspruchsbescheid davon ausgehen darf, dass kein weiteres Vorverfahren notwendig ist. Die übrigen wesentlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen sind kurz festzustellen. 2
3 bb) Begründetheit (1) Rechtmäßigkeit der einfachen Gewerbeuntersagung (Ausgangsbescheid) Rechtsgrundlage: 35 Abs. 1 Satz 1 GewO Adressatin der Unterlassungsverfügung kann grundsätzlich auch eine juristische Person hier also die GmbH sein. Dabei ist der GmbH das Verhalten ihrer gesetzlichen Vertreter zuzurechnen, sie kann aber auch selbst die Voraussetzung der Unzuverlässigkeit erfüllen, wenn das entsprechende Verhalten (Steuerschulden etc.) durch eine juristische Person verwirklicht werden kann. Dagegen wird vereinzelt vertreten, dass Unzuverlässigkeit stets nur in einer natürlichen Person gesehen werden kann diese Ansicht wäre aber besonders begründungsbedürftig. Die formelle Rechtmäßigkeit ist hier kein Problem. Auch materiell ist die Gewerbeuntersagung rechtmäßig. Die Verletzung der steuerrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Pflichten begründet die Unzuverlässigkeit der Mandantin. Eine Legaldefinition der Unzuverlässigkeit gibt es nicht. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass die Zuverlässigkeit immer dann zu verneinen ist, wenn der Gewerbetreibende nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens nicht die Gewähr dafür bietet, sein Gewerbe künftig ordnungsgemäß zu betreiben. Die Behörde muss also aufgrund der vorliegenden Tatsachen eine Prognoseentscheidung treffen. Insbesondere soll die Behörde nicht vergangenes Verhalten durch eine Gewerbeuntersagung sanktionieren, sondern ausschließlich künftige Gefahren abwehren. Bzgl. der Steuerschulden muss hier von der Unzuverlässigkeit ausgegangen werden. Steuerschulden lassen immer dann auf die Unzuverlässigkeit schließen, wenn sie von Gewicht sind. Von Gewicht sind sie wiederum, wenn sie der Höhe nach im Verhältnis zu den sonstigen Belastungen des Gewerbebetriebes erheblich sind und / oder wenn die Dauer der Pflichtverletzung erheblich ist. Hier ist mit dem Stoff des Sachverhalts zu argumentieren. Für das Ergebnis ist dabei entscheidend, dass es keiner Gewissheit künftiger Pflichtverletzungen bedarf es genügt, dass weitere Verstöße in der Zukunft wahrscheinlich scheinen. Aufgrund des Ausmaßes der hier vorliegenden Verstöße wird 3
4 kaum ein Gericht von der Zuverlässigkeit ausgehen. Auch bzgl. der Verstöße gegen sozialversicherungsrechtliche Pflichten gilt, dass diese Verstöße die Unzuverlässigkeit begründen können. Auch hier ist wieder mit dem vorliegenden Sachverhalt zu argumentieren und abermals festzustellen, dass das Gericht von einer Wahrscheinlichkeit für weitere Verstöße ausgehen wird. Hierzu ist auch anzumerken, dass Zahlungen zur Begleichung der Schulden kurz vor knapp grundsätzlich nicht zu Gunsten der Mandantin gewertet werden, sondern als Verhalten unter Druck der Versagungsverfügung gewertet werden. Insbesondere dann, wenn das Verhalten der Mandantin in der Vergangenheit derart beharrlich pflichtverletzend war, wie hier. Die Zahlung der rückständigen Sozialversicherungsbeiträge ist daher unerheblich. Gleiches gilt für die in Aussicht gestellte Tilgung der Steuerschuld. Dabei ist auch entscheidend, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Entscheidung anders als bei anderen Verwaltungsakten mit Dauerwirkung die letzte behördliche Entscheidung ist, so dass spätere Entwicklungen stets unbeachtlich bleiben. Die Frage, welcher Zeitpunkt bei einer Anfechtungsklage maßgeblich ist, ist keineswegs geklärt. Das BVerwG differenziert dabei nach dem anzuwendenden materiellen Recht (vgl. BVerwG NVwZ 1990, 653). Im Regelfall wird aber auf die letzte behördliche Entscheidung abgestellt. Anders werden aber Entscheidungen über Dauerverwaltungsakte beurteilt, wobei die Gewerbeuntersagung als solcher angesehen werden kann. Danach wäre also die letzte mündliche Verhandlung im gerichtlichen Verfahren entscheidend. Die Orientierung am materiellen Recht muss hier aber zur Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der letzten Behördenentscheidung gelangen, da sich insbesondere aus 35 Abs. 6 GewO ergibt, dass nachträgliche Entwicklungen unbeachtet bleiben sollen. Vielmehr soll bei einer Änderung der Umstände eine Wiedererteilung möglich sein. Nach den obigen Erwägungen wäre aber die Zuverlässigkeit wohl auch dann zu verneinen, wenn die letzte mündliche Verhandlung als maßgeblicher Zeitpunkt angesehen würde. Abschließend zu diesem Teil der Prüfung ist die Verhältnismäßigkeit zu prüfen, wobei auch hier keine aussichtsreichen Angriffspunkte gegen die Untersagung zu finden sind. Eine mildere, gleich geeignete Maßnahme ist nicht ersichtlich. 4
5 (2) Rechtmäßigkeit der erweiterten Gewerbeuntersagung, Verböserung Grundsätzlich ist eine Verböserung mit Blick auf die Gesetzesbindung der Verwaltung zulässig. (Wer hier beim Klagegenstand die erweiterte Gewerbeuntersagung als eigenständigen Gegenstand angesehen hat, kommt freilich nicht zu den Problemen der Verböserung.) Rechtsgrundlage der Verböserung: 35 Abs. 1 Satz 2 GewO i.v.m. 48 ff. VwVfG analog Hier sind also die Voraussetzungen des 35 Abs. 1 Satz 2 GewO unter Hinzuziehung der Rechtsgedanken der 48 ff. VwVfG zu prüfen. Einschränkend zur analogen Anwendung der Vorschriften zur Rücknahme und Aufhebung ist klarzustellen, dass der Vertrauensschutz der Mandantin dadurch geschwächt ist, dass sie selbst den Anlass für die Unbeständigkeit der Ausgangsverfügung gesetzt hat und dadurch der Vertrauensschutz nur durchgreifen kann, wenn geradezu untragbare Zustände durch die Verböserung geschaffen wurden. Hier hat die Mandantin ihr Vertrauen in die einfache Gewerbeuntersagung aber noch nicht durch Vermögensdispositionen o.ä. betätigt, so dass der Vertrauensschutz hier jedenfalls nicht nutzbar gemacht werden kann und es allein auf die Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheides ankommen kann. Formell ist der Widerspruchsbescheid rechtmäßig. Das übliche Problem der Zuständigkeit bei der Verböserung stellt sich hier nicht, da die Widerspruchsbehörde mit der Ausgangsbehörde identisch ist. Auch die Problematik der Anhörung zur Verböserung stellt sich hier nicht, da die Behörde der Mandantin vor Erlass des Widerspruchsbescheides angekündigt hatte, dass eine erweiterte Gewerbeuntersagung erfolgen soll. Materiell-rechtlich kann weitgehend auf die obigen Erwägungen Bezug genommen werden und festgestellt werden, dass die vorliegenden Pflichtverstöße der Mandantin allgemein in jeder Branche zur Unzuverlässigkeit führen und somit auch hier die materielle Rechtmäßigkeit zu bejahen ist. Die Rechtsfolge ist hier ein Ermessen der Behörde. Ermessensfehler sind hier nicht ersichtlich, wobei durchaus auf die beglichenen AOK-Beiträge verwiesen werden kann, die als Grund für einen Ermessensfehlgebrauch angeführt werden könnten. c) Interessenabwägung 5
6 Abschließend ist eine Interessenabwägung im Rahmen des 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmen, dabei ist hauptsächlich auf die Aussichtslosigkeit der Klage abzustellen, die das Vollzugsinteresse gegenüber dem Aussetzungsinteresse überwiegen lässt. 4. Anwaltliches Vorgehen Hier wäre ein Mandantenschreiben zu fertigen. Darin müsste auch die Option der Klagerücknahme angesprochen werden, da sich die Gerichtskosten in diesem Fall für die Mandantin verringern würden. Bei anderer vertretbarer Lösung wäre hingegen ein Antragsschriftsatz zu fertigen. Chronologie: 08/1995 Anzeige des Gewerbes (Erstellung von schlüsselfertigen Bauten im Bereich Hochbau) Seit Dezember 2000 Ab Januar 2001 Wichtiger Auftraggeber leistet keine Zahlungen Mandantin erfüllt ihre Zahlungspflichten gegenüber der AOK und dem Finanzamt nicht oder nur sporadisch 16. Mai 2001 AOK zeigt Rückstände bei der Behörde an (Stand: 4.000,- ) --- Aufforderung zum Gespräch durch die Behörde 8. Juni 2001 Finanzamt zeigt Rückstände an (Stand: 8.000,- ) Juli 2001 o.g. Auftraggeber der Mandantin wird insolvent (Verluste: ca. 35.500,- ) 16. Oktober 2001 Gespräch der Behörde mit Mandantin Mandantin verspricht Tilgung der Schulden bis Ende November 2001 Anfang Januar 2002 Anfang Januar 2002 Finanzamt zeigt Rückstände von 45.000,- an AOK zeigt Rückstände von 5.000,- an 24. Januar 2002 Mitteilung der AOK per Fax über Zahlung der Mandantin von 1.000,- 25. Januar 2002 Gewerbeuntersagung + Anordnung der sof. Vollziehbarkeit 20. Februar 2002 Widerspruch --- Rückstand beim Finanzamt 50.000,- --- Rückstand bei AOK beglichen 6
7 Mitte März 2002 Anhörung zur erweiterten Gewerbeuntersagung 25. März 2002 Stellungnahme zur erweiterten Gewerbeuntersagung von Mandantin 5. April 2002 Zustellung: 8. April 2002 Widerspruchsbescheid + Anordnung der sof. Vollziehung bzgl. Verböserung 10. April 2002 Klage durch Mandantin 15. April 2002 Eidesstattliche Versicherung des Herrn Grabow 2. Mai 2002 Erstes Mandantengespräch 3. Mai 2002 Termin zur Vereinbarung von Zahlungsmodalitäten beim Finanzamt 6. Mai 2002 Abschlagszahlung von 5.000,- auf Rückstände beim Finanzamt 7