SASB-Anwendungen in der Ätiologieforschung Interaktionsverhalten bei Essstörungen Sarah Keimer 1
Gliederung Warum ist SASB zur Untersuchung von familiärem Interaktionsverhalten sinnvoll? Warum werden Essstörungen untersucht? Vorstellung von 3 Studien Weitere Forschung 2
Warum SASB? konzeptueller Rahmen von SASB passt zu Familiensystemen dieselben Dimensionen unterliegen SASB und kennzeichnenden schizogene Verhaltensweisen Double bind Pseudogemeinsamkeit (pseudomutuality) SASB ist wesentlich valider in der Einschätzung von Familienprozessen als andere Messinstrumente 3
Warum Essstörungen? familiärer Stress ist ein primärer Faktor in der Entwicklung und dem Verlauf von Essstörung Essstörungen spiegeln oft tiefe Probleme in der Familienstruktur wider (bezogen auf den emotionalen Ausdruck, die Beziehungsdynamik sowie den Interaktionsstil) 4
1. Studie Differentiating bulimic-anorexic from normal families using interpersonal and behavioral observational systems. Autoren: Humphrey, L. L., Apple, R. F., & Kirschenbaum, D. S. Erscheinungsjahr: 1986 5
Gliederung Allgemeines Methode Ergebnisse 6
Allgemeines Untersuchung und Vergleich von zwei Beobachtungssystemen in der Beschreibung und Unterscheidung von kranken (mit bulimisch-anorektischen Tochter) und normalen Familien Marital Interaction Coding System (MICS) Structural Analyses of Social Behavior (SASB) 7
Methode VPn 40 biologisch intakte Familientriaden (Vater, Mutter, Tochter) 16 mit einer kranken Tochter 24 mit einer gesunden Tochter (Kontrollgruppe) Ablauf 10-minütiges Rollenspiel, in dem die Abschottung der Tochter von der Familie diskutiert werden soll (Videoaufnahme) 8
Methode 3 Beobachter ein erfahrener professioneller Kliniker, ein graduierter Psychologe, ein guter Psychologiestudent Beobachtungsgegenstand Transkriptionen der Familieninteraktionen Videoaufnahmen 9
Methode Messungen (SASB-Beobachtungen) 8 Cluster pro interpersonaler Ebene 5 Entscheidungen, um finalen Clustercode zu erreichen Prozess und Inhalt Fokus: Andere oder Selbst Affiliation und Interdependenz Cluster Komplexität Analyse von Prozess-Kodierungen, gesamtem Prozentsatz an komplexen Codes und einigen Sets von komplexen Codes (theoretisch und klinisch relevant für diese Population) 10
Methode Messungen (MICS-Beobachtungen) 18 Kategorien der verbalen Kommunikation 5 Übersichtskategorien: 2 Ausprägungen der Problemlösefähigkeit (hoch vs. niedrig in Effektivität) 3 Aspekte der interpersonalen Transaktion (positiv, negativ, neutral) 5 einfache Kategorien und 6 multiple Kombinationen 11
Ergebnisse SASB-Analyse bedeutsamste Variablen bei Eltern: gesamte komplexe Kommunikation und Cluster 8 (ignorieren, vernachlässigen) Eltern von kranken Töchter nutzen signifikant häufiger komplexe, kontradiktorische Kommunikation sowie ignorieren, vernachlässigen als Eltern der Kontrollgruppe Kommunikation von Vätern mit kranken Töchtern ist signifikant weniger hilfreich, beschützend (4) als die von Vätern der Kontrollgruppe bedeutsamste Variablen bei Töchtern: Cluster 4 (vertrauen) und Cluster 3 (umsorgen, pflegen) bezogen auf die Mutter bulimisch-anorektische Töchter haben weniger positive Einstellung zu ihren Eltern als Kontrolltöchter 12
Ergebnisse MICS-Analyse vergleichbar mit den Ergebnissen der SASB bezogen auf die Töchter: Unterschiede zwischen den Interaktionen mit Mutter und Vater kranke Töchter nutzen bezogen auf Vater höheres Problemlöselevel (im Vgl. zu Mutter) Kontroll- und Experimentalgruppe unterscheiden sich nicht in ihren Problemlösefähigkeiten per se 13
Ergebnisse Überblick Erfolgreiche Unterscheidung zwischen kranken und normalen Familien 77,5% der Gruppenmitglieder werde durch beide Systeme richtig einsortiert kein Verfahren scheint besser als das andere zu sein 14
Studie 2 Observed family interactions among subtypes of eating disorders using Structural Analysis of Social Behavior. Autor: Humphrey, L. L. Erscheinungsjahr: 1989 15
Gliederung Allgemeines Methode Ergebnisse 16
Allgemeines Familien, in denen Anorexia Nervosa auftritt: Fassade der Perfektion, der Selbstaufopferung und der Liebe Familien, in denen Bulimie auftritt: offene Feindlichkeit und Vorenthaltung sowie Defizite in Selbstregulation und Selbstversorgung Unterschiede zwischen verschiedenen Typen der Essstörungen 17
Allgemeines Hypothesen: Anorektische Familien: mehr Pseudoliebe Bulimische Familien: größere offene Feindlichkeit und beherrschende Kontrolle, weniger pflegend und unterstützund 18
Methode Versuchspersonen 74 biologisch intakte Familientriaden (Vater, Mutter, Tochter) 16 Töchter mit Anorexia Nervosa 16 Töchter mit Bulimie bei normalem Gewicht 18 Töchter mit Bulimie und Anorexie 24 gesunde Töchter 19
Methode SASB-Beobachtungen 8 Cluster pro interpersonaler Ebene 5 Entscheidungen, um finalen Clustercode zu erreichen Prozess und Inhalt Fokus: Andere oder Selbst Affiliation und Interdependenz Cluster Komplexität 20
Methode SASB-Beobachtungen Beispiel You always shut yourself off in your room. (ärgerlich Tonfall) Inhalt Prozess Fokus Selbst Andere 21 Affiliation/Interde Aff.: -4 Aff.: -4 pendenz Intd.: 5 Intd.: -5 Cluster 2-8 1-6
Methode Ablauf 10-minütiges Rollenspiel, in dem die Abschottung der Tochter von der Familie diskutiert werden soll (Videoaufnahme) 3 Beobachter Graduierter Student, Student im Hauptstudium und guter Student im Grundstudium (Psychologie) Beobachtungsgegenstand Transkriptionen der Familieninteraktionen Videoaufnahmen 22
Ergebnisse Analyse der beobachteten Daten für jedes Mitglied der Eltern-Tochter-Dyade für zwei Arten der Prozess-Kodierung (einfach und komplex) und für die Inhalt-Kodierung 23
Ergebnisse Prozess (einfach) Mutter-Tochter-Dyaden ( Mütter) Mütter von anorektischen Töchtern mehr umsorgend, pflegend (1-3) (im Vgl. zu Kontrollmüttern) mehr ignorierend, vernachlässigend (1-8) sowie weniger durchsetzungsfähig (2-1) (im Vgl. zu anderen Müttern) Mütter von bulimischen Töchtern mehr herabsetzend, beschuldigend (1-6) (im Vgl. zu anderen Müttern) mehr ignorierend, vernachlässigend (1-8) sowie mehr schmollend, beschwichtigend, rechtfertigend (2-6) (im Vgl. zu Kontrollmüttern) Kontrollmütter mehr helfend, beschützend (1-4) sowie mehr genießend, sich annähernd (2-3) (im Vgl. zu klinischen Müttern) Mütter von bulimisch-anorektischen Töchtern keine deutlich gestörte Interaktion 24
Ergebnisse Prozess (einfach) Mutter-Tochter-Dyaden ( Töchter) anorektische Töchter mehr unterwerfend, nachgiebig (2-5) (im Vgl. zu anderen Töchtern) bulimische Töchter mehr herabsetzend, beschuldigend (1-6) (im Vgl. zu anderen Töchtern & zu ihren Müttern) Kontrolltöchter mehr helfend, beschützend (1-4), mehr genießend, annähernd (2-3) sowie mehr Vertrauen (2-4) (im Vgl. zu klinischen Töchtern) Bulimisch-anorektische Töchter keine deutlich gestörte Interaktion 25
Ergebnisse Prozess (einfach) Vater-Tochter-Dyaden ( Väter) Väter von anorektischen Töchtern mehr umsorgend, pflegend (1-3) sowie mehr ignorierend, vernachlässigend (1-8) (im Vgl. zu anderen Vätern) Väter von kranken Töchtern mehr kontrollierend (1-5) sowie mehr herabsetzend, beschuldigend (1-6) (im Vgl. zu Kontrollvätern) Kontrollväter mehr helfend, beschützend (1-4) sowie mehr Vertrauen (2-4) (im Vgl. zu klinischen Vätern) 26
Ergebnisse Prozess (einfach) Vater-Tochter-Dyaden ( Töchter) anorektische Töchter mehr unterwerfend, nachgiebig (2-5) (im Vgl. zu anderen Töchtern) kranke Töchter mehr schmollend, beschwichtigend, rechtfertigend (2-6) (im Vgl. zu Kontrolltöchtern) Kontrolltöchter mehr helfend, beschützend (1-4) sowie mehr Vertrauen (2-4) (im Vgl. zu klinischen Töchtern) 27
Ergebnisse Prozess (komplex) a priori Festlegung der Clusterkombinationen, die den Abschottungskonflikt widerspiegeln für Eltern bestätigen, verstehen (1-2) + beaufsichtigen, kontrollieren (1-5) umsorgen, pflegen (1-3) + beaufsichtigen, kontrollieren (1-5) helfen, beschützen (1-4) + ignorieren, vernachlässigen (1-8) beaufsichtigen, kontrollieren (1-5) + ignorieren, vernachlässigen (1-8) für Töchter (komplementär) sich durchsetzen, separieren (2-1) + schmollen, beschwichtigen, rechtfertigen (2-6) sich öffnen, offenbaren (2-2) + sich unterwerfen, nachgeben (2-5) sich öffnen, offenbaren (2-2) + schmollen, beschwichtigen, rechtfertigen (2-6) vertrauen, sich verlassen auf (2-4) + ausweichen, sich verschließen (2-8) 28
Ergebnisse Prozess (komplex) keine signifikanten Ergebnisse in Mutter-Tochter-Dyaden Vater-Tochter-Dyaden Väter von anorektischen Töchtern mehr komplexe Botschaften in Cluster 1-3 + 1-5 und 1-4 + 1-8 (im Vgl. zu Kontrollvätern) sowie 1-5 + 1-8 (im vgl. zu anderen Vätern) Väter von (anorektisch-)bulimischen Töchtern mehr komplexe Botschaften in Cluster 1-2 + 1-5 (im Vgl. zu Kontrollvätern) anorektische Töchter mehr komplexe Botschaften in Cluster 2-2 + 2-5 (im Vgl. zu anderen Töchtern) kranke Töchter mehr komplexe Botschaften in Cluster 2-1 + 2-6 (im Vgl. zu Kontrolltöchtern) 29
Ergebnisse Inhalt es wird untersucht, ob und wenn ja in wie weit die Gruppen sich in ihren Diskussionsinhalten unterscheiden keine signifikanten Ergebnisse es werden dieselben Inhalte auf verschiedene Weise diskutiert 30
Ergebnisse Zusammenfassung Essstörungen hängen mit gestörten Familieninteraktionen zusammen Unterscheidung zwischen gesunden und kranken Familien ist möglich anorektische Familie zu umsorgend und zu nachlässig Unterbindung der Individualität durch zu starke Abhängigkeit und durch Ignorieren des Selbstausdrucks bulimische Familie feindliche Unterdrückung bulimisch-anorektische Familie ähnlich zu beiden Subgruppen 31
Studie 3 Relationship of social perceptions and selfconcept in bulimia nervosa. Autoren: Wonderlich, S., Klein, M. H., & Council, J. R. Erscheinungsjahr: 1996 32
Gliederung Hypothesen Methode Ergebnisse Diskussion 33
Hypothesen Annahmen Bulimiker nehmen ihre Eltern als weniger freundlich und interpersonal als mehr losgelöst wahr Selbstkonzept von Bulimikern ist charakterisiert durch mehr Selbstgefährdung und weniger Selbstbeherrschung Untersuchung des Zusammenhangs von Wahrnehmung des elterlichen Verhaltens (Anfeindungen, feindliche Abgrenzung, Kontrolle und Unterdrückung) und der Selbstgefährdung sowie Selbstbeherrschung 34
Methode Versuchspersonen 66 Frauen im Alter 18-44 39 Bulimiker 27 Kontrollfrauen Messinstrument Intrex-Fragebogen theoretische Kurven für vier interpersonale Parameters (Anfeindungen, feindliche Abgrenzung, Kontrolle und Unterdrückung) sowie für vier intrapersonale Parameter (Selbstgefährdung bestenfalls/schlimmstenfalls und Selbstbeherrschung bestenfalls/schlimmstenfalls) 35
Ergebnisse ANOVA, um Elternbeziehung und Selbstkonzept zwischen den Gruppen zu unterscheiden Hypothesen bzgl. der Elternbeziehungen werden bestätigt, aber Unterschiede zwischen den Eltern bulimische Mütter weniger Engagement und mehr feindliche Abgrenzung (beiderseitig) weniger Unterwerfung bulimische Väter weniger freundliche Interaktionen weniger kontrollierte und sehr autonome Beziehung Hypothesen bzgl. Selbstkonzept werden bei Selbstgefährdung bestätigt, nicht aber bei der Selbstbeherrschung 36
Ergebnisse multiple Regression, um Zusammenhänge zwischen elterlichem Verhalten und Selbstkonzept zu untersuchen bei Bulimikern: Angriffe des Vaters bedingen die Selbstgefährdung Selbstkonzept, das sie im besten Fall erfahren, korreliert signifikant mit der Freundlichkeit des Vaters bei Kontrollgruppe: Kontrolle der Mutter und Autonomie (Nicht-Unterdrückung) des Vaters bedingen die Selbstbeherrschung 37
Diskussion pathologische Relevanz der Beziehung zum Vater liebevoller Vater gutartiges, pflegendes Selbstkonzept Unfreundlicher Vater negatives Selbstbild Richtung des Zusammenhangs ist unklar 38
Weitere Forschung Keine psychopathologische Kontrollgruppe, gelten Ergebnisse auch für andere Krankheitsbilder oder nur für Bulimie? 39
Literatur Humphrey, L. L. & Benjamin, L. S. (1986). Using structural analysis of social behavior to assess critical but elusive family processes: A new solution to an old problem. American Psychologist, 41, 979-989. Humphrey, L. L., Apple, R. F., & Kirschenbaum, D. S. (1986). Differentiating bulimic-anorexic from normal families using interpersonal and behavioral observational systems. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 54, 190-195. Humphrey, L. L. (1989). Observed family interactions among subtypes of eating disorders using Structural Analysis of Social Behavior. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 57, 206-214. Wonderlich, S., Klein, M. H., & Council, J. R. (1996). Relationship of social perceptions and self-concept in bulimia nervosa. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 64, 1231-1237. 40
VIELEN DANK FÜR EURE AUFMERKSAMKEIT!!! 41